OGH 8Ob40/14m

OGH8Ob40/14m30.10.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W***** S*****, vertreten durch Dr. Andreas König, Dr. Andreas Ermacora, Dr. Barbara Lässer, Dr. Christian Klotz, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Dr. A***** S*****, vertreten durch Dr. Johannes Margreiter, Rechtsanwalt in Hall in Tirol, wegen Feststellung, Einwilligung und Unterlassung (Revisionsinteresse 6.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 31. Jänner 2014, GZ 2 R 321/13i‑33, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 23. September 2013, GZ 18 C 138/11d‑28, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0080OB00040.14M.1030.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird dahingehend abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich seiner Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.054,42 EUR (darin 228,90 EUR USt und 681 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die Streitteile sind Grundnachbarn. Das vom Verfahren betroffene Grundstück der Beklagten, ursprünglich als Wegparzelle angelegt, hat die Form eines schmalen Streifens, der von der übrigen Liegenschaft der Beklagten über das landwirtschaftlich genutzte Grundstück des Klägers führt und an drei Seiten von diesem eingeschlossen ist. In der Natur ist die Wegparzelle der Beklagten ein Wiesenstreifen.

Die Beklagte und ihr verstorbener Ehemann erwarben ihre gesamte Liegenschaft im Jahre 1959. Schon seit dieser Zeit wurde bei der landwirtschaftlichen Bearbeitung des umliegenden Grundstücks auf die Wegparzelle keine Rücksicht genommen, sondern die Fläche sowohl vom Kläger selbst als auch seinen Rechtsvorgängern im Glauben, dazu berechtigt zu sein, als einheitliche Wiese bewirtschaftet, mit landwirtschaftlichen Geräten befahren und gemäht. Zwischen 1960 und der Mitte der 1980er Jahre erfolgte die Bewirtschaftung des Grundstücks des Klägers durch dessen Onkel, der gleichzeitig auch Pächter der Wegparzelle der Beklagten war. Noch bis zum Jahr 2001 traten die Beklagte und ihr Gatte der dargestellten Nutzung ihres Grundstücks nicht entgegen.

Nach einer Vermessung der Wegparzelle im Jahr 2001 errichtete die Beklagte ein Zaunprovisorium mit Eisenstehern und Baubändern, um die Grenzen ihres Grundstücks ersichtlich zu machen. In einem daraufhin zwischen den Streitteilen sowie dem Ehemann und Universalrechtsvorgänger der Beklagten geführten Vorverfahren (AZ 16 C 2025/02a des Erstgerichts) begehrte der Kläger die Entfernung des Zaunprovisoriums, und zwar mit der Begründung, es hindere ihn an der Ausübung seines durch Ersitzung erworbenen Überfahrts‑ und Mährechts. Das Erstgericht gab in diesem Vorverfahren mit Urteil vom 30. 6. 2004 dem Klagebegehren statt. In seiner Entscheidungsbegründung führte es aus, der Kläger und seine Rechtsvorgänger hätten durch eine mehr als 40 Jahre dauernde redliche Übung die Servitut des Überfahrens und Mähens der Wegparzelle ersessen (Beilage ./E). Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft.

In der nun vorliegenden Klage begehrte der Kläger die Feststellung und bücherliche Einverleibung der Dienstbarkeit des Überfahrens und Mähens der Wegparzelle zugunsten der jeweiligen Eigentümer des klägerischen Grundstücks, ferner die Unterlassung der Errichtung von mit einem Bauband versehenen Eisenstehern und jede ähnliche Störung der unter Punkt 1. des Urteilsspruchs genannten Dienstbarkeit.

Die Beklagte bestritt die Voraussetzungen für die behauptete Ersitzung. Der Kläger und dessen Rechtsvorgänger hätten gewusst, dass ihnen das Befahren der Wegparzelle nur bis auf Widerruf gestattet war. Eine Ersitzung von Weideservituten sei nach dem Tiroler Wald‑ und Weideservitutengesetz nicht möglich, jedenfalls könne ein derartiges Recht nur im Verwaltungsverfahren verfolgt werden.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Das vom Kläger konkret beanspruchte Servitutsrecht falle nicht unter den Regelungsgegenstand des Tiroler Wald‑ und Weideservitutengesetzes. Es handle sich um einen von den Gerichten zu entscheidenden zivilrechtlichen Anspruch. Der Kläger habe die Erfüllung der Ersitzungsvoraussetzungen nachgewiesen, darüber hinaus seien die wesentlichen Tatsachengrundlagen bereits im Vorverfahren bindend festgestellt worden.

Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Beklagten, das sich nur mehr gegen den Feststellungs‑ und Einverleibungsanspruch (Punkt 1. und 2. des Spruchs) richtete, Folge und änderte das Urteil des Erstgerichts im bekämpften Umfang im klagsabweisenden Sinn ab.

Die Jahrzehnte des festgestellten Pachtverhältnisses seien nicht in die Ersitzungszeit einzurechnen, weil für die Beklagtenseite nicht erkennbar gewesen sei, dass der Onkel des Klägers als Pächter beider Grundstücke durch sein Bewirtschaftungsverhalten nicht nur eigene Rechte ausüben wollte, sondern solche des Eigentümers des herrschenden Grundstücks. Die Rechtskraft des Urteils zu AZ 16 C 2025/02a des Erstgerichts stehe dieser Entscheidung nicht entgegen, weil sich die Frage der Ersitzung damals nur als Vorfrage im Rahmen der Beurteilung eines Beseitigungsanspruchs gestellt habe, außerdem liege nun eine wesentlich erweiterte Sachverhaltsgrundlage vor.

