Spruch:
Die Beschlüsse des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien vom 15. Mai 2014, AZ 31 Ns 11/14w, und vom 18. Juni 2014, AZ 31 Ns 13/14i, verletzen § 9 Abs 1 ARHG iVm § 43 Abs 2 letzter Fall StPO.
Text
Gründe:
Mit Beschluss vom 21. Dezember 2012, GZ 313 HR 59/11s‑56, erklärte der zuständige Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Mag. B*****, die von der Russischen Föderation mit Note der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 21. Juni 2012, Nr 81/3-289-11 (ON 26), begehrte Auslieferung des Timur I***** zur Vollstreckung der mit ‑ in seiner Abwesenheit gefälltem ‑ Urteil des Rayonsgerichts Leningrad (St. Petersburg) der Stadt Kaliningrad vom 27. Oktober 2010 über den Genannten verhängten Freiheitsstrafe (von sechs Jahren „in einer Besserungskolonie mit strengem Regime“) für (nicht un‑)zulässig.
Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen erhobenen Beschwerde der betroffenen Person mit Beschluss vom 16. April 2013, AZ 22 Bs 39/13s (= ON 63), nicht Folge.
Dem Senat gehörten damals Dr. L***** (als Vorsitzender), Mag. G***** und Mag. S***** an.
Aufgrund einer von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (ON 72) sprach der Oberste Gerichtshof mit Urteil vom 28. Jänner 2014, GZ 14 Os 149/13p, 179/13z, 180/13x‑13 (ON 75) aus, dass die beiden Beschlüsse Art 3 Abs 1 des Zweiten Zusatzprotokolles zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen sowie Art 6 Abs 1 MRK verletzen, weil die Gerichte die Auslieferung für (nicht un‑)zulässig erklärten, obwohl die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation keine Zusicherung der effektiven Gewährleistung eines entsprechenden Verfahrenserneuerungsrechts enthielt. Die Beschlüsse wurden aufgehoben und dem Landesgericht für Strafsachen Wien eine neue Entscheidung aufgetragen.
Nachdem der ‑ schon im ersten Rechtsgang im Auslieferungsverfahren tätig gewesene ‑ Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Mag. B*****, über Antrag der Staatsanwaltschaft Wien (ON 1 nicht journalisiert) mit Beschluss vom 13. März 2014, GZ 313 HR 59/11s‑87, gemäß (richtig:) § 173 Abs 1 und 2 Z 1 StPO iVm § 29 ARHG die Auslieferungshaft über Timur I***** verhängt hatte, lehnte dieser den genannten Richter mit Eingabe vom 20. März 2014 wegen Ausschließung nach § 43 Abs 2 StPO ab (§ 44 Abs 3 StPO).
Der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien erachtete die Ablehnung mit der Begründung für „nicht gerechtfertigt“, dass gegenständlich weder ein Hauptverfahren geführt werde noch ein Urteil vorliege, sodass § 43 Abs 2 StPO nicht anwendbar sei (Beschluss vom 21. März 2014, AZ 001 Ns 24/14w [ON 90]).
Am 23. April 2014 führte daraufhin Mag. B***** eine Auslieferungsverhandlung durch (ON 104) und fasste den ‑ in der Folge hinsichtlich seiner Punkte 2 und 3 jeweils gesondert ausgefertigten ‑ Beschluss auf Fortsetzung der (zwischenzeitig mit Beschluss vom 24. März 2014 [ON 91] fortgesetzten) Auslieferungshaft (Punkt 2) und auf (nicht Un‑)Zulässigerklärung der Auslieferung der betroffenen Person an die russischen Behörden im Sinn des Auslieferungsbegehrens (Punkt 3).
Nach der Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichts Wien kam die Entscheidung über die dagegen ‑ unmittelbar nach Beschlussverkündung (ON 104 S 5) ‑ erhobenen Beschwerden des Timur I***** jeweils dessen Senat 22 zu, dem (unter anderem) Senatspräsident Dr. L***** (als Vorsitzender), Mag. G***** sowie ‑ hinsichtlich der Entscheidung über die Zulässigerklärung der Auslieferung als Ersatzmit-glied ‑ Mag. S***** weiterhin angehörten.
