OGH 2Ob135/15i

OGH2Ob135/15i25.2.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** K*****, vertreten durch Dr. Bernhard Birek, Rechtsanwalt in Schlüßlberg, gegen die beklagten Parteien 1. J***** G*****, 2. A***** GmbH, *****, und 3. O***** Versicherung AG, *****, alle vertreten durch Dr. A. Michael Dallinger, Rechtsanwalt in Wels, wegen 4.646,25 EUR und Feststellung (Streitwert 1.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels vom 15. April 2015, GZ 22 R 103/15a‑14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Grieskirchen vom 24. Februar 2015, GZ 2 C 302/14t‑9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00135.15I.0225.000

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 642,70 EUR (darin enthalten 107,12 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Am 18. 7. 2013 gegen 13:00 Uhr ereignete sich im Gemeindegebiet von G***** bei der Kreuzung der I*****straße mit der G***** Straße (B 135) ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer und der Erstbeklagte als Lenker des von der zweitbeklagten Partei gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.

Die G***** Straße verläuft im Unfallbereich in Fahrtrichtung des Klägers in südlicher Richtung. An den linken Fahrbahnrand schließt ein 1 m breiter Grünstreifen und daran ein rund 2,5 m breiter kombinierter Geh‑ und Radweg an, der asphaltiert ist. Die I*****straße, von der der Erstbeklagte kam, mündet von links in einem Winkel von 80 bis 85 Grad in die G***** Straße ein. Die I*****straße ist gegenüber der G***** Straße durch das vor dem Geh‑ und Radweg befindliche Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ benachrangt. Ein Hinweiszeichen auf den querenden Geh‑ und Radweg existiert nicht. Der Geh‑ und Radweg endet vor Trichterbeginn der I*****straße, in dem das Vorschriftszeichen nach § 52b Z 17a StVO „Geh‑ und Radweg“ iSd § 52b Z 22a StVO „Ende eines Gebotes“ mit rotem Querbalken verordnet ist. Nach dem Ende des Mündungstrichters der I*****straße setzt sich der Radweg mit dem Vorschriftszeichen § 52b Z 17a StVO fort.

Dieser Verlauf des Geh‑ und Radwegs war für den Kläger aus einer Entfernung von mindestens 30 m ersichtlich. Aufgrund eines geparkten PKW war in Annäherung an die Einmündung der I*****straße die Sicht nach links in diese Straße partiell verdeckt. Für den Erstbeklagten war der Verkehr auf den kombinierten Geh‑ und Radweg nach rechts in Richtung des sich annähernden Klägers frühestens in einem Zeitpunkt zu sehen, als er sich mit seiner Sitzposition noch rund einen Meter vor dem Geh‑ und Radweg befand.

Der Kläger näherte sich der I*****straße auf dem Geh‑ und Radweg mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h. Er bemerkte von links einen „Schatten“, versuchte nach links in die I*****straße hineinzufahren und leitete eine Vollbremsung ein. Der Erstbeklagte fuhr mit einer Geschwindigkeit von zumindest 10 bis 15 km/h und wollte nach rechts einbiegen. Er schaute nach links auf den aus dieser Richtung kommenden Verkehr, dann sah er von rechts „etwas“ kommen und leitete eine Bremsung ein. Der Kläger stieß in der Folge leicht links verdreht mit dem Vorderrad seines Mountainbikes gegen das rechte Vorderrad des Beklagtenfahrzeugs. Die Kollisionsstelle befand sich etwa sechs Meter von der Randlinie der G***** Straße entfernt auf der I*****straße. Aufgrund des geparkten Fahrzeugs bestand direkte Sicht zwischen den Fahrzeuglenkern erst zumindest eine Sekunde vor der Kollision, möglicherweise geringfügig früher. Es konnte nicht festgestellt werden, dass einer der Fahrzeuglenker auf das mögliche Erkennen des Gegenfahrzeugs verspätet reagierte.

Der Kläger begehrt 4.646,25 EUR sA Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle zukünftigen Schäden und meint, das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten, der den Kläger übersehen hätte und unvermittelt in dessen Fahrlinie gefahren sei. Sowohl der Kläger als auch der Erstbeklagte hätten sich auf untergeordneten Verkehrsflächen befunden, sodass sich zwischen ihnen der Vorrang nach der Rechtsregel gerichtet habe.

Die beklagten Parteien bestritten und beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Den Kläger selbst treffe das Alleinverschulden am Unfall. Der Geh‑ und Radweg habe einige Meter vor der Kreuzung mit der I*****straße geendet, eine Radüberfahrt sei nicht vorhanden gewesen. Der Kläger habe daher dem im Fließverkehr befindlichen Erstbeklagten den Vorrang einzuräumen gehabt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Auch wenn die I*****straße gegenüber der G***** Straße durch das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ benachrangt sei, seien Fahrzeuge auf dieser Straße doch im Fließverkehr und damit gegenüber einem Radfahrer, der vom Geh‑ und Radweg komme, im Vorrang. Das Alleinverschulden treffe daher den Kläger.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Beim Einfahren von einem sich nicht über eine Radüberfahrt fortsetzenden Radweg in eine Kreuzung verlasse der Radfahrer die Radfahranlage und habe daher dem Fließverkehr den Vorrang zu geben. Dies sei hier der Fall gewesen, sodass der Kläger im Unfallszeitpunkt nach § 19 Abs 6a StVO gegenüber dem Erstbeklagten im Nachrang gewesen sei. Bei der I*****straße handle es sich um keine benachrangte Verkehrsfläche iSd § 19 Abs 6 StVO. Zwar habe der Lenker des Beklagtenfahrzeugs das Verkehrszeichen „Vorrang geben“ in Bezug auf die G***** Straße zu beachten gehabt. Dieses Verkehrszeichen habe aber kein zusätzliches Hinweisschild enthalten, das auf den Geh‑ und Radweg hingewiesen habe. Auch habe der Kläger auf dieses Verkehrszeichen keine Sicht gehabt.

