Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
Die 1945 geborene Klägerin lebt in der Schweiz. Seit 1. 10. 2002 erhält sie von der beklagten Partei eine vorzeitige Alterspension wegen langer Versicherungsdauer. Daneben bezieht sie eine Rente aus der Schweiz. Gemäß schweizerischem Krankenversicherungsgesetz besteht eine Krankenversicherung bei der K***** Krankenversicherung. Seit Februar 2013 wird der Klägerin in der Schweiz eine Hilflosenentschädigung gewährt.
Mit Bescheid vom 13. 8. 2012 wies die beklagte Partei den Antrag auf Gewährung von (österreichischem) Pflegegeld mangels Zuständigkeit ab.
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung des Pflegegeldes zumindest der Stufe 3 ab Antragstellung. Die von ihr in der Schweiz bezogene Hilflosenentschädigung betrage monatlich 234 SF, was 192,29 EUR entspreche. Da bei ihr die Voraussetzungen für die Einstufung in die Pflegegeldstufe 3 vorlägen, wofür 442,90 EUR zustünden, erleide sie einen finanziellen Verlust von 250,61 EUR monatlich. Nach Art 7 VO (EG) 883/2004 dürfe es ihr als österreichischer Staatsbürgerin nicht zum Nachteil gereichen, dass sie ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt habe. Sie habe zuvor viele Jahre in Österreich gelebt und auch Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, sodass ihr das (österreichische) Pflegegeld nicht vorenthalten werden könne.
Die beklagte Partei beantragte Klageabweisung und wendete ein, die Exportverpflichtung des Art 7 der VO (EG) 883/2004 sei nur anzuwenden, soweit keine abweichenden Regeln vorliegen. Der Export von Geldleistungen bei Krankheit setze voraus, dass Österreich für die Leistungen bei Krankheit zuständig sei. Beziehe die Pflegebedürftige ‑ wie hier ‑ aber auch eine Rente nach dem Recht des Aufenthaltsstaats, sei ausschließlich die Krankenversicherung dieses Staats zur Leistung verpflichtet. Da die Klägerin in die Krankenversicherung ihres Wohnortstaats (der Schweiz) einbezogen sei, sei das österreichische Pflegegeld nicht zu exportieren.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. In rechtlicher Hinsicht ging es davon aus, Anspruch auf Pflegegeld bestehe nur bei gewöhnlichem Aufenthalt im Inland. Gemäß dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (FZA) seien die Vertragsparteien übereingekommen, im Bereich der Koordinierung der Systeme der Sicherheit unter anderem die Verordnung (EWG) 1408/71 in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung anzuwenden. Gemäß Art 27 dieser Verordnung habe ein Rentner, der nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedsstaaten, darunter den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats, in dessen Gebiet er wohne, zum Bezug von Renten berechtigt sei, nach den Rechtsvorschriften des letztgenannten Mitgliedsstaats Anspruch auf Leistungen bei Krankheit vom Träger des Wohnorts und zu dessen Lasten, als ob er nach den Rechtsvorschriften nur dieses Mitgliedsstaats zum Bezug einer Rente berechtigt wäre. Da die Klägerin eine schweizerische Rente beziehe und in der Schweiz krankenversichert sei, bestehe kein Anspruch auf Leistungen im Krankheitsfall aus der österreichischen Sozialversicherung. Auch nicht aufgrund jahrelanger Beitragszahlungen könne die Klägerin darauf vertrauen, einen Anspruch auf Pflegegeld zu haben.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Auch wenn nicht festgestellt worden sei, dass die Klägerin von 1961 bis 1992 Sozialversicherungsbeiträge in Österreich bezahlt habe, ergäbe sich diese Tatsache aus den vorgelegten Versicherungsdatenauszügen und sei von der beklagten Partei nie in Zweifel gezogen worden. Soweit sich die Klägerin auf die Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen als Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Pflegegeld berufe, sei ihr aber entgegenzuhalten, dass das österreichische Pflegegeld nicht aus den Krankenversicherungsbeiträgen der Versicherten finanziert werde, sondern aus dem Bundesbudget. Im Übrigen komme den Berufungsausführungen jedoch Berechtigung zu. Wenngleich der Anspruch auf Bundespflegegeld den gewöhnlichen Aufenthalt des Pflegebedürftigen im Inland voraussetze, habe diese Voraussetzung durch die Entscheidung des EuGH vom 8. 