OGH 9ObA125/13t

OGH9ObA125/13t29.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin und Mag. Andreas Hach als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei J***** D*****, vertreten durch Mag. Franz Kellner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Ö***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Rainer Rienmüller, Rechtsanwalt in Wien, wegen Anfechtung einer Kündigung nach § 105 ArbVG, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. Juli 2013, GZ 7 Ra 68/13s‑17, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung

1. Der am 3. 1. 1957 geborene Kläger war seit 15. 3. 2012 bei der Beklagten, einem Verlag, als Anzeigenverkäufer zu einem Bruttomonatslohn von 3.150 EUR (14‑mal jährlich) und einer befristeten freiwilligen monatlichen Sonderprämie beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde von der Beklagten am 10. 10. 2012 zum 30. 11. 2012 aufgekündigt. Der Kläger ist verheiratet und für seine 18‑jährige studierende Tochter sorgepflichtig. Unter Berücksichtigung der fachlichen Qualifikationen und einschlägigen Erfahrungen, jedoch unter Ausblendung des 56. Lebensjahres des Klägers, ist für eine adäquate gleichwertige Vollzeitanstellung im Vertriebsbereich Werbung/Anzeigen bei annähernd gleichem Bruttoentgelt (42.000 bis 50.000 EUR Jahresbezug zuzüglich Prämienregelung) mit einer Postensuchdauer von vier Monaten, unter Berücksichtigung des Alters des Klägers mit einer Postensuchdauer von annähernd acht Monaten zu rechnen. Seit 1. 3. 2013 ist der Kläger wieder bei seinem vorherigen Arbeitgeber im Produktverkauf zu einem Bruttomonatslohn von 2.500 EUR (14‑mal jährlich) angestellt.

2. Der Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Kündigung mangels einer wesentlichen Beeinträchtigung seiner Interessen nicht sozialwidrig sei, hält der Kläger entgegen, dass ihm gemäß § 105 Abs 3b dritter Satz ArbVG die Berufung auf den besonderen Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer nach § 105 Abs 3b zweiter Satz ArbVG versagt sei, weil er nicht zwei Beschäftigungsjahre im Betrieb der Beklagten vorweisen könne. Anders als bei einem Arbeitnehmer, der im Zeitpunkt seiner Einstellung das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, könnten damit die wegen seines höheren Lebensalters zu erwartenden Schwierigkeiten bei seiner Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess nicht berücksichtigt werden. Die „schlagartige“ Verschlechterung des Kündigungsschutzes für zum Einstellungszeitpunkt über 50‑jährige Arbeitnehmer sei verfassungswidrig. Seine Bedenken sind jedoch nicht entscheidungsrelevant:

Rechtliche Beurteilung

3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat das Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Interessenbeeinträchtigung in § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG die Funktion, den Kündigungsschutz jenen Arbeitnehmern zu gewähren, die auf ihren Arbeitsplatz zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen sind (9 ObA 30/09s, 9 ObA 54/12z ua). Bei der Untersuchung der Frage, ob durch die Kündigung eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen eintritt, ist auf die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes und in diesem Zusammenhang auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Alter des Arbeitnehmers, den Verlust allfälliger dienstzeitabhängiger Ansprüche sowie die mit dem Arbeitsverhältnis verbundenen Vorteile abzustellen; darüber hinaus sind aber auch die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers einzubeziehen (vgl RIS‑Justiz RS0051703).

Im Hinblick auf die ‑ unter Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse -zumutbare Dauer der Arbeitslosigkeit wurde eine zu erwartende Arbeitslosigkeit in der Dauer von etwa neun, zehn oder zwölf Monaten als Beeinträchtigung wesentlicher Arbeitnehmerinteressen qualifiziert (zB 8 ObA 62/08p; s auch die Nw bei Wolligger in ZellKomm II 2 ArbVG § 105 Rz 152), bei prognostizierten sechs bis acht Monaten (9 ObA 145/99k) oder sechs bis zwölf Monaten und zu erwartendem Fix-Einkommen etwa in der bisherigen Größenordnung (9 ObA 58/06d) jedoch ebenso verneint wie bei innerhalb von neun bis zwölf Monaten ab Ausspruch der Kündigung erwartbarer, ungefähr gleich dotierter Vollzeitbeschäftigung (9 ObA 93/08d; dort bei gleichzeitigen Landwirtschaftseinkünften und 14 Monatsgehältern Abfertigung).

