OGH 13Os55/16m

OGH13Os55/16m27.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Jülg als Schriftführer in der Übergabesache der Zsolt Lászlóné É*****, AZ 35 HR 135/14a des Landesgerichts Eisenstadt, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des genannten Gerichts vom 17. September 2014 und vom 18. November 2014 sowie die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 21. Oktober 2014 und vom 27. Jänner 2014 erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, sowie des Verteidigers Mag. Schmidt zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0130OS00055.16M.0627.000

 

Spruch:

 

In der Übergabesache AZ 35 HR 135/14a des Landesgerichts Eisenstadt verletzen die Beschlüsse des genannten Gerichts vom 17. September 2014 (ON 19) und vom 18. November 2014 (ON 35) sowie die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 21. Oktober 2014, AZ 22 Bs 295/14i (ON 26), und vom 27. Jänner 2015, AZ 22 Bs 360/14y (ON 43), § 4 Abs 2 EU‑JZG iVm § 19 Abs 2 EU‑JZG.

Die Beschlüsse des Landesgerichts Eisenstadt vom 18. November 2014 und des Oberlandesgerichts Wien vom 27. Jänner 2015 werden aufgehoben und es wird dem Landesgericht Eisenstadt die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung (§ 19 Abs 2 EU‑JZG) aufgetragen.

 

Gründe:

Mit Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 17. September 2014, GZ 35 HR 135/14a‑19, wurde die im Europäischen Haftbefehl des Gerichtshofs Szombathely (Ungarn) vom 14. Juli 2014, GZ Szv.606/2012/11 (ON 4, Übersetzung ON 10), begehrte Übergabe der ungarischen Staatsangehörigen „Judit E***** Zsolt Laszlone“ – richtig: Zsolt Lászlóné É***** – zur Strafvollstreckung „wegen der in diesem Europäischen Haftbefehl beschriebenen Straftaten“ für zulässig erklärt (1) und unter einem (zu 2) die am 31. August 2014 gemäß § 18 EU‑JZG iVm § 29 Abs 1 ARHG iVm § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 1 StPO verhängte (ON 6) und mit Beschluss vom 9. September 2014 fortgesetzte Übergabehaft (ON 14) erneut fortgesetzt.

Mit Beschluss vom 21. Oktober 2014, AZ 22 Bs 295/14i (ON 26) gab das Oberlandesgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde der Betroffenen (ON 18 S 9, ON 22) hinsichtlich der Bewilligung der Übergabe zur Strafvollstreckung (1) – nicht hingegen in Ansehung der fortgesetzten Übergabehaft (2) – Folge und trug dem Erstgericht eine neue Entscheidung nach Durchführung ergänzender Erhebungen zu dem von der Beschwerdeführerin als verletzt reklamierten „Recht auf Daueraufenthalt“ (vgl § 5a EU‑JZG) auf.

Nach zwischenzeitiger Enthaftung der betroffenen Person unter Anwendung gelinderer Mittel gemäß § 173 Abs 5 Z 1, 2 und 8 StPO (iVm § 18 Abs 2 EU‑JZG, § 29 Abs 1 ARHG; ON 31) erklärte das Landesgericht Eisenstadt die Übergabe der Zsolt Lászlóné É***** zur Strafvollstreckung mit Beschluss vom 18. November 2014 (ON 35) neuerlich für zulässig.

In seiner Begründung führte es – soweit hier von Interesse – aus, dass die Betroffene mit rechtskräftigem Urteil des Komitatsgerichts Vas vom 26. Mai 2011, GZ B.220/2008/172, „wegen Steuer‑ und Sozialversicherungsbetrugs, Verstoßes gegen die Buchhaltungsvorschriften und Fälschung eines Privatdokuments gemäß Art 310 Abs 1 und 3, 289 Abs 1 und 3 sowie 276 des ungarischen Strafgesetzbuches (entspricht §§ 153c, 153d StGB sowie Vergehen nach dem Finanzstrafgesetz) zu einer“ – noch nicht verbüßten –„Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt“ wurde. Den dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Sachverhalt umschrieb es damit, dass die Betroffene als Geschäftsführerin der „Firma E*****“ „fingierte Rechnungen iHv HUF 70,905.696 (ca. € 236.300,--) in die Steuererklärung der erwähnten Firma für den Zeitraum 27. 10. 2004 bis 15. 12. 2005“ aufgenommen habe und die „gefälschten“, „auf verschiedene Mittäter“ ausgestellten Rechnungen „dem Steuerbüro übermittelt“ worden seien, wodurch sie „einen großen Schaden zum Nachteil des ungarischen Staates“ verursacht habe (ON 35 S 2).