3. 2001, Rs C‑215/99, Jauch, eine wesentliche unionsrechtliche Einschränkung gefunden. Der EuGH habe in dieser Entscheidung klargestellt, dass das Pflegegeld als eine Geldleistung der Krankheit unabhängig davon auszuzahlen sei, in welchem Mitgliedsstaat ein Pflegebedürftiger wohne, der die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfülle. Als Konsequenz dieser Entscheidung sei das zunächst legitimierte Exportverbot für das österreichische Bundespflegegeld hinfällig geworden. Unter Hinweis auf die Rechtssache Jauch habe der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung 10 ObS 157/06w den Leistungsexport an einen polnischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Polen verneint, der sowohl eine österreichische als auch eine polnische Rente bezog und in der polnischen Krankenversicherung pflichtversichert war. Der Oberste Gerichtshof habe festgehalten, dass vor einem Leistungsexport zu prüfen sei, ob nicht ein anderer EU‑Mitgliedsstaat, EWR‑Staat bzw die Schweiz für die Gewährung der Leistung der Krankheit vorrangig zuständig sei. Treffe dies zu, sei der Export des Bundespflegegeldes nicht verpflichtend. In der Entscheidung vom 30. 6. 2011, C‑388/09, da Silva Martins hatte der EuGH die Frage zu klären, ob ein portugiesischer Staatsangehöriger, der überwiegend in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt war und deshalb dort einen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung erworben hat, deutsches Pflegegeld auch in Portugal beziehen könne, wenn er in der Pension den Wohnsitz dorthin zurück verlegt hat, sowohl eine deutsche als auch einen portugiesische Rente bezieht und in Portugal krankenversichert ist. Der EuGH sei ‑ gestützt auf Art 48 AEUV ‑ davon ausgegangen, dass der Kläger weiterhin eine der deutschen Pflegeversicherung entsprechende Geldleistung in Anspruch nehmen könne. Dies insbesondere dann, wenn in Portugal keine Geldleistung gewährt werden sollte, die das spezifische Risiko der Pflegebedürftigkeit betreffe. Zwar garantiere das Primärrecht der Union einem Versicherten nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedsstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit, insbesondere in Bezug auf Leistungen neutral sei. Der Zweck des Art 45 und 48a AEUV würde aber verfehlt, wenn Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, die Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren würden, die ihnen allein die Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats sicherten. Art 27 der Verordnung 1408/71 sei daher dahin auszulegen, dass ein Anspruch auf Leistungen bei Krankheit im eigentlichen Sinne im Wohnsitzmitgliedsstaat nicht zum Verlust eines Anspruchs führe, der zuvor zu Lasten eines anderen Mitgliedsstaats allein kraft dessen Rechtsvorschriften betreffend das Risiko der Pflegebedürftigkeit ausschließlich aufgrund von Versicherungszeiten eröffnet worden sei, die unter diesen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden seien. In der Entscheidung vom 12. 6. 2012, C‑611/10, C‑612/10, Hudzinski/Wawrzyniak habe der EuGH ausgesprochen, dass ein Mitgliedsstaat sich nicht auf die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaats für Angelegenheiten der sozialen Sicherheit berufen könne, um in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend tätigen auslandsansässigen Wanderarbeit-nehmern oder Selbstständigen, die bei ihm zur unbeschränkten Steuerpflicht optieren, einen Familienzuschuss zur Gänze deshalb zu versagen, weil vom Wohnsitzmitgliedsstaat der gesamten Familie ebenfalls Familiengeld gewährt werde. Für den vorliegenden Fall ergebe sich aus diesen Entscheidungen Folgendes: Anzuwenden sei aufgrund des Stichtags 1. 8. 2012 nicht mehr die Verordnung 1408/71, sondern gemäß Anhang 2 des Abkommens EG‑Schweiz (Beschluss Nr 1/2012 des Gemischten Ausschusses) die Verordnung (EG) 883/2004, die im Verhältnis zur Schweiz am 1. 