Bei Beurteilung der für eine wesentliche Interessenbeeinträchtigung maßgeblichen Einkommens-reduktion ist nicht auf starre Prozentsätze abzustellen: Mag eine Einkommenseinbuße von 30 % bei einem geringen Einkommen für die Wesentlichkeit der Interessenbeeinträchtigung ausschlaggebend sein, muss dies bei einem höheren Einkommen noch nicht der Fall sein (9 ObA 54/12x mwN). In Durchschnittsbetrachtung deuten jedoch erst Verdiensteinbußen von 20 % oder mehr auf gewichtige soziale Nachteile hin (Wolliger in ZellKomm aaO § 105 Rz 156 mwN).

4. Für den Kläger war unter Berücksichtigung seines Alters für die Erlangung einer adäquaten Beschäftigung eine Postensuchdauer von acht Monaten und angesichts der innerhalb der Kündigungsfrist zu gewährenden „Postensuchtage“ (§ 22 AngG) eine entsprechend kürzere Arbeitslosigkeit zu prognostizieren. Faktisch war es ihm möglich, innerhalb von drei Monaten nach Ende seines Dienstverhältnisses eine neue Beschäftigung zu erlangen, die mit einer Brutto‑Einkommensminderung von rund 20 % einhergeht. In Zusammenhalt damit, dass mit Ausnahme einer Sorgepflicht sonst keine nennenswerten Umstände für eine wesentliche Beeinträchtigung der Interessen des Klägers festgestellt wurden, verlässt die Beurteilung der Vorinstanzen, dass seine Kündigung nicht sozialwidrig gewesen sei, im Ergebnis aber nicht den Rahmen der dargelegten Rechtsprechung. Ein Korrekturbedarf zur Entscheidung des Berufungsgerichts besteht folglich nicht.

5. Ungeachtet dessen teilt der Oberste Gerichtshof die Bedenken des Klägers aus den schon vom Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte des § 105 Abs 3b letzter Satz ArbVG dargelegten Gründen nicht. Hervorzuheben ist, dass die Bestimmung den allgemeinen Kündigungsschutz für einen Arbeitnehmer, der im Anstellungszeitpunkt das 50. Lebensjahr erreicht hat, für die ersten zwei Beschäftigungsjahre nicht zur Gänze beseitigt (Gahleitner in Cerny/Gahleitner/Preiss/Schneller, Arbeitsverfassungsrecht4 § 105 Anm 58a; Drs, Allgemeiner Kündigungs‑ und Entlassungsschutz, in Resch, Kündigungs‑ und Entlassungsschutz [2012] 17 ff, 47). Vielmehr sollen bei einem solchen Arbeitnehmer die für ältere Arbeitnehmer besonders zu berücksichtigenden Kriterien des § 105 Abs 3b zweiter Satz ArbVG erst nach einem zweijährigen Beschäftigungszeitraum in die Prüfung der Sozialwidrigkeit einfließen, „um so die Begründung von Arbeitsverhältnissen mit solchen Arbeitnehmern zu fördern“ (RV 59 BlgNR XXII. GP 352 zu § 105 Abs 3 Z 2 vorletzter Satz ArbVG als Vorläuferbestimmung des § 105 Abs 3b letzter Satz ArbVG). Der in der Revision angestellte Vergleich übersieht, dass der leichteren Kündbarkeit eines zum Einstellungszeitpunkt über 50‑jährigen Arbeitnehmers damit auch die schwerere Eingliederbarkeit eines zum Einstellungszeitpunkt noch nicht 50‑jährigen Arbeitnehmers in den Arbeitsprozess ‑ sofern er bereits als älterer Arbeitnehmer anzusehen sein sollte ‑ gegenübersteht, weil ein Arbeitgeber aufgrund eines ohne Wartefrist greifenden verstärkten Kündigungsschutzes von der Einstellung eines solchen Arbeitnehmers auch abgehalten werden könnte.

6. Mangels einer entscheidungsrelevanten Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision zurückzuweisen.

Stichworte