OGH 2Ob256/04t

OGH2Ob256/04t25.11.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Irmgard R*****, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margit Swozil, Rechtsanwälte in Salzburg, wider die beklagten Parteien 1.) Christian S*****, und 2.) ***** Versicherungs AG, *****, beide vertreten durch Mag. Christian Posch, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen Zahlung von EUR 14.046,47 sA und Feststellung, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 14. Juli 2004, GZ 6 R 83/04z-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 2. Februar 2004, GZ 2 Cg 92/03h-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 549,33 (darin enthalten USt von EUR 91,56, keine Barauslagen) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 16. 6. 2002 ereignete sich im Gemeindegebiet von Kuchl im Bereich der Kreuzung der B 159 mit dem Johann-Siller-Weg ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Radfahrerin und der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.

Die Klägerin begehrt Schadenersatz in der Höhe von EUR 14.046,47 sA und die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle künftigen Schäden und Ansprüche aus dem Verkehrsunfall vom 16. 6. 2002, die Haftung der zweitbeklagten Partei begrenzt mit der Haftpflichtversicherungssumme. Sie brachte vor, sie sei auf dem neben der B 159 führenden Geh- und Radweg in Richtung Vigaun gefahren. Der Radweg habe vor der Kreuzung der B 159 mit dem Johann-Siller-Weg geendet. Der Erstbeklagte habe, vom Johann-Siller-Weg kommend, in die B 159 nach rechts einbiegen wollen. In Missachtung des durch die Stopptafel gegebenen Nachranges, wegen überhöhter Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit habe er den Unfall allein verschuldet.

Die Beklagten wendeten ein, der Klägerin sei kein Vorrang zugekommen. Auf dem von ihr benützten Radweg sei unmittelbar vor der Kreuzung mit dem Johann-Siller-Weg das Verkehrszeichen "Radweg Ende" aufgestellt gewesen. Auf der Kreuzung sei keine durch Bodenmarkierung ausgewiesene Radfahrüberfahrt vorhanden gewesen. Die Klägerin hätte daher unter Beachtung des § 19 Abs 6a StVO bei Verlassen der Radfahranlage den Vorrang einräumen und sich äußerst vorsichtig in den fließenden Verkehr einordnen müssen. Das unmittelbar vor der Kreuzung des Johann-Siller-Weges mit der B 159 aufgestellte Stoppzeichen habe sich nur auf die Kreuzung mit der B 159, nicht aber auf die Kreuzung mit dem Radweg bezogen. Die Klägerin habe auch eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten.

Das Erstgericht verurteilte die beklagten Parteien zur Zahlung von EUR 3.135,87 und stellte deren Haftung für sämtliche künftigen Schäden zu einem Viertel fest.

Dabei ging es im Wesentlichen von folgenden Feststellungen aus:

Die B 159 hat im Unfallbereich innerhalb der Randlinien eine Breite von 6,1 m. In Fahrtrichtung Salzburg ist auf der rechten Seite ein Geh- und Fahrweg mit einer Breite von 2,3 m vorhanden, dieser ist im Einmündungsbereich des Johann-Siller-Weges auf eine Länge von 20,7 m unterbrochen. Entlang des Radweges befindet sich vor der Kreuzung ein Bretterzaun mit einer Höhe von ca 1,7 m. Auf dem Geh- und Fahrweg befindet sich 3 m vor der Ecke des Holzzaunes ein "Hinweisschild" "Geh- und Fahrweg Ende".

Auf der gegenüberliegenden Seite des Johann-Siller-Weges befindet sich rechts neben dem dort wieder beginnenden Geh- und Fahrweg ein Holzstadel, der leicht schräg im Winkel zwischen Johann-Siller-Weg und dem fortgesetzten Geh- und Fahrweg steht. Am rechten Rand des Johann-Siller-Weges befindet sich in Fahrtrichtung B 159 ca 2 m vor dem Holzschuppen eine Stopptafel. Haltelinie ist keine vorhanden. Die Stopptafel ist von der Bundesstraße 7,8 m entfernt. Auf der Höhe der Stopptafel beträgt die Breite des Johann-Siller-Weges 6 m, auf Höhe der gedachten Fluchtlinie des rechten Randes des Geh- und Fahrweges 9,5 m.