4. 2012 in Kraft getreten sei. Heranzuziehen seien Art 23 und 29 der Verordnung (EG) 883/2004, wodurch sich aber keine maßgeblichen Änderungen ergäben. Auch unter Heranziehung der Zuständigkeitsregeln der VO (EG) 883/2004 bleibe es dabei, dass der Anspruch auf österreichisches Pflegegeld nicht allein dadurch ausgeschlossen werden könne, dass die Klägerin ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt habe. Ein unzuständiger Mitgliedsstaat könne nach Primärrecht den Anspruch nicht versagen, wenn nach nationalem Recht alle Voraussetzungen erfüllt seien. Es sei nicht strittig, dass die Klägerin als Bezieherin einer österreichischen Grundleistung in Österreich bei Erfüllung der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen (Pflegebedarf) jedenfalls Anspruch auf Pflegegeld hätte, läge ihr Wohnsitz nach wie vor in Österreich. Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung bestehe daher die österreichische Zuständigkeit im Ausmaß der Differenz zwischen der im Wohnsitzstaat bezogenen Leistung (der Schweizer Hilflosenentschädigung) und einer (allenfalls) höheren österreichischen Pflegeleistung. Damit erweise sich die Rechtssache als noch nicht spruchreif, weil die erforderlichen Feststellungen zur Beurteilung der (medizinischen) Voraussetzungen für den österreichischen Pflegegeldanspruch fehlten; weiters fehlten Feststellungen zu der in der Schweiz bezogenen Leistung.
Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, da eine Rechtsprechung zur Frage der Auslegung der Koordinierungsbestimmungen der Verordnung (EG) 883/2004 nach den Entscheidungen da Silva Martins und Hudzinski/Wawrzyniak fehle.
Dagegen richtet sich der Rekurs der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Ersturteil wiederherzustellen.
Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, der Oberste Gerichtshof möge dem Rekurs nicht Folge geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; er ist im Sinne einer Wiederherstellung des abweislichen Ersturteils auch berechtigt.
Die Rekurswerberin bringt vor, die Entscheidung in den Rechtssachen Hudzinski/Wawrzyniak sei auf den vorliegenden Fall nicht umlegbar. Diese Entscheidung habe Familienleistungen betroffen, während das Pflegegeld dem Versicherungsfall bei Krankheit zuzuordnen sei. Zudem habe der Europäische Gerichtshof auch darauf abgestellt, dass die polnischen Saisonarbeiter durch ihre Steuern zur Finanzierung der Leistungen beigetragen haben, sodass sie nicht ohne weiteres von deren Gewährung ausgeschlossen werden dürften. Dieser Aspekt sei auch in der Rechtssache da Silva Martins im Vordergrund gestanden. Es sei lediglich zum Ausdruck gebracht worden, dass nach Zulassung zur Weiterversicherung in der freiwilligen deutschen Pflegeversicherung trotz Wohnsitzes in Portugal kein Verlust des Anspruchs auf deutsches Pflegegeld eintreten dürfe, bloß weil der Versicherte im Ruhestand seinen Wohnsitz in sein ehemaliges Heimatland Portugal zurück verlegt habe. Auch diese Entscheidung sei für den vorliegenden Fall nicht aussagekräftig. Eine gegenteilige Schlussfolgerung würde Art 48 AEUV widersprechen, der eine Koordinierung und keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten vorsehe.
Die Klägerin hielt dem in ihrer Rekursbeantwortung entgegen, seit der Entscheidung in der Rechtssache Jauch sei das Pflegegeld ins Ausland zu exportieren. Nach den Entscheidungen da Silva Martins und Hudzinski/Wawrzyniak dürfe sie nicht schlechter gestellt werden als ein Arbeitnehmer, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedsstaat absolviert habe. Es bestehe eine österreichische Zuständigkeit im Ausmaß der Differenz zwischen österreichischem Pflegegeld und schweizerischer Hilflosenentschädigung. Sie habe einerseits Sozialversicherungsbeiträge entrichtet, andererseits unterlägen ihre Pensionsleistungen der Einkommenssteuer. Jedenfalls würde eine Ablehnung ihres Anspruchs eine Verschlechterung ihrer Position gegenüber einer in Österreich aufhältigen Arbeitnehmerin bedeuten.
