OGH 7Ob67/15a

OGH7Ob67/15a2.7.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr.

Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** S*****, vertreten durch Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt in St. Jakob in Haus, gegen die beklagte Partei U***** Versicherungen AG, *****, vertreten durch Dr. Günter Schmid, Rechtsanwalt in Linz, wegen 66.720,26 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 11. Februar 2015, GZ 6 R 207/14z‑91, womit das Urteil des Landesgerichts Linz vom 19. September 2014, GZ 38 Cg 117/11h‑86, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden, soweit sie nicht hinsichtlich der Abweisung von 19.062,93 EUR samt 4 % Zinsen seit 20. April 2011 unbekämpft in Rechtskraft erwachsen sind, aufgehoben. Die Rechtssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag mit einer Versicherungssumme von 544.655,21 EUR, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 1998) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

„...

Artikel 2

Versicherungsfall

Versicherungsfall ist der Eintritt eines Unfalles (Art. 6).

Artikel 6

Begriff des Unfalles

1. Unfall ist ein vom Willen der versicherten Person unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf ihren Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.

Artikel 7

Dauernde Invalidität

1. Allgemeine Bestimmungen

1.1 Ergibt sich innerhalb eines Jahres vom Unfalltag an gerechnet, daß als Folge des Unfalles eine dauernde Invalidität zurückbleibt, wird aus der hiefür versicherten Summe der dem Grade der Invalidität entsprechende Betrag gezahlt.

1.2 Für die Bemessung des Invaliditätsgrades gelten folgende Bestimmungen:

1.2.1 bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit

a) eines Armes

- ab Schultergelenk …............................ 70 %

1.2.2 Bei teilweisem Verlust oder teilweiser Funktionsunfähigkeit der vorgenannten Körperteile oder Organe werden die Sätze des Pkt. 1.2.1 anteilig angewendet. Bei Funktionseinschränkungen von Armen oder Beinen ist der Satz für die gesamte Extremität anteilig anzuwenden.

Artikel 18

Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes

1. Eine Versicherungsleistung wird nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen (körperliche Schädigung oder Tod) erbracht.

...

3. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, ist im Falle einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades, ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu vermindern, sofern dieser Anteil mindestens 25 % beträgt.

...“

Am 23. 3. 2009 lief der Kläger, dessen rechte Schulter bis dahin frei beweglich war, beim Faustballspielen rückwärts, stolperte und stürzte nach hinten. Er versuchte noch, sich mit dem nach hinten ausgestreckten Arm abzufangen, er fiel aber dennoch auf die rechte obere Körperhälfte. Nach dem Sturz verspürte er Schmerzen im Bereich der rechten Schulter und des rechten Oberarms; er war der Meinung, diese hätten „keine besondere Bedeutung“. Auf Grund anhaltender Schmerzen begab er sich jedoch in weiterer Folge zum Hausarzt, über dessen Veranlassung weitere Untersuchungen vorgenommen wurden (Röntgenaufnahmen, MRT). Letztlich wurde der Kläger am 13. 5. 2009 an der rechten Schulter operiert; dabei erfolgte unter anderem eine offene ankergestützte Refixation der Supraspinatussehne (Teil der Rotatorenmanschette).

Der Kläger leidet derzeit an einer Bewegungseinschränkung der rechten Schulter. Bereits vor dem Unfall war ein massiver Vorschaden durch altersbedingte Degeneration im oberen Grenznormbereich in der Rotatorenmanschette vorhanden, die damals keine Funktionsstörungen verursachte, sodass zwar keine Vorinvalidität, aber eine Vorschädigung vorhanden war. „Aus medizinischer Sicht entspricht der beim Kläger gegebene Zustand einer Gebrauchswertminderung von 20 %, von der eine mit 75 % zu bewertende Vorschädigung abzuziehen ist. Ob die Komplettruptur der Supraspinatussehne bereits vor dem Sturz bestand, durch den Sturz verursacht wurde oder erst später eintrat, kann nicht festgestellt werden. Es kann auch nicht festgestellt werden, ob sich der Kläger durch den Sturz dergestalt verletzt hat, dass es zu einer Erweiterung eines auf degenerativer Basis schon vor dem Unfall vorhandenen Risses in der Sehne oder Entstehung eines kleinen Risses in einer durch Degeneration deutlich vorgeschädigten Sehne oder 'bloß' zu einer Prellung der Schulter gekommen ist. Wenn sich der Kläger die Schulter 'nur' geprellt hat, dann ist diese Folge des Sturzes folgenlos ausgeheilt. Es kann daher nicht festgestellt werden, dass die Gebrauchswertminderung im Bereich der rechten Schulter des Klägers durch den Unfall bedingt ist.“