Aufgrund deren Anzeigen (§ 44 Abs 2 StPO) vom 13. und 15. Mai 2014 (AZ 31 Ns 11/14w zu 22 Bs 140/14w, betreffend die Beschwerde gegen die Fortsetzung der Auslieferungshaft) sowie vom 10. und 12. Juni 2014 (31 Ns 13/14i zu 22 Bs 164/14z, betreffend die Beschwerde gegen die Zulässigerklärung der Auslieferung) stellte der Präsident des Oberlandesgerichts Wien mit Beschlüssen vom 15. Mai 2014, AZ 31 Ns 11/14w (hinsichtlich Dr. L***** und Mag. G*****) sowie vom 18. Juni 2014, AZ 31 Ns 13/14i (erneut hinsichtlich Dr. L***** und Mag. G*****, erstmals hinsichtlich Mag. S*****) fest, dass die Genannten „vom gesamten Auslieferungsverfahren“ (schon aus der zweimaligen Beschlussfassung betreffend die Richter des Oberlandesgerichts Dr. L***** und Mag. G***** ersichtlich gemeint: von der jeweils konkret anstehenden Beschwerdeentscheidung, auf die die Ausgeschlossenheitsanzeigen bezogen waren) ausgeschlossen seien, weil sie im ersten Rechtsgang an der Beschwerdeentscheidung vom 16. April 2013 mitgewirkt hätten und § 43 Abs 2 StPO gemäß § 9 Abs 1 ARHG sinngemäß anzuwenden sei. Erstrichter, ebenso wie „Richter, deren Berufungserkenntnis“ kassiert und die „solcherart in ihrer Sachbeurteilung korrigiert worden sind“, seien ‑ nach der Intention des Gesetzgebers ‑ „von der neuen Verhandlung und Entscheidung in derselben Causa auszuschließen“.
Der Beschwerde der betroffenen Person gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. April 2014, soweit er die Fortsetzung der Auslieferungshaft betraf (ON 105), gab der nunmehr aus den Richtern Mag. H***** (als Vorsitzender) sowie Dr. A***** und Mag. N***** zusammengesetzte Senat des Oberlandesgerichts Wien mit Beschluss vom 21. Mai 2014, AZ 22 Bs 140/14w, nicht Folge und setzte die über Timur I***** verhängte Auslieferungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1 StPO iVm § 29 ARHG fort.
Der Beschwerde gegen den die Auslieferung für (nicht un‑)zulässig erklärenden Teil desselben Beschlusses wurde demgegenüber mit Beschluss vom 8. Juli 2014, AZ 22 Bs 164/14z, durch die Richter des Oberlandesgerichts Wien Mag. H***** (als Vorsitzender) sowie Dr. A***** und Dr. O***** Folge gegeben, der Beschluss insoweit gemäß § 89 Abs 2a Z 1 letzter Fall StPO aufgehoben und die Auslieferungssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. In seiner Begründung schloss sich das Beschwerdegericht der Ansicht seines Präsidenten sowie jener des Beschwerdeführers zur Anwendbarkeit des § 43 Abs 2 StPO im Auslieferungsverfahren an und führte aus, dass Mag. B***** ausgeschlossen sei, weil er auch den Beschluss über die Zulässigerklärung der Auslieferung gefasst hatte, der aufgrund einer (auch) dagegen von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 28. Jänner 2014, GZ 14 Os 149/13p, 179/13z, 180/13x‑13 (ON 75), aufgehoben worden war.
Mit Beschluss vom 10. Juli 2014 stellte der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien demgemäß die Ausgeschlossenheit des Mag. B***** nach § 43 Abs 2 letzter Fall StPO fest. Unabhängig davon wurde „der Akt 311 HR 170/14d“ mit Beschluss des Personalsenats dieses Gerichts vom 17. Juli 2014 dem „Richter Mag. Daniel S***** (GA 353 HR)“ zur weiteren Erledigung zugewiesen.