Dazu wurde erwogen:
I.1. Zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits gilt das am 21. 6. 1999 abgeschlossene (bilaterale) Abkommen über die Freizügigkeit, ABl L 2002/114,6 (FZA), das mit Abschluss des Ratifizierungsverfahren am 1. 6. 2002 in Kraft getreten ist. Das Ziel des Abkommens ist die Gewährung des Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger und des Verbleibs im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien; dies auch für Personen, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben. Weitere Ziele sind die Nichtdiskriminierung in Bezug auf Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen sowie die Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen (Art 1 FZA). Art 8 FZA („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“) verweist auf Anhang II des Abkommens, in dem die anzuwendenden Rechtsvorschriften per Referenztechnik aufgelistet sind. Seit dem Inkrafttreten des Beschlusses 1/2012 des Gemischten Ausschusses mit 1. 4. 2012 sind dort in Abschnitt A Pkt 1 und Pkt 2 jeweils die VO (EG) 883/2004 und VO 987/2009 genannt. Seit dem 1. 4. 2012 ist somit die VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auch im Verhältnis zur Schweiz anwendbar. Weiters finden sich dort auch die Einträge in den Anhang der VO (EG) 883/2004 und 987/2009 (Zaglmayer in Spiegel, Kommentar zum Zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht2 Bd II, Assoziierungs-Abk Allg Teil Rz 71). Zur Hilflosenentschädigung ist festgehalten, dass sie nur an Personen ausbezahlt werden soll, die auch in der Schweiz wohnen; sie wird weiterhin als beitragsunabhängige Sonderleistung geführt (Zaglmayer in Spiegel, Kommentar zum Zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht2, Bd II, Assoziierungs-Abk Allg Teil Rz 76).
II.1 Zu den zur Stützung des Klagebegehrens in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen:
II.1.2 Die VO (EG) 883/2004 legt fest, welcher Mitgliedstaat bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zuständig ist. Es gilt der ‑ in Art 23 VO (EG) 883/2004 konkretisierte ‑ Grundsatz, dass nur die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats anzuwenden sind (Grundsatz der Einheitlichkeit des Systems der sozialen Sicherheit). Eine bestimmte Person soll somit nur dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, um eine Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, zu vermeiden (EuGH 30. 6. 2011, Rs C-388/09 da Silva Martins Rz 53 mwN). Die Vorschriften dieses Mitgliedstaats sind somit allein anwendbar, selbst wenn diese weniger günstig für die betroffenen Personen sind (EuGH 12. 6. 2012, Rs C‑611/10, C‑612/10 (Hudzinski/Wawrzyniak Rz 44). Gemäß Art 11 VO (EG) 883/2004 richtet sich das anzuwendende Recht entweder nach dem Beschäftigungsstaat oder nach dem Wohnsitzstaat.
II.1.3 Das Pflegegeld nach dem BPGG ist im Anwendungsbereich der Verordnung eindeutig als Leistung bei Krankheit zu betrachten (EuGH 8. 3. 2001, Rs C‑215/99, Jauch Slg 2001, I-01901). Es unterfällt als Geldleistung bei Krankheit den speziellen Zuständigkeitsvorschriften für die Leistungen bei Krankheit (Art 23 und 29 der VO [EG] 883/2004).