Die Klägerin fuhr vom Ortszentrum von Kuchl kommend auf dem neben der B 159 verlaufenden Geh- und Radweg in Richtung Hallein. Sie fuhr mit etwa 13 km/h. Zum Unfallszeitpunkt regnete es stark.

Der Erstbeklagte fuhr mit seinem PKW auf dem Johann-Siller-Weg Richtung B 159 und wollte dort nach links abbiegen. Die Klägerin fuhr ungebremst, ohne auf den Querverkehr zu achten, in den Einmündungstrichter des Johann-Siller-Weges ein und wollte diesen geradeaus überqueren, um die Fahrt auf der gegenüberliegenden Seite auf dem Geh- und Fahrweg fortzusetzen. Der Erstbeklagte blieb im Bereich der Stopptafel nicht ganz stehen, sondern befand sich noch in einem leichten Rollen. Er fuhr von der Stopptafel mit dem ersten Gang weiter leicht beschleunigend zur B 159 vor. Dabei richtete er seinen Blick auf den vorbeifahrenden Verkehr auf der B 159. Er bemerkte die Klägerin erst, als der Aufprall erfolgte. Zum Zeitpunkt der Kollision betrug seine Geschwindigkeit 10 km/h. Der Aufprall erfolgte im rechten Winkel in der Form, dass das vom Erstbeklagten gelenkte Fahrzeug mit der rechten vorderen Ecke gegen die rechte Seite der Klägerin stieß. Der Erstbeklagte leitete sofort ein Bremsmanöver ein und kam ca 3,5 m vor der Fluchtlinie der Bundesstraße zum Stehen. 2 Sekunden vor der Kollision befand sich das Fahrzeug des Erstbeklagten im Bereich der Stopptafel. Zu diesem Zeitpunkt kam die Klägerin in den Sichtbereich des Erstbeklagten. Umgekehrt befand sich auch der Erstbeklagte im Sichtbereich der Klägerin. Bei einer 45 Grad von der eigenen Fahrlinie abweichenden Blickzuwendung hätten beide Unfallsbeteiligten Sicht auf das gegnerische Fahrzeug gehabt. Für beide Verkehrsteilnehmer wäre dann bei sofortiger Reaktion der Unfall vermeidbar gewesen.

In rechtliche Hinsicht lastete das Erstgericht der Klägerin einen Verstoß gegen § 19 Abs 6a StVO an. Das Verkehrszeichen "Radweg Ende" habe das Ende der Radfahranlage angezeigt. Die Klägerin habe sich gegenüber dem Erstbeklagten im Nachrang befunden. Den Erstbeklagten treffe hingegen kein Verschulden. Gemäß § 52 lit c Z 24 StVO sei beim Vorschriftszeichen "Halt" bei Fehlen einer Bodenmarkierung das Fahrzeug an einer Stelle anzuhalten, von der aus gute Übersicht bestehe. Der Erstbeklagte sei mit seinem Fahrzeug von der Stopptafel langsam zum Kreuzungsbereich vorgefahren, ohne die Fluchtlinie der bevorrangten Straße zu überfahren.

Allerdings sei den beklagten Parteien der Freibeweis nach § 9 EKHG nicht gelungen. Eine Abwägung des in einer groben Vorrangverletzung gelegenen Verschuldens der Klägerin mit der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges ergebe eine Zurechnung von 3: 1 zu Lasten der Klägerin.

Das von der Klägerin gegen den klagsabweisenden Teil dieser Entscheidung angerufene Berufungsgericht änderte die angefochtene Entscheidung dahin ab, dass es die beklagten Parteien zur Zahlung von EUR 8.362,31 sA verurteilte und deren Haftung für zwei Drittel aller künftigen Schäden feststellte (hinsichtlich der zweitbeklagten Partei begrenzt mit der im Haftpflichtversicherungsvertrag genannten Versicherungssumme). Das Mehrbegehren wurde abgewiesen.

Das Berufungsgericht sprach aus, der Wert des Entscheidungsgegenstandes übersteige EUR 4.000,- -, nicht jedoch EUR 20.000,- -, die ordentliche Revision sei zulässig.

Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, der Klägerin sei keine Vorrangverletzung nach § 19 Abs 6a StVO anzulasten, sondern davon auszugehen, dass der Erstbeklagte auf Grund der vor dem Geh- und Radweg angebrachten "Stopptafel" ihr gegenüber benachrangt gewesen sei. Nach § 19 Abs 6a StVO hätten Radfahrer, die eine Radfahranlage verlassen, anderen Fahrzeugen im fließenden Verkehr den Vorrang zu geben. Kein Verlassen liege beim Übergang einer Radfahranlage in eine andere vor und auch nicht beim Kreuzen einer Radfahranlage mit einer sonstigen Fahrbahn. Mangels Kennzeichnung des von der Klägerin benützten Überganges bzw der Überfahrt mittels der Bodenmarkierung "Radfahrerüberfahrt" im Sinne des § 2 Abs 1 Z 12a StVO seien die allgemeinen Vorrangregeln anzuwenden. Im vorliegenden Fall habe sich zwar auf dem Geh- und Radweg vor der Einmündung des Johann-Siller-Weges das Verkehrszeichen "Ende des Geh- und Radweges" befunden, doch habe dieses nicht das Einordnen des Radfahrers in den Querverkehr erfordert, weil sich der Geh- und Radweg nach der Kreuzung mit dem Johann-Siller-Weg fortsetze. Daher komme nicht § 19 Abs 6a StVO zur Anwendung, sondern gelte die Vorrangregel des § 19 Abs 4 StVO. Demnach hätten an Kreuzungen, vor denen das Vorschriftszeichen "Halt" angebracht sei, sowohl die von rechts als auch die von links kommenden Fahrzeuge den Vorrang. Dies bedeute im vorliegenden Fall, in dem sich das Vorrangzeichen im Johann-Siller-Weg - gesehen aus der Fahrtrichtung des Erstbeklagten - vor der von der Klägerin benützten Verkehrsfläche befinde, dass der gesamte Querverkehr bevorrangt sei. Demgemäß habe sich die Klägerin gegenüber dem vom Verkehrszeichen "Halt" betroffenen Erstbeklagten im Vorrang befunden. Diesen Vorrang habe der Erstbeklagte verletzt. Es sei daher, ausgehend von dem von der Klägerin in ihrer Berufung zugestandenen Mitverschulden im Ausmaß von 1/3, eine Haftungsteilung im Verhältnis 1 : 2 zu Gunsten der Klägerin vorzunehmen.

Die ordentliche Revision erachtete das Berufungsgericht wegen Fehlens einer Rechtsprechung zu der hier relevanten Frage des Vorranges für zulässig.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Parteien mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde.

Die Klägerin hat Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, das Rechtsmittel der beklagten Parteien zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Die beklagten Parteien machen in ihrem Rechtsmittel geltend, es könne keine Rede davon sein, dass es sich bei der Kollisionsstelle um den Übergang einer Radfahranlage in eine andere handle. Die Radfahranlage habe ja vor der Kreuzung mit dem Johann-Siller-Weg durch Anbringung des Gebotszeichen gemäß § 52 lit b Z 22a StVO geendet. Genauso wenig könne man von einem Übergang von einer Radfahranlage in eine andere sprechen. Zwischen den beiden Radfahranlagen habe sich eben der Johann-Siller-Weg befunden. Die Klägerin hätte daher die Bestimmung des § 19 Abs 6a StVO zu beachten gehabt und komme ihr gegenüber dem Fließverkehr der Nachrang zu. Die in Fahrtrichtung des Erstbeklagten aufgestellte Stopptafel habe sich nur auf die Bundesstraße, nicht aber auf den von der Radfahranlage kommenden Verkehr bezogen. Die räumlichen Gegebenheiten würden es dem Erstbeklagten faktisch unmöglich machen, den Vorrang auch zu verwirklichen. Jedenfalls aber habe die Klägerin gegen § 68 Abs 3 StVO verstoßen. Es könne nicht sein, dass die Klägerin einen Vorrang derart in Anspruch nehme, dass sie unmittelbar vor der Kreuzung des Radweges mit dem Johann-Siller-Weg aus dem sichtbehindernden Bretterzaun hervorschieße und unmittelbar den Fahrkanal des Richtung Bundesstraße fahrenden KFZ-Lenkers kreuze.

