European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00037.16X.0428.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Rekursgericht wird eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs aufgetragen.
Begründung:
Der Minderjährige wurde nach seiner Geburt von seinen Eltern betreut, die in Lebensgemeinschaft leben; die alleinige Obsorge kam der Mutter zu. Nachdem die Mutter Anfang April 2014 wegen einer Verletzung des Kindes zuerst das Krankenhaus und dann eine Kinderärztin aufgesucht hatte, wurde bei einer Röntgenuntersuchung im Krankenhaus eine Fraktur am linken Oberschenkel festgestellt, die nur durch Krafteinwirkung zustande kommen kann. Bei weiteren Untersuchungen wurden ein zwei bis vier Wochen alter Bruch der Speiche und ein zehn bis vierzehn Tage alter Schienbeinbruch festgestellt. Wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung begab sich die Mutter auf Initiative des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers mit dem Kind Anfang Mai 2014 in eine Wohngemeinschaft für junge Mütter. Im Oktober 2014 wurde einer Tante vorläufig die Obsorge im Teilbereich der Pflege und Erziehung übertragen, als die Mutter mit dem Kind nicht mehr in der Einrichtung bleiben wollte.
Das Erstgericht entzog der Mutter nach Durchführung eines ausführlichen Beweisverfahrens die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung und übertrug sie in diesem Umfang an die Tante. Es ging dabei von den ‑ mit einer umfangreichen Tatsachen‑ und Verfahrensrüge bekämpften ‑ Feststellungen aus, dass die Knochenbrüche des Oberschenkels und der Speiche nicht durch Fremdeinwirkung entstanden sein könnten und auf äußere Gewalteinwirkung zurückzuführen seien; bei der Schienbeinfraktur sei dies mit größter Wahrscheinlichkeit der Fall. Das Kind sei in diesem Zeitraum überwiegend von den Eltern betreut worden, manchmal auch von der Großmutter mütterlicherseits, den Großeltern väterlicherseits und einer Nachbarin. Es lasse sich nicht feststellen, wer die Verletzungen verursacht hat. Aufgrund der dichten Betreuungssituation sei es jedoch als ziemlich wahrscheinlich anzusehen, dass die Verletzungen entweder durch den Vater oder die Mutter verursacht worden seien. Jedenfalls hätten die Kindeseltern die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht ausreichend gewährleisten können. Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass das Wohl des Kindes akut und konkret gefährdet wäre, käme er wieder in Pflege und Erziehung der Mutter. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB sei ihr daher die Obsorge zu entziehen und an die Tante zu übertragen, die zur Übernahme der Obsorge bereit sei.
In ihrem dagegen erhobenen Rekurs machte die Mutter Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, unrichtige Tatsachenfeststellung sowie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und vermisste im besonderen ausreichend konkrete erstgerichtliche Feststellungen und eine ausreichende Auseinandersetzung mit mehreren ‑ im einzelnen dargelegten ‑ Beweisergebnissen. Insbesondere seien jene Teile der Gutachten, Berichte und Befunde nicht ausreichend berücksichtigt worden, die gegen eine Verantwortlichkeit der Mutter für die festgestellten Verletzungen sprechen. So habe etwa der Sachverständige eine Kindeswohlgefährdung bei Einhaltung bestimmter Auflagen ausgeschlossen. Es sei nach einem Gutachten dagegen nicht ausgeschlossen, dass die (beiden ersten) Verletzungen nicht als solche erkennbar sein mussten, sondern allfälliges Schreien oder Weinen beim Anziehen oder Ausziehen als Unmutsäußerungen des Kindes interpretiert werden konnten; derartige Schmerzen könnten innerhalb von wenigen Tagen deutlich geringer werden. Eine Entziehung der Obsorge komme schließlich nur als letztes Mittel und äußerste Notmaßnahme in Betracht und sei im vorliegenden Fall nicht berechtigt, zumal die Mutter mehrfach angeboten habe, jede vom Gericht erteilte Auflage zu akzeptieren und auch umzusetzen.
Das Rekursgericht bestätigte die erstgerichtliche Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Es setzte sich bei Erledigung der Verfahrens‑ und Beweisrüge mit den von der Mutter in ihrem Rekurs aufgezeigten Beweisergebnissen nur zum Teil auseinander und schloss sich ‑ auf Tatsachenebene ‑ der erstgerichtlichen Beurteilung an, dass Misshandlungen durch die Eltern selbst zwar nicht erwiesen seien, doch stehe fest, dass diese die körperliche Unversehrtheit des rund acht Monate alten Sohnes nicht ausreichend gewährleisten hätten können. Die mit den Knochenbrüchen verbundenen akuten Schmerzen und vorübergehenden Bewegungseinschränkungen hätten von den den Sohn überwiegend selbst betreuenden Eltern wahrgenommen werden müssen. Damit habe das Erstgericht zu Recht eine Gefährdung des Kindeswohls angenommen, das die Entziehung der Obsorge nach § 181 ABGB rechtfertige. Eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls liege insbesondere vor, wenn Eltern den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen sind, wobei es auf ein Verschulden nicht ankomme. Die Eltern seien nicht in der Lage gewesen, Übergriffe oder Gewalt gegen das Kind zu verhindern. Das rund acht Monate alte Kind habe wiederholt gewichtige Verletzungen in Form von Knochenbrüchen durch äußere Gewalteinwirkung zu verschiedenen Zeitpunkten mit nicht übersehbaren Schmerzsymptomen erlitten, welche von der Mutter nicht erkannt bzw nicht zum Anlass für eine umgehende medizinische Behandlung genommen worden seien. Da die Obsorgeentscheidung ausschließlich nach Maßgabe des Kindeswohls zu erfolgen habe, welches dem Elternrecht vorgehe, vermöge auch die Argumentation, wonach anstelle der Obsorgeentziehung als äußerste Notmaßnahme mit den Aufträgen an die obsorgeberechtigte Mutter das Auslangen gefunden werden könne, das Kind in regelmäßigen Abständen ärztlich untersuchen zu lassen bzw Erziehungsberatung oder anderweitige Hilfestellungen in Anspruch zu nehmen, keine Abänderung oder Aufhebung des bekämpften Beschlusses zu bewirken.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter, der ‑ entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Unzulässigkeitsausspruch des Rekursgerichts ‑ zulässig und mit seinem Aufhebungsantrag berechtigt ist.