Der dagegen erhobenen Beschwerde der betroffenen Person (ON 34 S 4, ON 37) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 27. Jänner 2015, AZ 22 Bs 360/14y (ON 43), nicht Folge.

Zum Sachverhalt führte das Beschwerdegericht aus (ON 43 S 1 f), dass die Betroffene – dem Europäischen Haftbefehl zufolge – „mit seit 29. Oktober 2012 rechtskräftigem Urteil des Komitatsgerichts Vas vom 26. Mai 2011, Zahl: B.220/2008/172, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt“ wurde. Danach habe sie „als Geschäftsführerin der É***** 2004 Kereskedelmi és Szolgáltató Kft. zwischen 27. Oktober 2004 und 15. Dezember 2005 von Peter B*****, Ottó Roland Bó***** und einer unbekannten Person fiktive, für keine tatsächlich erfolgte wirtschaftliche Tätigkeit ausgestellte Rechnungen über einen Gesamtbetrag von HUF 70,905.698 (umgerechnet zirka EUR 220.000,--) entgegengenommen, deren Verbuchung in der Buchhaltung veranlasst und dadurch an die Direktion des Komitats Vas der APEH Umsatz‑ und Gesellschaftsteuererklärungen falschen Inhalts eingereicht“. „Diese Straftat“ sei „im Europäischen Haftbefehl als Verbrechen des Steuerbetrugs nach § 310 Abs 1, 2 und 3 Btk., Verbrechen des fortgesetzt verübten Verstoßes gegen die Buchführungsvorschriften nach § 289 Abs 1 und Abs 3 lit. b Btk. und Vergehen der fortgesetzt verübten Urkundenfälschung nach § 276 Btk. qualifiziert“ worden.

Die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 (iVm § 12) EU‑JZG erachtete das Oberlandesgericht deshalb als gegeben, weil „[v]on der im Hoheitsgebiet der Republik Ungarn erfolgten Verurteilung […] noch mehr als vier Monate zu vollstrecken“ wären und „die zugrundeliegende Handlung nach den österreichischen Strafbestimmungen das Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG“ darstelle (ON 43 S 5).

Einen mit 4. März 2015 datierten Antrag der Betroffenen auf Aufschub der Übergabe (ON 45) wies das Landesgericht Eisenstadt mit Beschluss vom 5. März 2015 (ON 46) ab. Nachdem sich die auf freiem Fuß befindliche Betroffene zu dem im Übergabebrief vom 10. Februar 2015 (ON 44) festgelegten Übergabetermin am 10. März 2015 nicht eingefunden hatte (ON 47), wurde die hinterlegte Kaution von 3.000 Euro mit Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 17. März 2015 gemäß § 180 Abs 4 StPO (iVm § 18 Abs 2 EU‑JZG, § 29 Abs 1 ARHG) für verfallen erklärt (ON 48).

 

Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, verletzen die im Übergabeverfahren AZ 35 HR 135/14a des Landesgerichts Eisenstadt ergangenen Beschlüsse dieses Gerichts vom 17. September 2014 (ON 19) und vom 18. November 2014 (ON 35) sowie jene des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 21. Oktober 2014, AZ 22 Bs 295/14i (ON 26), und vom 27. Jänner 2015, AZ 22 Bs 360/14y (ON 43), das Gesetz.

