OGH 10ObS62/16i

OGH10ObS62/16i7.6.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Neumayr, die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Andreas Hach (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. R*****, vertreten durch Dr. Heinz Bauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1011 Wien, Singerstraße 17-19, wegen Unfallrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. April 2016, GZ 23 Rs 8/16x‑23, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00062.16I.0607.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Kläger befand sich vom 11. 5. 2007 bis 12. 9. 2008 in Haft. Zunächst wurde ihm bis zum 31. 12. 2007 eine Tätigkeit in der Bibliothek der Justizanstalt zugewiesen. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte er Bücher an andere Strafgefangene auszugeben; teilweise hatte er Bücher in andere Hafträume zu bringen und sie auch auf der Krankenstation befindlichen Häftlingen auszufolgen. Ab dem 1. 1. 2008 war der Kläger bis zu seiner Entlassung am 12. 9. 2008 Freigänger. Er verrichtete bei einem Unternehmen (mit Sitz außerhalb der Haftanstalt) Bürotätigkeiten. In der Zeit der Strafhaft zog sich der Kläger eine schwere Streptokokkeninfektion zu, die einen biologischen Herzklappenersatz und eine Schrittmacherimplantation erforderlich machte. Die Streptokokkeninfektion war weder typische Folge der dem Kläger in der Anstaltsbibliothek noch der ihm bei dem Unternehmen als Freigänger zugewiesenen Tätigkeit. Weder Bibliotheksmitarbeiter noch Handelsangestellte zählen zu einer Gruppe von Menschen, die einer besonderen Gefährdung durch Streptokokken ausgesetzt sind. Bei der Erkrankung des Klägers handelt es sich um ein schicksalhaftes Ereignis bzw eine Gelegenheitsursache.

Mit Bescheid der – damals noch zuständigen – Vollzugsdirektion der beklagten Partei vom 20. 3. 2015 wurde der Antrag des Klägers auf Gewährung einer Unfallrente gemäß § 79 StVG im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die aufgetretene Erkrankung sei nicht kausal auf Tätigkeiten des Klägers während seiner Strafhaft zurückzuführen.

Das Erstgericht wies das vom Kläger dagegen erhobene und auf die Gewährung einer Unfallrente in der gesetzlichen Höhe gerichtete Klagebegehren ausgehend von dem bereits eingangs wiedergegebenen Sachverhalt im Wesentlichen mit der Begründung ab, dem Kläger sei der ihm obliegende Beweis einer Kausalität seiner während der Haft verrichteten Tätigkeiten für die aufgetretene Erkrankung nicht gelungen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers keine Folge. Es führte in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen aus, die Aufnahme von Infektionskrankheiten in die Liste der Berufskrankheiten (lfd Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG) enthebe den Anspruchswerber nicht von der objektiven Beweislast dafür, dass ein Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen sei. Auch nach § 76 Abs 4 letzter Teilsatz StVG sei eine Erkrankung nur dann anspruchsbegründend, wenn sie durch eine dem Strafgefangenen zugewiesene oder auf Rechnung des Bundes geleistete Arbeit verursacht worden sei. Im Verfahren vor dem Sozialgericht seien die Regeln der objektiven Beweislast anzuwenden und es könne ein Anspruch nur bejaht werden, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen (hier: die Kausalität der Tätigkeit des Klägers als Bibliothekar und Freigänger für den Eintritt der Berufskrankheit) erwiesen seien. Ein Anscheinsbeweis sei nur dann zulässig, wenn eine typische formelhafte Verknüpfung zwischen der tatsächlich bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement bestehe. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt, weil die vom Kläger erlittene Streptokokkeninfektion nach den unbedenklichen Feststellungen des Erstgerichts gerade keine typische Folge der ihm zugewiesenen Tätigkeiten als Bibliothekar und Freigänger gewesen sei. Aus der Aufnahme von Infektionserkrankungen in Justizanstalten in die Liste der Berufskrankheiten könne entgegen der Rechtsansicht des Klägers keine Umkehrung der Beweislast für das Vorliegen einer Berufskrankheit abgeleitet werden.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Auch wenn – soweit überblickbar – eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Anspruchsvoraussetzungen für eine Unfallrente nach § 79 Abs 1 (§ 76 Abs 4) StVG nicht vorliege, könne der Entscheidung doch eine völlig klare und eindeutige Rechtslage, insbesondere auch zur Frage der Kausalität, zugrunde gelegt werden.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Da Strafgefangene nicht zum Kreis der Dienstnehmer nach § 4 Abs 2 ASVG zu zählen sind, unterliegen sie nicht der Pflichtversicherung gemäß § 4 Abs 1 ASVG und sind daher auch nicht aufgrund dieses Bundesgesetzes kranken‑, unfall‑ und pensionsversichert (10 ObS 97/10b, SSV‑NF 24/55).