II.1.4 Rentner, die nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehreren Mitgliedstaaten, darunter denen des Wohnsitzstaats zum Bezug von Renten berechtigt sind („Doppelrentner“) und die nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats Anspruch auf Leistungen bei Krankheit haben, erhalten diese Leistungen bei Krankheit vom Träger des Wohnortstaats und zu dessen Lasten, als ob der Rentner nach den Rechtsvorschriften nur dieses Mitgliedstaats zum Bezug der Rente berechtigt wäre (Art 23 und 29 VO (EG) 883/2004; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld3 Rz 183 f). Diese Regelung bestimmt somit für Bezieher von Teilrenten aus mehreren Mitgliedstaaten (Doppel- oder Mehrfachrentner) das Wohnland als primären kollisionsrechtlichen Anknüpfungspunkt und den dort zuständigen Träger als ausschließlich und endgültig leistungszuständig und kostentragungspflichtig, sofern (auch) nach dessen Rechtsvorschriften ein Anspruch auf Leistungen im Falle von Krankheit besteht. Bezieher einer Pension sowohl des Wohnortstaats als auch eines anderen Mitgliedstaats sind daher lediglich der Krankenversicherung des Wohnortstaats zugeordnet, wenn der Pensionsbezug ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ im Wohnortstaat einen entsprechenden Leistungsanspruch eröffnet. Da die in der Schweiz wohnhafte Klägerin auch eine Rente nach Schweizer Recht bezieht, ist gemäß Art 23 und 29 der VO (EG) 883/2004 ausschließlich der schweizer Krankenversicherungsträger zur Leistungserbringung verpflichtet und scheidet aufgrund dieser Zuständigkeitsregelung ein Leistungsexport mangels Leistungszuständigkeit des österreichischen Trägers aus (10 ObS 157/06w, SSV-NF 20/72 zu Art 27 VO Nr 1408/71). Die Klägerin kann daher den von ihr begehrten Export des Pflegegeldes nicht direkt auf die Bestimmungen der VO (EG) 883/2004 stützen.
II.2.1 Unter Berufung auf Vorjudikatur hat der EuGH in den Rs C-611/10 und C-612/10 , Hudzinski und Wawrzyniak, Rz 41 mwN; Rz 45 ff, jedoch ausgesprochen, dass die Koordinierungsbestimmungen für Familienleistungen dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat, der nach diesen Vorschriften nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehren, allein nach seinem nationalem Recht einem Wanderarbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren. Demnach kann ein Mitgliedstaat einen Leistungsanspruch nicht deshalb verneinen, weil er nach Unionsrecht nicht zuständig ist, wenn der Anspruchswerber alle Anspruchsvoraussetzungen nach rein nationalem Recht erfüllt.
II.2.2 Auch wenn dieses Urteil Familienleistungen betrifft, sind die auf Vorjudikate gestützten Aussagen des EuGH angesichts ihrer allgemeinen Natur auch für die Kategorie „Leistung bei Krankheit“ anwendbar (RIS-Justiz RS0129521 [T2]). Unter der Voraussetzung, dass die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen nach § 3a Abs 1 BPGG erfüllt, stünde ihrem Anspruch auf Pflegegeld somit nicht entgegen, dass nach der VO (EG) 883/2004 die Schweiz der für Geldleistungen bei Krankheit zuständige Staat ist.
II.2.3 Die Klägerin hat aber schon deshalb keinen Anspruch auf Pflegegeld nach dem BPGG, weil sie ‑ wie für den Obersten Gerichtshof bindend festgestellt ist ‑ ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland hat. Dies wäre nach § 3a Abs 1 BPGG aber Voraussetzung für den Anspruch auf Pflegegeld nach Maßgabe der Bestimmungen des BPGG. Die Entscheidung des EuGH in den Rs C-611/10 und C-612/10 , Hudzinski und Wawrzyniak betrifft Zeiten der Auslandsarbeit der polnischen Anspruchswerber (auf Familienleistungen) in Deutschland, somit den Wohnsitzmitgliedsstaat und nicht den „Exportstaat“.
II.3 Allenfalls könnte ein Anspruch auf Export des Pflegegeldes auf Grund der Unionsbürgerschaft bestehen. So beruft sich die Klägerin auf die Entscheidung des EuGH in der Rs C‑388/09 da Silva Martins, in der ein Exportanspruch des (deutschen) Pflegegeldes nach Portugal mit der Begründung bejaht wurde, dass die Leistung von Beiträgen in die freiwillige Pflegeversicherung ohne Gegenleistungen (wegen der Wohnsitzverlegung) zu erhalten, gegen die Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger verstoße. Die Unionsbürgerrichtlinie und die damit verbundene Rechtsprechung des EuGH ist aber nicht Teil des FZA (Zaglmayer in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht2 Bd II, Assoziierungs-Abk AllgTeil Rz 81).
