OGH 12Os164/14f

OGH12Os164/14f15.1.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Jänner 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und Dr. Oshidari sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Humer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Thomas E***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB, AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 26. August 2013, GZ 18 Hv 39/13t‑39, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, des Angeklagten und seines Verteidigers Dr. Bender zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 26. August 2013, GZ 18 Hv 39/13t‑39, verletzt das Gesetz in § 263 Abs 4 StPO.

Das genannte Urteil wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt:

Thomas E***** wird von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe am 13. April 2011 in Graz Evelyn E*****‑E***** mit Gewalt zur Duldung des Beischlafs genötigt, indem er sie am Genick packte und auf das Ehebett stieß, sie mit seinen Händen fest nach unten gegen das Bett drückte und mit seinem ganzen Körper fixierte, ihr in Nase und Wange biss und seinen Penis in ihre Scheide einführte, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Die Privatbeteiligte Evelyn E*****‑E***** wird mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Graz führte zu AZ 1 St 190/11i ein Ermittlungsverfahren gegen Thomas E***** wegen §§ 83 Abs 1, 107 Abs 1 und 201 Abs 1 StGB, der nach den Erhebungen der Kriminalpolizei im Verdacht stand, Evelyn E*****‑E***** in G***** im Zeitraum von Anfang Jänner 2011 bis zum 19. August 2011

1./ durch die wiederholten, sinngemäßen Äußerungen, er werde sie, ihren Vater und ihre gemeinsame Tochter umbringen, gefährlich bedroht zu haben, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen,

2./ wiederholt durch Schläge gegen Körper und Gesicht sowie durch Beißen am Körper verletzt zu haben, wodurch sie Hämatome, Schwellungen und Bisswunden erlitt,

3./ in nicht näher bezeichneter Weise „vergewaltigt“ zu haben (insbesondere ON 2 S 17 ff und ON 3 S 12 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz).

Am 5. Dezember 2011 verfügte die Staatsanwaltschaft Graz hinsichtlich des den Vorwurf nach § 201 Abs 1 StGB begründenden Verdachts „der Vergewaltigung während der Ehe im Zeitraum von Jänner bis August 2011“ die Teileinstellung des Verfahrens gemäß § 190 Z 2 StPO (ON 1 S 2 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz) und erhob unter einem beim Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Graz (AZ 10 Hv 163/11s) Strafantrag gegen Thomas E***** wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB und der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (ON 1 S 2 und ON 6 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz).

In der vom Landesgericht für Strafsachen Graz im Verfahren AZ 10 Hv 163/11s am 15. Februar 2012 durchgeführten Hauptverhandlung gab Evelyn E*****‑E***** als Zeugin vernommen an, dass der Angeklagte sie am 13. April 2011 mit Gewalt zur Duldung des Beischlafs genötigt habe (ON 9 S 7 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz). Die Staatsanwaltschaft Graz erklärte aufgrund dieser Aussage, den Strafantrag auf diese (von der am 5. Dezember 2011 gemäß § 190 Z 2 StPO erfolgten Teileinstellung umfasste) dem Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB subsumierte Tat auszudehnen und beantragte, ihr gemäß § 263 Abs 2 StPO die Verfolgung des Angeklagten wegen dieses Vorwurfs vorzubehalten (ON 9 S 9 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz).

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz (richtig:) vom 13. März 2012, GZ 10 Hv 163/11s‑25 (= ON 12 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz), wurde Thomas E***** (wegen der dem Strafantrag zugrunde liegenden Taten) des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB schuldig erkannt und der Staatsanwaltschaft Graz gemäß § 263 Abs 2 StPO die selbständige Verfolgung wegen des (von der genannten Teileinstellung umfassten, in der Hauptverhandlung vom 15. Februar 2012 konkret hervorgekommenen) Vorwurfs nach § 201 Abs 1 StGB vorbehalten (ON 12 S 2 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz). Der gegen das Urteil gerichteten Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit sowie wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe wurde vom Oberlandesgericht Graz mit Urteil vom 29. August 2012, AZ 8 Bs 272/12d (ON 16 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz), nicht Folge gegeben.

Mit Verfügung vom 24. Jänner 2013 vermerkte die Staatsanwaltschaft Graz unter Hinweis auf § 193 Abs 2 Z 2 StPO, dass der von Evelyn E*****-E***** gegen Thomas E***** erhobene Vorwurf der Vergewaltigung „neu erhoben“ werde und beantragte beim Landesgericht für Strafsachen Graz deren kontradiktorische Vernehmung gemäß § 165 StPO (ON 1 S 6 in AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz). Vor diesem Zeitpunkt gesetzte Ermittlungsschritte sind nicht aktenkundig. Nach kontradiktorischer Vernehmung der Evelyn E*****-E***** (ON 20) und Vernehmung des Angeklagten durch die Kriminalpolizei (ON 22 S 11 ff) erhob die Staatsanwaltschaft Graz zu AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz am 13. Mai 2013 Anklage gegen Thomas E***** wegen § 201 Abs 1 StGB (ON 23).

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 26. August 2013, GZ 18 Hv 39/13t‑39, wurde Thomas E***** des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat er am 13. April 2011 in Graz Evelyn E*****-E***** mit Gewalt zur Duldung des Beischlafs genötigt, indem er sie am Genick packte und auf das Ehebett stieß, sie mit seinen Händen fest nach unten gegen das Bett drückte und mit seinem ganzen Körper fixierte, ihr in Nase und Wange biss und seinen Penis in ihre Scheide einführte. Der Privatbeteiligten Evelyn E*****‑E***** wurde ein (Teil‑)Schmerzengeld in Höhe von 3.000 Euro zugesprochen.