Über Antrag des Klägers erklärte das Berufungsgericht gemäß § 508 ZPO die ordentliche Revision nachträglich mit der Begründung für zulässig, die Abweisung des Begehrens auf Feststellung und Einverleibung der Dienstbarkeit könne zu Schwierigkeiten im Verständnis und bei der exekutiven Durchsetzung des in Rechtskraft erwachsenen Ausspruchs über das Unterlassungsbegehren führen.

In seiner Revision macht der Kläger in erster Linie geltend, die Abweisung seines Feststellungs- und Einverleibungsbegehrens stehe in unlösbarem innerem Widerspruch zum unangefochten geblieben stattgebenden Ausspruch über das Unterlassungsbegehren, das den Bestand der strittigen Dienstbarkeit voraussetze.

Darüber hinaus habe das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung die Bindungswirkung des Urteils des Erstgerichts zu AZ 16 C 2025/02a missachtet. Auch materiell sei die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts verfehlt, weil die für die Ersitzung einer Dienstbarkeit erforderliche Besitzausübung auch durch einen Pächter vermittelt werden könne.

Die Beklagte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts mit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum Umfang der Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile nicht vereinbar ist. Die Revision ist daher auch berechtigt.

1. Die Zulässigkeit des Rechtswegs unter dem Aspekt des Regelungsgegenstands des Tiroler Wald- und Weideservitutengesetzes wurde von den Vorinstanzen in den Entscheidungsgründen übereinstimmend bejaht, diese Prozessvoraussetzung ist daher einer Überprüfung im Revisionsverfahren entzogen (RIS‑Justiz RS0046249).

2. Die Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft einer Vorentscheidung für den Folgeprozess wird nach § 411 ZPO grundsätzlich durch den Urteilsspruch bestimmt. Sie erstreckt sich nach herrschender Auffassung so weit auch auf die Entscheidungsgründe einschließlich der Tatsachenfeststellungen, als sie zur Individualisierung des Urteilsspruchs notwendig sind (Klauser/Kodek ZPO14 § 411 ZPO E 65 mwN; RIS‑Justiz RS00112731; RS0041357). Sie erfasst jenes Tatsachenvorbringen, das zur Vervollständigung oder Entkräftung des rechtserzeugenden Sachverhalts diente, aus dem das erste Urteilsbegehren abgeleitet wurde (RIS‑Justiz RS0039843 [T3]).

Eine Bindungswirkung der Vorentscheidung ist dann anzunehmen, wenn sowohl die Identität der Parteien als auch des rechtserzeugenden Sachverhalts, verbunden mit notwendig gleicher rechtlicher Qualifikation, gegeben sind, aber an Stelle der inhaltlichen und wörtlichen Identität der Begehren ein im Gesetz gegründeter Sachzusammenhang zwischen beiden Begehren besteht. Ein solcher Zusammenhang ist anzunehmen, wenn die Entscheidung über den neuen Anspruch vom Inhalt der bereits rechtskräftig entschiedenen Streitsache abhängig ist, oder wenn das Begehren das begriffliche Gegenteil des rechtskräftig entschiedenen Anspruches darstellt (RIS‑Justiz RS0041572 [T1]).

Richtig ist, dass die Rechtsprechung eine Bindungswirkung nur an die im Vorprozess entschiedene Hauptfrage, nicht aber eine dort beurteilte Vorfrage annimmt (RIS‑Justiz RS0039843 [T19 ua]; RS0042554; s auch RS0127052). Damit ist für die Beklagte hier jedoch nichts gewonnen, weil sich das Rechtsschutzziel des Klägers im Vorprozess nicht auf ein obligatorisches Leistungsbegehren beschränkte, sondern eine auf Beiseitigung von Beeinträchtigungen der Ausübung der behaupteten Dienstbarkeit gerichtete Servitutenklage vorlag (RIS‑Justiz RS0012123; RS0012116). Die Entscheidung über den nunmehr zu beurteilenden Anspruch auf Verbücherung der auf den gleichen rechtserzeugenden Sachverhalt gegründeten Dienstbarkeit erfordert notwendig auch eine gleiche rechtliche Qualifikation.

3. Bereits der Verstoß des Berufungsgerichts gegen die Bindungswirkung des Urteils aus dem Vorprozess erfordert die Abänderung der angefochtenen Entscheidung im Sinne des Klägers. Mit dieser Abänderung wird aber gleichzeitig auch der vom Revisionswerber erblickte innere Widerspruch der Berufungsentscheidung im Sinne des § 477 Abs 1 Z 9 ZPO beseitigt, weshalb auf die dazu unterbreiteten Überlegungen mangels Entscheidungsrelevanz nicht mehr weiter einzugehen ist.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO. Die Bemessungsgrundlage beträgt für das Rechtsmittelverfahren nur mehr 6.000 EUR, sodass die verzeichneten Kosten entsprechend zu kürzen waren.

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