II.4 Art 8 des (bilateralen) Freizügigkeitsabkommens sieht nur eine Koordinierung und keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der EU und der Schweizerischen Eidgenossenschaft vor, sodass die materiellen und formellen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Vertragsparteien und folglich zwischen den Ansprüchen der dort Versicherten durch diese Bestimmung nicht berührt werden. Somit kann auch Art 8 des FZA der Klägerin nicht garantieren, dass ihr Umzug in die Schweiz hinsichtlich der sozialen Sicherheit, insbesondere in Bezug auf Leistungen bei Krankheit, neutral ist (vgl EuGH 16. 7. 2009, C‑208/07 Rs Chamier-Glisczinski Rz 85, 87).
II.5 Das (österreichische) Pflegegeld wird grundsätzlich aus dem Bundesbudget bestritten. Nach § 23 Abs 1 BPGG hat der Bund den Trägern der gesetzlichen Pensionsversicherung die nachgewiesenen Aufwendungen für das Pflegegeld zu ersetzen. Ein Ausnahme besteht lediglich, wenn Pflegegeld für einen Pflegebedarf geleistet wird, der durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit verursacht wurde(Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld3, Rz 205). Das Pflegegeld stellt somit eine Leistung des Bundes dar, die nicht durch Beiträge bedeckt wird (RIS-Justiz RS0102023). Seit 1. 1. 2012 haben zudem österreichische Staatsbürger ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG unter der Voraussetzung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland Anspruch auf Bundespflegegeld. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist daher nicht die Situation gegeben, dass sie in Österreich Beitragsleistungen zur Sozialversicherung erbracht hätte, denen nunmehr kein Anspruch auf Gegenleistung gegenübersteht. Ihrer Anregung, eine Vorabentscheidung des EuGH zur Frage einzuholen, ob ihr Anspruch auf Pflegegeld zustehe, weil sie von 1961 bis 1992 Sozialversicherungsbeiträge bezahlt habe, ist deshalb nicht nachzukommen. Zwar ist der EuGH auch in Bezug auf die Schweiz zuständig zu handeln, wenn eine Frage von einem nationalen Gericht eines EU-Mitgliedstaats vorgelegt wird (Zaglmayer in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht2 Bd II AssoziierungsAbk Allg Teil Rz 66). Der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens besteht aber in der Wahrung der gemeinschaftsrechtlichen Ordnung der Mitgliedsstaaten. Die Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens ist nur gegeben, wenn es sich um eine vorlagefähige Frage aus dem Gemeinschaftsrecht handelt. Fragen der Vereinbarkeit innerstaatlichen Rechts mit Gemeinschaftsrecht begründen ebenso wie die Auslegung nationalen Rechts die Unzulässigkeit des Ersuchens (RIS‑Justiz RS0075861 [T4]). Die Klägerin vermag gar nicht darzutun, bezüglich welcher (das Gemeinschaftsrecht betreffender) Fragen die Voraussetzungen für die Einleitung des beantragten Vorabentscheidungsverfahrens nach ihrer Ansicht gegeben wären.
Dem vom Landesgericht Salzburg zu AZ 11 Cgs 128/11x gestellten Vorabentscheidungsersuchen vom 15. 10. 2011 (Hermine Sax), lag insofern ein anderer Sachverhalt zugrunde, als in diesem Fall die ‑ eine österreichische und eine deutsche Rente ‑ beziehende Klägerin ihren Wohnsitz in Deutschland hatte und daher die Unionsbürgerrichtlinie zur Anwendung gelangte (Eine Vorabentscheidung ist infolge Todes der Klägerin nicht erfolgt).
II.6 Der Oberste Gerichtshof hat gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts durch Urteil in der Sache selbst zu erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist (RIS‑Justiz RS0043853 [T7]). Mangels einer tauglichen Anspruchsgrundlage war demnach in Stattgebung des Rekurses das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Klägerin beruht auf dem § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse, die einen ausnahmsweisen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht geltend gemacht und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.
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