Gegen dieses Urteil richtete sich eine auf § 281 Abs 1 Z 5, 5a und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten (ON 44), die mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 3. April 2014, GZ 12 Os 148/13a‑4, gemäß § 285d Abs 1 StPO zurückgewiesen wurde.

Der Berufung des Angeklagten gab das Oberlandesgericht Graz mit Urteil vom 21. Mai 2014, AZ 10 Bs 138/14s, durch Herabsetzung der verhängten Freiheitsstrafe Folge.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 26. August 2013, GZ 18 Hv 39/13t‑39, mit dem Gesetz nicht in Einklang:

Mit Blick auf die nunmehrige Aussagebereitschaft der Evelyn E*****‑E***** betreffend den Vorwurf einer Vergewaltigung in der im Verfahren 10 Hv 163/11s des Landesgerichts für Strafsachen Graz am 15. Februar 2012 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 9 S 7 f) war die Staatsanwaltschaft Graz berechtigt, in Ansehung der von ihr mit Verfügung vom 5. Dezember 2011 gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellten Tat (ON 1 S 2 oben) die Fortführung des Verfahrens gegen den Angeklagten anzuordnen (ON 1 S 6 Mitte), weil damit neue Beweismittel (Nordmeyer, WK‑StPO § 193 Rz 25 und 34) bekannt wurden, die eine veränderte Beurteilung der Verdachtslage ermöglichten (§ 193 Abs 2 Z 2 StPO) und die Staatsanwaltschaft ihr diesbezügliches Verfolgungsrecht durch Stellung eines Antrags auf Verfolgung dieser in der Hauptverhandlung aufgekommenen, anderen Tat im Sinne des § 263 Abs 1 und 2 StPO (ON 9 S 9) nicht verloren hat (US 6; vgl dazu 12 Os 70/13f).

Gemäß § 263 Abs 4 StPO (in der seit 1. Jänner 2008 in Kraft befindlichen Fassung) muss der Ankläger binnen dreier Monate bei sonstigem Verlust des Verfolgungsrechts (anders die für den öffentlichen Ankläger geltende Rechtslage vor BGBl I 2007/93 [vgl RIS‑Justiz RS0098849]) nach § 209 Abs 1 StPO von der Verfolgung zurücktreten, die Anklage einbringen oder das Ermittlungsverfahren (durch Vornahme eines [nicht zwingend auch schon nach außen gedrungenen] Ermittlungsschritts) fortführen (Lewisch, WK‑StPO § 263 Rz 116 ff). Die mündliche Ausdehnung der Anklage in der Hauptverhandlung selbst, die fallbezogen bereits die Erklärung der Anordnung der Fortführung des Verfahrens (§ 193 Abs 2 Z 2 StPO) gegen Thomas E***** wegen § 201 Abs 1 StGB darstellt (vgl 12 Os 70/13f), ist ohne weitere Verfolgungsschritte keine für das spätere Verfahren wirksame Verfolgungshandlung (vgl RIS‑Justiz RS0119097).

Da der Staatsanwaltschaft Graz die selbständige Verfolgung des Thomas E***** wegen der nun gegenständlichen Tat mit seit 29. August 2012 rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 13. März 2012, GZ 10 Hv 163/11s‑25 (ON 12), gemäß § 263 Abs 2 StPO vorbehalten wurde, die erste darauf folgende Ermittlungshandlung in Form eines Antrags auf kontradiktorische Vernehmung des Opfers vom 24. Jänner 2013 aktenkundig ist und die dem Verfahren AZ 18 Hv 39/13t des Landesgerichts für Strafsachen Graz zugrunde liegende Anklageschrift am 14. Mai 2013 (ON 23) beim Landesgericht für Strafsachen Graz eingebracht wurde, leidet das Urteil an einem prozessuale Tatsachen betreffenden Feststellungsmangel (§ 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO; RIS‑Justiz RS0118545) hinsichtlich der Vornahme von in § 263 Abs 4 StPO genannten, den Verlust des Verfolgungsrechts der Staatsanwaltschaft hintanhaltenden Verfolgungshandlungen innerhalb der Fallfrist von drei Monaten (vgl US 3 zweiter Absatz iVm US 6 zweiter Absatz; ON 38 S 6 oben).

Mangels aktenkundiger Hinweise auf vor dem 24. Jänner 2013 (ON 1 S 6) erfolgte Ermittlungsschritte ist der Verlust des Verfolgungsrechts der Staatsanwaltschaft eingetreten. Der Schuldspruch des Angeklagten ist demgemäß mit (weder von ihm mit Nichtigkeitsbeschwerde relevierter noch im Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 3. April 2014, GZ 12 Os 148/13y‑4, amtswegig erörterter [12 Os 92/08h; vgl Schroll, WK‑StPO § 23 Rz 3 und Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 11, jeweils mwN]) ihm unzweifelhaft zum Nachteil gereichender Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO behaftet. Die Feststellung dieser Gesetzesverletzung war daher gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.

Einer Aufhebung der vom Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 26. August 2013 rechtslogisch abhängigen Entscheidungen bedurfte es nicht (RIS‑Justiz RS0100444).

Der Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft steht auch die im Sinne des Art 1 des 1. ZPMRK geschützte Position der Privatbeteiligten nicht entgegen, weil bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) im Strafverfahren stets der Schutz des Angeklagten prävaliert (RIS‑Justiz RS0124740 [insbesondere T3]; Ratz, WK‑StPO § 362 Rz 3).

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