Der Kläger begehrte nach Erhalt einer Zahlung von 28.594,40 EUR weitere 66.720,26 EUR sA aus dem mit der Beklagten abgeschlossenen Unfallversicherungsvertrag. Die Bewegungseinschränkung im Bereich der Schulter sei ausschließlich auf den Unfall zurückzuführen und würde samt im Detail beschriebener dauerhafter Nebenfolgen eine Gebrauchswertminderung von insgesamt 25 %, und nicht wie bereits abgerechnet 7,5 %, rechtfertigen. Bei ihm hätten nur altersgemäße Veränderungen des Schultergelenks und damit keine nach den Versicherungsbedingungen zu berücksichtigende Vorschäden bestanden.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Im Bereich der rechten Schulter hätten massive degenerative Veränderungen und Vorschädigungen bestanden. Der Unfall habe zu keiner oder höchstens geringfügigen dauerhaften Verschlechterung geführt. Die Vorinvalidität sei jedenfalls abzuziehen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der insofern die Beweislast tragende Kläger habe keinen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Unfallfolge) nachweisen können. Zudem könnte höchstens eine Versicherungsleistung auf Basis einer Gebrauchswertminderung von 5 % zuerkannt werden, während die Beklagte bereits eine Entschädigungsleistung auf Basis einer Gebrauchswertminderung von 7,5 % erbracht habe.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die Voraussetzungen für die Anwendung des Anscheinsbeweises würden nicht vorliegen. Den erforderlichen Nachweis einer hohen Wahrscheinlichkeit für einen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Unfallfolge) habe der Kläger nicht erbracht. Auf die Frage der Anrechnung der Vorschädigung müsse nicht eingegangen werden.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil es nicht von der Judikatur des Obersten Gerichtshofs abgewichen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers mit einem Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.

1. Der Kläger ließ die von den Vorinstanzen festgestellte Gebrauchswertminderung von 20 % und die daraus resultierende Teilabweisung von 19.062,93 EUR sA unbekämpft.

2. Der Revisionswerber meint, ihm komme beim Nachweis des Kausalzusammenhangs die Beweiserleichterung durch Erbringung des Anscheinsbeweises zu Gute.

2.1. Der Anscheinsbeweis beruht darauf, dass bestimmte Geschehnisabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher und nicht ein atypischer Ablauf gegeben ist (RIS‑Justiz RS0040266). Er wird in Fällen als sachgerecht angesehen, in denen konkrete Beweise vom Beweispflichtigen billigerweise nicht erwartet werden können (RIS‑Justiz RS0040182, RS0123919). Wenn nach der Lebenserfahrung eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Kausalzusammenhang spricht, dann muss die freie Beweiswürdigung den Tatrichter dazu führen, den Kausalzusammenhang als erwiesen anzunehmen, wenn nicht der beklagte Schädiger diesen prima‑facie‑Beweis dadurch erschüttert, dass er eine ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit einer anderen Ursache oder eines anderen Ablaufes dartut (RIS‑Justiz RS0022664). Der Anscheinsbeweis findet auch im Rahmen der privaten Unfallversicherung Anwendung (vgl 7 Ob 128/02b).

Ob nach den festgestellten Umständen ein Tatbestand mit typischem Geschehensablauf vorliegt, der eine Verschiebung des Beweisthemas und der Beweislast im Sinn des Anscheinsbeweises zulässt, ist eine Frage der Beweislast und damit eine Rechtsfrage (RIS‑Justiz RS0022624). Ob der Anscheinsbeweis erbracht oder erschüttert worden ist, ist hingegen eine vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbare Beweiswürdigungsfrage (RIS‑Justiz RS0022624 [T1]). Dem Versicherer stehen bei der Erbringung des Entlastungsbeweises die gleichen Beweiserleichterungen zu (RIS‑Justiz RS0040196 [T12]). Die Frage, welche Beweiserleichterungen ihm dabei zugute kommen, gehört zum Bereich der rechtlichen Beurteilung und ist daher revisibel (vgl RIS‑Justiz RS0102500).

2.2. Der Versicherungsnehmer, der eine Versicherungsleistung beansprucht, muss die anspruchsbegründende Voraussetzung des Eintritts des Versicherungsfalls beweisen (RIS‑Justiz RS0080003, RS0043438, RS0043563). Zur Erlangung einer Versicherungsleistung aus einer privaten Unfallversicherung muss zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Unfallfolge) ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen, der im Zweifel vom Versicherungsnehmer zu beweisen ist. Darüber hinaus kann der Versicherer den Beweis erbringen, dass die Beeinträchtigung auch ohne Unfall später mit Sicherheit eingetreten wäre (überholende Kausalität; RIS‑Justiz RS0080927 [T1]). Die Invalidität muss daher auf einem ‑ hier nicht strittigen ‑ Unfall beruhen und dadurch adäquat verursacht worden sein. Wenn geklagte und fortdauernde Beschwerden erstmals unmittelbar oder kurz nach einem Unfall auftreten, spricht eine Vermutung für eine (Mit‑)Kausalität des Unfallereignisses. Auch die Möglichkeit, dass nur bis dahin latente Schäden virulent wurden, schließt zumindest die Vermutung einer Mitkausalität nicht aus. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn festgestellt werden kann, dass der Versicherte ohne den Unfall an den gleichen Beschwerden leiden würde ( Knappmann in Prölss/Martin 29 , AUB 2010 § 2 Rn 3; Leverenz in Bruck/Möller , VVG 9 § 180 Rn 54; vgl auch Grimm , Unfallversicherung 5 , AUB 2010 § 1 Rn 52). Führt demnach die Würdigung der Gesamtumstände zu der Annahme, dass die Unfallfolgen sowohl Folge des Unfallereignisses als auch unfallfremder Umstände gewesen sind, so hat der Versicherer zu beweisen, dass allein die unfallfremden Umstände die Gesundheitsschädigung herbeigeführt haben ( Leverenz aaO).