2. Der Gesetzgeber hat für die Unfallfürsorge für Strafgefangene eine Regelung in den §§ 76 bis 84 StVG geschaffen. Diese Regelung sichert den Strafgefangenen und ihren Angehörigen für den Fall eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit Leistungen zu, die nach Art und Umfang denen einer sozialen Unfallversicherung gleichkommen. Nach § 76 Abs 2 StVG sind Arbeitsunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der einem Strafgefangenen zugewiesenen oder auf Rechnung des Bundes oder für wohltätige Zwecke in der Freizeit geleisteten Arbeit ereignen. Nach § 76 Abs 3 StVG sind den Arbeitsunfällen Unfälle gleichgestellt, die sich auf einem mit der dem Strafgefangenen zugewiesenen oder auf Rechnung des Bundes oder für wohltätige Zwecke in der Freizeit geleisteten Arbeit zusammenhängenden Weg zu oder von der Arbeitsstätte, bei Rettung eines Menschen aus tatsächlicher oder vermuteter Lebensgefahr, dem Versuch einer solchen Rettung, bei der Hilfeleistung in sonstigen Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr oder Not oder bei Heranziehung zum Blutspenden ereignen. Ebenso sind in dieser Hinsicht den Arbeitsunfällen die in der Anlage 1 des ASVG bezeichneten Krankheiten gleichgestellt, sofern die vom Strafgefangenen nicht selbst vorsätzlich herbeigeführte Krankheit durch eine ihm zugewiesene oder auf Rechnung des Bundes oder für wohltätige Zwecke in der Freizeit geleistete Arbeit verursacht ist (§ 76 Abs 4 StVG). Über die aus Anlass eines Unfalls (§ 76 Abs 2 und 3 StVG) oder einer Krankheit (§ 76 Abs 4 StVG) zu gewährenden Leistungen entscheidet (nunmehr wieder) das Bundesministerium für Justiz. Diese soeben dargestellte Regelung lehnt sich somit eng an die Regelung der sozialen Unfallversicherung im ASVG an (vgl ErläutRV 511 BlgNR 11. GP  65 ff).

2.1 Es steht somit auch einem Strafgefangenen eine Unfallfürsorge im Fall einer Berufskrankheit nach Anlage 1 zum ASVG zu, welche nicht von ihm selbst vorsätzlich herbeigeführt und von einer Arbeit iSd § 76 Abs 2 StVG verursacht worden ist (§ 76 Abs 4 StVG). Gemäß § 79 StVG wird dem Strafgefangenen unter den Voraussetzungen, wie sie gemäß § 203 Abs 1 ASVG auch für Arbeitnehmer gelten, eine Unfallrente gewährt.

3. Krankheiten sind in der Unfallversicherung nach ständiger Rechtsprechung nur dann versichert, wenn es sich um eine der in Anlage 1 zu § 177 ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen handelt und wenn ihre Ursache im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung in der versicherten Tätigkeit liegt (vgl RIS‑Justiz RS0084290 [T1, T3, T6, T14]). Auch bei Behauptung des Vorliegens einer Berufskrankheit trifft die objektive Beweislast, dass das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist, den Versicherten. Eine Umkehrung der Beweislast erfolgt nicht (RIS‑Justiz RS00043249).

Als Berufskrankheiten gelten unter anderem alle Infektionskrankheiten, wenn sie durch berufliche Beschäftigung in einem der in Anlage 1 zum ASVG Nr 38 angeführten Unternehmen (darunter auch in Justizanstalten) verursacht wurden. Dabei bedeutet die Bezeichnung einer bestimmten Krankheit als Berufskrankheit aber nur, dass sie rechtlich geeignet ist, eine Berufskrankheit zu sein. Im Einzelfall ist sie das nur, wenn ihre Ursache im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung in der versicherten Tätigkeit liegt (10 ObS 29/95, SSV‑NF 9/23 ua; RIS‑Justiz RS0084375). Entgegen der Rechtsansicht des Revisionswerbers enthebt ihn daher die Aufnahme von Infektionskrankheiten in die Liste der Berufskrankheiten nicht von seiner objektiven Beweislast dafür, dass sein Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist, und es führt der Umstand der Aufnahme von Infektionskrankheiten in die Liste der Berufskrankheiten entgegen der Rechtsansicht des Revisionswerbers auch nicht zu einer Beweislastumkehr.

4. Auch im Verfahren vor dem Sozialgericht gelten die Regeln der objektiven Beweislast und es kann ein Anspruch nur bejaht werden, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen (hier: Kausalität der Tätigkeit des Klägers als Bibliothekar und Freigänger für den Eintritt der Infektionskrankheit) erwiesen sind (10 ObS 5/10y). Wie ebenfalls bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, sind nach ständiger Rechtsprechung besonders in Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Regeln des sogenannten Anscheinsbeweises modifiziert anzuwenden (RIS‑Justiz RS0110571 [T1, T3]). Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RIS‑Justiz RS0040266). Der Anscheinsbeweis ist somit nur dann zulässig, wenn eine typische formelhafte Verknüpfung zwischen der tatsächlich bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement besteht. Er darf nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch bloße Vermutungen auszufüllen (RIS‑Justiz RS0040287).

4.1 Mit diesen Grundsätzen steht die Entscheidung des Berufungsgerichts, auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts könne kein Tatbestand mit typischem formelhaften Geschehensablauf angenommen werden, in Einklang. Demnach ist dem Kläger der Nachweis, dass seine Krankheit durch die ihm in der Justizanstalt zugewiesenen Tätigkeiten verursacht wurde, nicht – auch nicht in Form des Anscheinsbeweises – gelungen.

Die außerordentliche Revision des Klägers erweist sich daher mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO als unzulässig.

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