OGH 12Os160/14t

OGH12Os160/14t15.1.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Jänner 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und Dr. Oshidari sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Humer als Schriftführerin in der Strafsache gegenCosmin M***** und einen anderen Angeklagten wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB, AZ 10 U 227/12w des Bezirksgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Verlesung von Aktenstücken in der Hauptverhandlung vom 8. Oktober 2013 nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, und des Angeklagten Levente P***** zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0120OS00160.14T.0115.000

 

Spruch:

Die in der Hauptverhandlung vom 8. Oktober 2013 vorgenommene Verlesung des Amtsvermerks vom 6. November 2012 und der Aussagen der beiden Angeklagten sowie der Zeugen Emanuel S***** und Markus O***** verletzt das Gesetz in § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 8. Oktober 2013, GZ 10 U 227/12w‑9, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

Text

Gründe:

In der Strafsache gegen Cosmin M***** und Levente P***** wegen § 127 StGB, AZ 10 U 227/12w des Bezirksgerichts Innsbruck, legte die Staatsanwaltschaft den Genannten mit Strafantrag vom 5. Dezember 2012 - zusammengefasst ‑ zur Last, am 5. November 2012 in Innsbruck im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz einem Unbekannten ein Fahrrad weggenommen zu haben (ON 3).

Am 8. Oktober 2013 führte das Bezirksgericht Innsbruck die Hauptverhandlung gemäß § 427 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO in Abwesenheit beider Angeklagter durch, weil diese trotz Zustellung ihrer Ladung nicht erschienen waren (ON 1 S 2; ON 3 S 2 und ON 6 S 1). Die Zeugen Markus O***** und Emanuel S***** wurden zur Hauptverhandlung gar nicht geladen (ON 1 S 2).

In dieser Verhandlung verlas der Bezirksrichter „die Anzeige in ON 2“ (ON 6 S 2). Diese Anzeige enthält sowohl die Protokolle über die Vernehmung beider Angeklagter sowie der Zeugen Markus O***** und Emanuel S***** (ON 2 S 15 ff, S 19 ff und S 23 ff) als auch einen Amtsvermerk, der neben einer Schilderung der Auffindungssituation des Diebesguts und der darauf befindlichen frischen Regenspuren auch eine Wiedergabe der Aussagen beider Angeklagter und der genannten Zeugen enthält (ON 2 S 31 f).

Mit Abwesenheitsurteil vom 8. Oktober 2013 sprach das Bezirksgericht Innsbruck Cosmin M***** und Levente P***** des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig (ON 6 S 2). Zur Widerlegung der leugnenden Verantwortung der Angeklagten stützte sich das Gericht auf die „Beobachtungen der Zeugen Emanuel S***** und Markus O*****“. Darüber hinaus stellte das Bezirksgericht Innsbruck fest, dass es zur Tatzeit regnete und das Diebesgut im Zeitpunkt seiner kurzen Zeit nach der Tat erfolgten Sicherstellung nass war. Die Angaben der Angeklagten zur Erklärung der dem gestohlenen Fahrrad anhaftenden Nässe bezeichnete das Bezirksgericht Innsbruck als unglaubwürdig (ON 9 S 2 f).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt, stehen die in der Hauptverhandlung vom 8. Oktober 2013 vorgenommenen Verlesungen der Aussagen der Angeklagten (jeweils im Verhältnis zu ihrem Mitangeklagten [ON 2 S 15 ff, S 19 ff]) sowie der Zeugen Emanuel S***** und Markus O***** (ON 2 S 23 ff) sowie des Amtsvermerks vom 6. November 2012 (ON 2 S 31 f) mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen, Protokolle über die Aufnahme von Beweisen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen oder Mitbeschuldigten festgehalten worden sind, bei sonstiger Nichtigkeit (abgesehen von den in Z 2 bis Z 3 leg cit genannten, hier nicht relevanten Fällen) nur dann verlesen oder vorgeführt werden, wenn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind, ihr Aufenthalt unbekannt ist oder ihr persönliches Erscheinen füglich nicht bewerkstelligt werden kann (Z 1 leg cit) oder Ankläger und Angeklagter über die Verlesung einverstanden sind (Z 4 leg cit).

Diese Voraussetzungen waren in Bezug auf die Angaben der Zeugen Markus O***** und Emanuel S***** (ON 2 S 23 ff) sowie jener der beiden Angeklagten (jeweils im Verhältnis zu ihrem Mitangeklagten [ON 2 S 15 ff, S 19 ff]) und damit auch in Ansehung des ‑ sowohl Angaben der genannten Zeugen als auch der beiden Angeklagten festhaltenden ‑ Amtsvermerks vom 6. November 2012 (ON 2 S 31 f) nicht erfüllt. Denn aus dem Nichterscheinen der gesetzeskonform geladenen Angeklagten zur Hauptverhandlung konnte deren Einverständnis zur Verlesung dieser Aktenteile im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden (RIS‑Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103; Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 13). Eine Unerreichbarkeit bzw dauernde Verhinderung der Genannten im Sinn der Z 1 des § 252 Abs 1 StPO lag mangels jeglichen Versuchs einer Ladung der erwähnten Zeugen (vgl ON 1 S 2) bzw aufgrund der ‑ die Annahme der Verhinderung der Angeklagten ausschließenden (vgl Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 6; Fabrizy, StPO12 § 427 Rz 12) ‑ Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten gemäß § 427 Abs 1 StPO und des Unterbleibens weiterer Maßnahmen zur Herbeiführung deren Anwesenheit nicht vor.

Die in der Hauptverhandlung vom 8. Oktober 2013 vorgenommene Verlesung der erwähnten Aktenstücke verletzte somit § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO.

Da die zu Unrecht verlesenen Aktenstücke ‑ insbesondere im Hinblick auf die sich auf die Angaben der Zeugen Emanuel S***** und Markus O***** stützenden Erwägungen des Bezirksgerichts Innsbruck ‑ auch Grundlage des Schuldspruchs waren (ON 9 S 2 f) und ein aus dieser Gesetzesverletzung resultierender Nachteil für die beiden Angeklagten somit nicht ausgeschlossen werden kann, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, der aufgezeigten Gesetzesverletzung gemäß § 292 letzter Satz StPO konkrete Wirkung zuzuerkennen (11 Os 176/13m).

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