Mit Recht zeigt die Revisionswerberin nämlich einen Mangel des Rekursverfahrens gemäß § 66 Abs 1 Z 2 AußStrG auf, weil sich das Rekursgericht mit den Rekursausführungen zur Verfahrens‑ und Beweisrüge nur unvollständig auseinandergesetzt und sich mit gewichtigen Argumenten gar nicht befasst hat (vgl nur RIS‑Justiz RS0043144; RS0043086). Dies betrifft insbesondere die Frage der Erziehungsfähigkeit der Mutter und die dazu im Rekurs angesprochenen Beweisergebnisse, insbesondere auch jene, aus denen sich Hinweise auf eine liebevolle Beziehung zum Kind ergeben könnten. Das Rekursgericht hat sich auch inhaltlich nicht mit jenen Argumenten auseinandergesetzt, die auf Beweisergebnisse hinweisen, nach denen es möglich sein könnte, dass die vom Kind erlittenen Schmerzen nicht notwendigerweise als Folge von schweren Verletzungen erkannt hätten werden müssen. Ebenso wenig fand eine Auseinandersetzung mit jenen Rekursargumenten statt, durch die dargelegt werden sollte, dass die Mutter im relevanten Zeitraum aus verschiedenen Gründen wiederholt Ärzte aufgesucht habe, die keine Verletzungen festgestellt hätten. Zur Vermeidung von unnötigen Wiederholungen ist darüber hinaus auf die weiteren Ausführungen im Revisionsrekurs hinzuweisen, die zutreffend aufzeigen, dass aus der Rekursentscheidung nicht ersichtlich ist, dass sich das Rekursgericht mit weiteren (im Rekurs angesprochenen) Beweisergebnissen auseinandergesetzt hätte.
Da somit keine gesicherte Tatsachengrundlage für die vom Rekursgericht angenommene ungünstige Zukunftsprognose vorliegt, wird sich das Rekursgericht neuerlich mit der Verfahrens‑ und der Beweisrüge im Rekurs auseinanderzusetzen und diese umfassend und nachvollziehbar zu erledigen haben.
In rechtlicher Hinsicht wird weiters zu bedenken sein, dass sich auch aus der Annahme, die Eltern seien nicht in der Lage, die körperliche Unversehrtheit eines rund acht Monate alten Kindes zu gewährleisten, nicht zwingend der Schluss auf eine generell fehlende Erziehungsfähigkeit ziehen lässt. Bei einer allfälligen Beweisergänzung wird das Rekursgericht auch zu berücksichtigen haben, dass das Kind in wenigen Monaten drei Jahre alt wird. Auch wenn junge Eltern mit der Betreuung eines Säuglings möglicherweise überfordert sind, muss dies nicht notwendigerweise gleichermaßen für ein Kind im Kindergartenalter gelten, zumal auch die Eltern in der Zwischenzeit einen Reifungsprozess durchgemacht haben könnten. Entscheidend ist daher nicht die Frage, ob Bedenken gegen die Betreuung eines acht Monate alten Kindes bestehen, sondern ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Kind auch in seinem jetzigen Alter in seiner Gesundheit oder Entwicklung gefährdet wäre, wenn die Obsorge bei der Mutter verbliebe.
Zutreffend weist die Revisionsrekurswerberin schließlich auch darauf hin, dass der Entzug der Obsorge nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs in Betracht kommt (7 Ob 126/07s = RIS‑Justiz RS0047903 [T9]), sieht doch § 182 ABGB vor, dass das Gericht die Obsorge durch eine Verfügung nach § 181 ABGB nur soweit beschränken darf, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes nötig ist (vgl auch 5 Ob 227/07d). Wie sich aus den Akten eindeutig ergibt, hat die Mutter wiederholt ihre Bereitschaft erklärt, die aus Sicht des Gerichts notwendigen Vorgaben und Auflagen auf sich zu nehmen. Vor einem endgültigen Obsorgeentzug wird daher jedenfalls auch zu prüfen sein, ob einer zukünftigen Gefährdung durch geeignete Auflagen oder Kontrollen (vgl nur RIS‑Justiz RS0127236; § 107 Abs 3 AußStrG) begegnet werden kann.
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