2.3. Im vorliegenden Fall steht fest, dass die rechte Schulter des Klägers bis zum hier zu beurteilenden Unfallereignis frei beweglich war und er (erst) nach dem Unfall an einer Bewegungseinschränkung litt. Dies spricht nach dem ersten Anschein dafür, dass der Sturz die Beschwerden des Klägers, die zu einer dauerhaften Bewegungseinschränkung seiner rechten Schulter führten, zumindest auslöste und daher dafür mitursächlich war. Damit ist unter Anwendung des Anscheinsbeweises grundsätzlich vom Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Sturz und der festgestellten Invalidität des Klägers auszugehen, wenn nicht der Versicherer beweist, dass er auch ohne den Unfall an den gleichen Beschwerden leiden würde. Dazu fehlen noch Feststellungen. Nur wenn sich ergibt, dass die Invalidität des Klägers auch ohne Unfall später mit Sicherheit eingetreten wäre (überholende Kausalität; vgl 7 Ob 186/04k = RIS‑Justiz RS0119514), wofür ebenfalls der Versicherer die Beweislast trägt (RIS‑Justiz RS0119514), wäre die Beklagte leistungsfrei.

3. Sollte nach Verfahrensergänzung von einer Kausalität des Unfalls auszugehen sein, würde die Frage der Vorschädigungsanrechnung relevant. Dazu ist bereits jetzt Folgendes auszuführen:

3.1. Der „Vorzustand" der versicherten Person ist gemäß Art 18.3. AUVB 1998 dann zu berücksichtigen, wenn beim Versicherungsnehmer bereits vorhandene Krankheiten oder Gebrechen die Unfallfolgen beeinflussen. Den Beweis für die Mitwirkung von Gebrechen oder Krankheiten an den Unfallfolgen hat der Versicherer zu erbringen (RIS‑Justiz RS0119522). Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer (RIS‑Justiz RS0008901, RS0050063) unter dem Begriff „Krankheitserscheinungen“ (wie hier in Art 18.5 AUVB 1998 verwendet) zwanglos jedenfalls degenerative Veränderungen, die über das normale altersbedingte Ausmaß hinausgehen, versteht. Es besteht dadurch ein von der Norm abweichender Zustand, der grundsätzlich Beschwerden verursacht und damit im Alltag als krankhaft bezeichnet wird. Ob der Einzelne die degenerativen Veränderungen auch tatsächlich schmerzhaft wahrnimmt und für behandlungsbedürftig hält, ist dabei nicht von Bedeutung (RIS‑Justiz RS0125367). Daraus folgt, dass unter die in Art 18.3. AUVB 1998 verwendeten Begriffe „Krankheiten“ und „Gebrechen“ nicht altersadäquate degenerative Veränderungen fallen.

Dies wird auch zur deutschen Rechtslage vertreten: Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen müssen, um anspruchsmindernd wirken zu können, über die mit der Alterung typischerweise einhergehenden Einschränkungen des Gesundheitszustands hinausgehen und dürfen daher nicht innerhalb der medizinischen Norm liegen ( Knappmann aaO AUB 2010 § 3 Rn 5). Bei einem „alterstypischen normalen Verschleißzustand“ handelt es sich weder um eine Krankheit noch um ein Gebrechen ( Brömmelmeyer in Schwintowski/Brömmelmeyer , PK‑VersR² § 182 VVG Rn 4; Leverenz aaO § 182 Rn 7; Rüffer in Rüffer/Halbach/Schimikowski , VVG² AUB 2008/2010 § 2 Rn 3).

3.2. Das Erstgericht stellte (unter Berücksichtigung seiner Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung) einen Vorschaden durch altersbedingte Degeneration im oberen Grenznormbereich in der Rotatorenmanschette fest. Damit wies der Kläger im Unfallszeitpunkt einen innerhalb der medizinischen Norm liegenden Gesundheitszustand im Bereich der Schulter auf. Daraus folgt, dass die Vorschädigung nicht unter Art 18.3. AUVB 1998 fällt und daher nicht anspruchsmindernd zu berücksichtigen wäre.

4. Erst nach einer Ergänzung des Sachverhalts kann über die Rechtssache abschließend entschieden werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 52 ZPO.

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