Die ordentliche Revision wurde zugelassen, weil keine einhellige Rechtsprechung zur Frage der Konkurrenz von § 19 Abs 6a StVO mit anderen Vorrangregelungen vorliege.

Dagegen richtet sich die ordentliche Revision des Klägers mit dem Abänderungsantrag, dem Klagebegehren stattzugeben; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagten Parteien beantragen, die Revision zurückzuweisen; in eventu, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Hinblick auf eine notwendige Klarstellung zulässig , sie ist aber nicht berechtigt .

1. Der Revisionswerber verweist in seinem Rechtsmittel vor allem auf die Entscheidung 2 Ob 135/11h (ZVR 2012/128) und meint, dass in deren Sinne bei einer Konkurrenz zwischen dem Vorschriftszeichen „Vorrang geben“, woraus sich die Nachrangregel des § 19 Abs 4 StVO ergebe, und dem Ende einer Radfahranlage, wonach der Nachrang des Radfahrers iSd § 19 Abs 6a StVO folge, im Hinblick auf die notwendige Schnelligkeit, mit der Verkehrsteilnehmer eine Vorrangsituation beurteilen können müssen, die eindeutigere Vorrangregel des § 19 Abs 4 StVO vorgehe. Auch hätten sich beide Unfallbeteiligten auf untergeordneten Verkehrsflächen befunden, sodass sich der Vorrang zwischen ihnen nach der in § 19 Abs 1 StVO normierten Rechtsregel beurteile.

2. Nach § 19 Abs 6a StVO hat ein Radfahrer, der eine Radfahranlage verlässt, anderen Fahrzeugen im Fließverkehr den Vorrang zu geben.

Was unter einem „Fahrzeug im Fließverkehr“ iSd § 19 Abs 6a StVO zu verstehen ist, wird in der StVO nicht definiert (2 Ob 256/04t, ZVR 2006/30 [ Rihs ]). Nach der Rechtsprechung befindet sich ein Fahrzeug im fließenden Verkehr, wenn es weder hält noch parkt, noch sich nach einem Halten oder Parken in den entsprechenden Fahrbahnteil einordnet, noch aus einer in § 19 Abs 6 StVO aufgezählten Verkehrsfläche kommt (RIS‑Justiz RS0073664; 2 Ob 239/12d). Auch ein Fahrzeug, das vor der kreuzenden Verkehrsfläche gemäß § 52 lit c Z 24 StVO (Vorrangzeichen „Halt“) anzuhalten ist, befindet sich nicht im fließenden Verkehr (2 Ob 256/04t). Daraus hat der erkennende Senat in der zuletzt genannten Entscheidung den Schluss gezogen, dass dort der Radfahrerin der Vorrang gegenüber dem PKW zukam.

3. Der Sachverhalt unterscheidet sich aber vom hier vorliegenden insoweit, als hier nicht das Vorschriftszeichen nach § 52 lit c Z 24 StVO „Halt“ sondern jenes nach § 52 lit b Z 23 StVO „Vorrang geben“ kundgemacht war, sodass hier der Erstbeklagte im Gegensatz zum Sachverhalt in 2 Ob 256/04t nicht vor der kreuzenden Verkehrsfläche anzuhalten hatte. Daraus folgt, dass er im Gegensatz zu der genannten Entscheidung (und in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen) als im Fließverkehr befindlich anzusehen ist. In diesem Fall hat es aber bei der Regel des § 19 Abs 6a StVO zu verbleiben, wonach Radfahrer, die ‑ wie hier ‑ die Radfahranlage verlassen, anderen Fahrzeugen im Fließverkehr den Vorrang zu geben haben (RIS‑Justiz RS0122776).

4. Die Entscheidung 2 Ob 135/11h, auf die sich der Kläger in seiner Revision vornehmlich bezieht, betraf insofern eine Sonderkonstellation, als dort zwar der Radweg an der Kreuzung endete, in Annäherungsrichtung des dortigen KFZ‑Lenkers aber das allgemeine Gefahrenzeichen nach § 50 Z 16 StVO mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“ angebracht war, weshalb der erkennende Senat im Hinblick auf diese Sonderkonstellation unter Verweis auf 2 Ob 233/08s die Ansicht vertrat, dass bei dieser besonderen Kreuzungssituation wegen der notwendigen Schnelligkeit, mit der Verkehrsteilnehmer die Vorrangsituation beurteilen können müssen, und im Sinne einer möglichst einfachen Handhabbarkeit die eindeutigere Vorrangregel des § 19 Abs 4 StVO vorzugehen habe.

5. Im nunmehr zu beurteilenden Fall bestand aber keine unklare Situation, und zwar ‑ wie die Vorinstanzen ausdrücklich dargelegt haben ‑ auch nicht im Hinblick auf allfällige Zusatzschilder. Es hat daher bei der Grundregel, dass Radfahrer, die eine Radfahranlage verlassen, sämtlichen im Fließverkehr befindlichen Fahrzeugen den Vorrang einzuräumen haben, zu bleiben. Insoweit kann auch der Argumentation des Revisionswerbers, beide Unfallbeteiligten hätten sich auf untergeordneten Verkehrsflächen befunden, nicht gefolgt werden.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.

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