Hiezu wurde erwogen:

Die Klägerin befand sich zunächst auf einem Radweg, worunter ein für den Fahrradverkehr bestimmter und als solcher gekennzeichneter Weg zu verstehen ist (§ 2 Abs 1 Z 11a StVO). Dieser Radweg endete allerdings auf Grund des Gebotszeichens nach § 52 lit b Z 22a StVO vor der Kreuzung mit dem Johann-Siller-Weg. Eine Radfahrerüberfahrt im Sinne des § 2 Abs 1 Z 12 StVO, die der Klägerin den Schutz des § 9 Abs 2 StVO gegeben hätte, war nicht vorhanden. Es ist daher davon auszugehen, dass die Klägerin die von ihr benützte Radfahranlage (darunter ist gemäß § 2 Abs 1 Z 11b StVO auch ein Radweg zu verstehen) verlassen hat; sie hatte daher anderen Fahrzeugen im fließenden Verkehr den Vorrang zu geben (§ 19 Abs 6a StVO).

Der Erstbeklagte hatte auf Grund des Vorrangzeichens nach § 52 lit c Z 24 StVO vor der Kreuzung anzuhalten und gemäß § 19 Abs 4 StVO Vorrang zu geben. Da keine Bodenmarkierung vorhanden war, hatte er das Fahrzeug an einer Stelle anzuhalten, von der aus gute Übersicht bestand. Gemäß § 19 Abs 4 StVO hatten gegenüber dem Erstbeklagten sowohl die von rechts als auch die von links kommenden Fahrzeuge den Vorrang. Unter einem Fahrzeug ist gemäß § 2 Abs 1 Z 19 StVO auch ein Fahrrad zu verstehen. Auf Grund des Vorrangzeichens "Halt" war der gesamte Querverkehr, daher auch jener auf der Verkehrsfläche, die von der Klägerin benutzt wurde, bevorrangt (vgl RIS-Justiz RS0037274; 2 Ob 44/98d).

Was unter einem "Fahrzeug im fließenden Verkehr" im Sinne des § 19 Abs 6a StVO zu verstehen ist, wird in der StVO nicht definiert (Grundtner, StVO, 402). Ein Fahrzeug, das vor der kreuzenden Verkehrsfläche gemäß § 52 lit c Z 24 StVO (Vorrangzeichen "Halt") anzuhalten ist, befindet sich aber jedenfalls nicht im fließenden Verkehr. Daraus folgt, dass die Klägerin dem Erstbeklagten nicht gemäß § 19 Abs 6a StVO den Vorrang zu geben hatte, sondern dass ihr vielmehr gemäß § 19 Abs 4 StVO der Vorrang gegenüber dem vom Erstbeklagten gelenkten Fahrzeug zukam.

Zutreffend machen allerdings die beklagten Parteien in ihrem Rechtsmittel geltend, dass die Klägerin mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist. Die Bestimmung des § 68 Abs 3a StVO, wonach Überfahrten, wo der Verkehr nicht durch Arm- oder Lichtzeichen geregelt wird, von Radfahrern nur mit einer Geschwindigkeit von höchstens 10 km/h und nicht unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug und für dessen Lenker überraschend befahren werden dürfen, findet zwar nicht unmittelbar Anwendung, weil sich die Klägerin, wie schon oben dargelegt, nicht auf einer Radfahrerüberfahrt befunden hat. Die Bestimmung ist aber jedenfalls sinngemäß anzuwenden, wenn - ohne dass eine Radfahrerüberfahrt vorliegt - von einem Fahrrad eine Straße überquert wird. Doch hat die Klägerin in ihrer Berufung selbst ein Mitverschulden von 1/3 eingeräumt. Stellt man die Vorrangverletzung des Erstbeklagten der doch geringen Geschwindigkeitsüberschreitung durch die Klägerin gegenüber, bestehen keine Bedenken gegen die Teilung von 1 : 2 zu Gunsten der Klägerin.

Dass es dem Erstbeklagten gar nicht möglich gewesen wäre, den Vorrang der Klägerin zu wahren, wurde im Verfahren erster Instanz nicht vorgebracht.

Der Revision der beklagten Parteien war deshalb keine Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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