 

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 4 Abs 2 EU‑JZG kann ein Europäischer Haftbefehl – soweit hier von Relevanz – zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe dann vollstreckt werden, wenn noch mindestens vier Monate zu vollstrecken sind (wobei mehrere Freiheitsstrafen oder ihre zu vollstreckenden Reste zusammenzurechnen sind) und die zugrunde liegende Handlung – im Zeitpunkt der Entscheidung über die Übergabe (vgl RIS‑Justiz RS0125741; Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 11 Rz 16; Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU‑JZG § 4 Rz 9) – unabhängig von ihrer gesetzlichen Bezeichnung auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung darstellt. Ist die beiderseitige Strafbarkeit fiskalisch strafbarer Handlungen zu beurteilen, so spielt es nach § 12 EU‑JZG keine Rolle, ob das österreichische Recht gleichartige Steuern vorschreibt oder gleichartige Steuer‑, Zoll‑ und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsstaats.

Diese Voraussetzungen für eine Übergabe– insbesondere die erforderliche konkrete (vgl Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl, 323 mwN; Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU‑JZG § 4 Rz 6) beiderseitige gerichtliche Strafbarkeit nach § 4 Abs 2 EU‑JZG – sind anhand des Inhalts des Europäischen Haftbefehls, dh auf der Basis der darin enthaltenen Sachverhaltsschilderungen (EvBl 2016/13, 82; Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU‑JZG § 4 Rz 6 mwN; vgl auch Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 11 Rz 2) zu prüfen (§ 19 Abs 1 erster Satz EU‑JZG). Reichen die auf Basis des Formblatts von der ausstellenden Justizbehörde dem österreichischen Gericht zur Verfügung gestellten Informationen nach Ansicht des Gerichts nicht aus, um über die Zulässigkeit der Übergabe entscheiden zu können, so hat dieses unter Bestimmung einer angemessenen Nachfrist unverzüglich zusätzliche Angaben und Informationen zu verlangen (§ 19 Abs 2 EU-JZG).

Diese beiderseitige Strafbarkeit ist § 4 Abs 3 EU‑JZG zufolge dann nicht zu prüfen, wenn die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende mit Strafe bedrohte Handlung von der ausstellenden Justizbehörde einer der im Anhang I zum EU‑JZG, Teil A, angeführten Kategorie von Straftaten zugeordnet wurde und nach dem Recht des Ausstellungsstaats mit einer Freiheitsstrafe, deren Obergrenze mindestens drei Jahre beträgt, oder einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme in dieser Dauer bedroht ist.

Davon ausgehend ist mangels Zuordnung zu einer Katalogstraftat im Sinn des § 4 Abs 3 EU‑JZG im Europäischen Haftbefehl (ON 4; Übersetzung ON 10; siehe auch die Konstatierungen in den Beschlüssen des Erst‑ [ON 19 und 35] und des Beschwerdegerichts [ON 26 und 43]) die Prüfung der beiderseitigen gerichtlichen Strafbarkeit vorzunehmen:

Nach § 53 Abs 1 FinStrG ist das Gericht zur Ahndung von Finanzvergehen nur dann zuständig, wenn das Finanzvergehen vorsätzlich begangen wurde und der maßgebliche Wertbetrag, nach dem sich die Strafdrohung richtet (strafbestimmender Wertbetrag), 100.000 Euro übersteigt oder wenn die Summe der maßgeblichen strafbestimmenden Wertbeträge aus mehreren zusammentreffenden vorsätzlich begangenen Finanzvergehen 100.000 Euro übersteigt und all diese Vergehen in die örtliche und sachliche Zuständigkeit derselben Finanzstrafbehörde fielen.