Dieser setzte mit Beschluss vom 18. Juli 2014, AZ 353 HR 244/14w, die über Timur I***** verhängte Auslieferungshaft aus dem bisher angenommenen Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 1 StPO iVm § 29 ARHG mit Wirksamkeit bis zum 18. September 2014 fort.
Über die dagegen erneut erhobene Beschwerde der betroffenen Person hat das Oberlandesgericht noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, stehen die Beschlüsse des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien vom 15. Mai 2014, AZ 31 Ns 11/14w, und vom 18. Juni 2014, AZ 31 Ns 13/14i, mit dem Gesetz nicht im Einklang:
§ 9 Abs 1 ARHG statuiert die subsidiäre Geltung der Strafprozessordnung für nach dem ARHG geführte Verfahren.
Solcherart sind grundsätzlich auch die die Ausschließung und Befangenheit betreffenden Bestimmungen des 4. Abschnitts des 2. Hauptstücks der Strafprozessordnung und demzufolge auch jene betreffend die Ausgeschlossenheit von Richtern nach § 43 StPO sinngemäß anzuwenden.
Vorauszuschicken ist, dass diese Bestimmungen in einem Spannungsverhältnis zum verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B‑VG) und zum ‑ dieses ausgestaltenden (11 Os 115/02, EvBl 2003/59, 269) ‑ Prinzip der festen Geschäftsverteilung (Art 87 Abs 3 B‑VG) stehen, weil die Wahrnehmung von Ausschließungsgründen (§ 43 StPO) regelmäßig eine Kompetenzverschiebung bewirkt. Es bedarf daher der (schon durch deren Ausnahmecharakter gebotenen) strikten Auslegung dieser Normen, um die ‑ neben der Unabsetzbarkeit und der Unversetzbarkeit (Art 88 Abs 2 B‑VG) ‑ wesentlichsten Säulen der richterlichen Unabhängigkeit (Art 87 Abs 1 B-VG) nicht auszuhöhlen (Lässig, WK‑StPO Vorbem §§ 43‑47 Rz 3 mwN).
§ 43 Abs 2 letzter Fall StPO knüpft die Ausschließung eines Richters vom ‑ gesamten ‑ (neuen) Hauptverfahren expressis verbis ausschließlich an den Umstand, dass dieser an einem Urteil mitgewirkt hat, das infolge eines Rechtsmittels oder eines Rechtsbehelfs (wozu auch die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes [§ 23 Abs 1 StPO] zählt) aufgehoben wurde; dies mit der Zielsetzung, Entscheidungsträger, die in ihrer Sachbeurteilung korrigiert worden sind, von der neuen Verhandlung und Entscheidung in derselben Causa auszuschließen (vgl dazu sowie zur analogen Anwendung auf Richter, deren Berufungserkenntnis aufgrund einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach § 292 letzter Satz StPO unter Anordnung der Verfahrenserneuerung aufgehoben wurde: Lässig, WK-StPO § 43 Rz 22, 26).
Nach der taxativen Aufzählung des § 35 Abs 1 StPO entscheiden die Gerichte im Haupt- und Rechtsmittelverfahren mit Urteil, das grundsätzlich (vgl zu den Ausnahmen Markel, WK-StPO § 35 Rz 3) nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu verkünden und auszufertigen ist, über Schuld, Strafe und privatrechtliche Ansprüche, über ein Verfahrenshindernis oder eine fehlende Prozessvoraussetzung, über die Anordnung freiheits-entziehender Maßnahmen, über selbständige Anträge nach § 441 StPO, über die im § 445 StPO genannten vermögensrechtlichen Anordnungen und über ihre Unzuständigkeit gemäß den §§ 261 und 488 Abs 3 StPO (im Übrigen ‑ soweit hier wesentlich ‑ mit Beschluss; § 86 StPO; § 35 Abs 2 StPO).
Demgegenüber entscheidet der Einzelrichter des Landesgerichts im Ermittlungsverfahren (vgl § 26 Abs 2 ARHG iVm § 31 Abs 1 StPO) nach § 31 Abs 1 ARHG ausschließlich über die Zulässigkeit der Auslieferung, über die auf der Grundlage des Auslieferungsersuchens und der vom ersuchenden Staat übermittelten Auslieferungsunterlagen nach dem formellen Prüfungsprinzip zu erkennen ist (§ 33 ARHG; vgl dazu Göth-Flemmich in WK² ARHG § 33 Rz 3 und 8; vgl zum Prüfungsmaßstab im
Auslieferungsverfahren auch 13 Os 15/12y; 14 Os 41/12d; RIS-Justiz RS0125233; Murschetz,
Auslieferung und Europäischer Haftbefehl 127 f und 292 ff), und damit gerade nicht über die Schuld eines Täters (oder einen ‑ schon begrifflich nicht in Frage kommenden ‑ anderen der in § 35 Abs 1 StPO genannten Prozessgegenstände).
Die Entscheidung ergeht demnach auch mit ‑ mittels Beschwerde bekämpfbarem ‑ Beschluss, der zudem nicht zwingend aufgrund öffentlicher mündlicher Verhandlung zu ergehen hat (§ 31 Abs 2 erster Satz iVm Abs 2 dritter Satz ARHG).
Mangels inhaltlicher Parallelität der jeweiligen richterlichen Tätigkeit scheidet sinngemäße Anwendung (§ 9 Abs 1 ARHG) der Bestimmung des § 43 Abs 2 letzter Fall StPO im Auslieferungsverfahren schon insoweit aufgrund deren Wortlauts aus. Wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt, kommt dazu, dass auch das Auslieferungsverfahren selbst, dessen Leitung der Staatsanwaltschaft obliegt (§ 26 Abs 1 ARHG), während dem „Gericht“ bloß punktuelle Kompetenzen zugewiesen werden, dem ‑ vom Gericht geleiteten ‑ Hauptverfahren nach der StPO nicht vergleichbar ist.
Aus der ‑ nur für den Fall der Wiederaufnahme maßgeblichen (ErläutRV 1523 BlgNR 24. GP 24) ‑ Anordnung des § 39 letzter Halbsatz ARHG (nach welcher § 43 Abs 2 StPO „sinngemäß“ anzuwenden sei) ist entgegen der in den angefochtenen Beschlüssen vertretenen Ansicht für die vorliegende Konstellation nichts zu gewinnen.
Die ‑ durch die Bejahung der Anwendbarkeit des § 43 Abs 2 StPO in den angefochtenen Beschlüssen bewirkte ‑ Gesetzesverletzung war festzustellen. Der Oberste Gerichtshof sah sich zu einer Ausübung des ihm zukommenden begünstigenden Ermessens (vgl § 292 sechster und siebter Satz StPO) nicht veranlasst (vgl dazu auch RIS‑Justiz RS0053573).
Mit dem ‑ wenn auch nicht vom gesetzlichen Richter gefassten ‑ Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 8. Juli 2014, AZ 22 Bs 164/14z, wurde nämlich die Entscheidung des Erstgerichts über die Zulässigerklärung der Auslieferung ohnehin in Stattgebung der dagegen erhobenen Beschwerde der betroffenen Person zu deren Gunsten aufgehoben, während die Haftfrage zwischenzeitig bereits durch den ‑ aufgrund des zitierten Beschlusses des Personalsenats zuständigen (vgl dazu RIS‑Justiz RS0053540; Art 87 Abs 3 B‑VG) ‑ Richter des Landesgerichts erneut überprüft worden ist (Beschluss vom 18. Juli 2014, AZ 353 HR 244/14w).
Zur Klarstellung bleibt anzumerken, dass sich die angefochtenen Beschlüsse des Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien ‑ wie bereits oben dargelegt ‑ entgegen deren Wortlaut der Sache nach (bloß) auf die jeweils konkret anstehende Beschwerdeentscheidung bezogen und damit nicht auf weitere Entscheidungen „fortwirken“, die das Oberlandesgericht in der gegenständlichen Auslieferungssache des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu treffen haben wird.
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