Der in den Beschlüssen des Erst‑ und Beschwerdegerichts wiedergegebene und den Beschlüssen zugrunde gelegte Inhalt des Europäischen Haftbefehls bietet keine ausreichende Sachverhaltsgrundlage für die Beurteilung, ob die Betroffene durch die ihr zur Last gelegten Tathandlungen, wie für die Verwirklichung des Tatbestands der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG (vgl ON 43 S 5) erforderlich, eine Abgabenverkürzung bewirkt oder dies zumindest versucht hat. Insbesondere offen bleibt auch, ob sie dabei – wie in § 33 Abs 1 FinStrG im Gegensatz zum Finanzvergehen der grob fahrlässigen Abgabenverkürzung nach § 34 FinStrG normiert – vorsätzlich gehandelt hat. Denn das FinStrG enthält keine § 7 Abs 1 StGB entsprechende Norm, wonach der Vorsatz des Täters, soweit die Deliktsbeschreibung keine subjektiven Merkmale enthält, subintelligiert wird (vgl RIS‑Justiz RS0089089). Darüber hinaus ist den Sachverhaltsschilderungen nicht zu entnehmen, ob von einem strafbestimmenden Wertbetrag (hier: der Verkürzungsbetrag; Lässig in WK2 FinStrG § 53 Rz 2) von mehr als 100.000 Euro auszugehen ist.

Bei dieser Beurteilung der gerichtlichen Zuständigkeit hat – auch wenn die betreffenden Tathandlungen (in Ungarn) zwischen 27. Oktober 2004 und 15. Dezember 2005 verwirklicht wurden – die Übergangsbestimmung des § 265 Abs 1p dritter Satz FinStrG (wonach die vor Inkrafttreten der FinStrG-Novelle 2010, BGBl I 2010/104, am 1. Jänner 2011 geltenden Zuständigkeitsgrenzen des § 53 FinStrG [bei Abgabenhinterziehung in der Höhe von 75.000 Euro] auf die zu diesem Zeitpunkt bei Gericht oder Staatsanwaltschaft anhängigen Verfahren weiterhin anzuwenden sind) außer Betracht zu bleiben. Denn für die beiderseitige Strafbarkeit ist wie bereits ausgeführt die zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Übergabe bestehende Rechtslage maßgeblich (erneut RIS‑Justiz RS0125741; Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 11 Rz 16; Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU-JZG § 4 Rz 9).

Da die von den ungarischen Strafverfolgungsbehörden (einzig) zur Verfügung gestellten Sachverhaltsschilderungen im Europäischen Haftbefehl demnach nicht ausreichen, um die in § 4 Abs 2 EU‑JZG vorausgesetzte beiderseitige gerichtliche Strafbarkeit prüfen und über die Übergabe entscheiden zu können, war das Erstgericht verpflichtet, von den ungarischen Justizbehörden unverzüglich die erforderlichen zusätzlichen Angaben darüber zu verlangen, ob und in welcher Höhe die Betroffene eine (oder mehrere) Abgabenverkürzung(en) vorsätzlich bewirkt (oder dies zumindest versucht) hat, und für deren Einlangen eine angemessene Frist zu bestimmen (§ 19 Abs 2 EU‑JZG).

Indem das Beschwerdegericht die Voraussetzungen beiderseitiger gerichtlicher Strafbarkeit zwar geprüft (§ 89 Abs 2b dritter Satz erster Satzteil StPO iVm § 21 Abs 1 zweiter Satz EU‑JZG, § 31 Abs 6 dritter Satz ARHG), jedoch unter Zugrundelegung der dürftigen Sachverhaltsschilderung im Europäischen Haftbefehl rechtsirrig bejaht und es deshalb unterlassen hat, die insoweit gebotene Ergänzung des Übergabeverfahrens zu veranlassen, hat es ebenfalls § 4 Abs 2 EU‑JZG iVm § 19 Abs 2 EU‑JZG verletzt.

Da eine der Betroffenen nachteilige Wirkung der aufzeigten Gesetzesverletzung nicht ausgeschlossen werden kann, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

Von den beiden aufgehobenen Beschlüssen rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen, wie insbesondere der Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 17. März 2015, mit welchem die Kaution gemäß § 180 Abs 4 StPO (iVm § 18 Abs 2 EU‑JZG, § 29 Abs 1 ARHG) für verfallen erklärt wurde (ON 48), gelten gleichfalls als beseitigt (RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 28).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte