OGH 6Ob149/13z

OGH6Ob149/13z24.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und widerbeklagten Partei Dr. M***** W*****, vertreten durch Dr. Margot Tonitz, Rechtsanwältin in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte und widerklagende Partei Mag. I***** W*****, vertreten durch Mag. Helmut Holzer ua Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, wegen Ehescheidung, über die Revision der klagenden und widerbeklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Berufungsgericht vom 6. Juni 2013, GZ 4 R 179/13k‑30, womit das Urteil des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 4. März 2013, GZ 4 C 47/11d‑26, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00149.13Z.1024.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahingehend abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte und widerklagende Partei ist schuldig, der klagenden und widerbeklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.085,09 EUR (darin 180,85 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 1.207,43 EUR (darin 124,07 EUR USt und 463 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die Streitteile haben am 22. 3. 1997 die Ehe geschlossen. Der Ehe entstammen drei Kinder. Bereits vor der Eheschließung gingen die Streitteile zeitweise geringschätzig miteinander um; eine herzliche und innige Beziehung führten sie seit jeher nicht. Die Haushaltsführung sowie Erziehung und Betreuung der Kinder übernahm überwiegend die Beklagte. Der Kläger verbrachte aufgrund seiner Tätigkeit als Arzt wenig Zeit zu Hause und verrichtete auch des Öfteren Nachtdienste. Bezüglich der Kindererziehung gab es keine gemeinsame Linie der Streitteile; auch haben sich die Kinder vom Kläger zunehmend distanziert. Gleichzeitig brachte sich der Kläger kontinuierlich weniger in die Kindererziehung ein.

Der Kläger ist Choleriker und verliert wegen Kleinigkeiten schnell die Fassung, wobei er dann regelmäßig aggressiv, ausfallend laut und ungehalten wird. Dieses Verhalten legt er außerhalb des Familienkreises nicht an den Tag. Es kommt vor, dass der Kläger Gegenstände herumwirft oder beim Autofahren die Geschwindigkeit ‑ ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Mitfahrer ‑ überschreitet. Sowohl der Kläger als auch die Beklagte beschimpften sich regelmäßig gegenseitig, wobei die Beklagte unter anderem den Kläger auch öffentlich verspottete. Der Kläger wiederum demütigte die Beklagte etwa, indem er Dinge auf den Boden warf und sie dann aufforderte, die so entstandene Verunreinigung wieder zu entfernen. Einmal sperrte der Kläger die Beklagte im Zuge eines Streits auf den Balkon aus.

Sowohl der Kläger als auch die Beklagte sind gegeneinander wiederholt wechselseitig tätlich geworden und haben sich körperlich angegriffen. So haben sie sich etwa gegenseitig mit Handtüchern attackiert, geohrfeigt, geschubst und mit Gegenständen beworfen. Die Beklagte hat den Kläger auch mit Gegenständen (zB Föhn) geschlagen bzw ihn bei einem Vorfall die Stiege hinuntergeschubst und ihm einen Topf nachgeworfen.

Die Beklagte hat sich im Zuge der Streitigkeiten mehrmals im Schlafzimmer eingesperrt, woraufhin der Kläger die Schlafzimmertüre aufgebrochen hat. Auch hat der Kläger die Beklagte des Öfteren am Benutzen des Pkw gehindert, indem er die Kennzeichen entfernte bzw die Luft aus den Reifen ließ. Zwischen dem Frühjahr 2009 und dem Frühjahr 2010 zog der Kläger schließlich in das Erdgeschoss des ehelichen Wohnhauses, um weiteren Streitigkeiten mit der Beklagten zu entgehen. Seitdem kochte die Beklagte nicht mehr für ihn, sodass er sich seine Mahlzeiten zum Teil im Freien auf einer Herdplatte zubereitete. Zeitweise hatte die Beklagte den Kläger auch von der Benutzung des Obergeschosses durch Montage einer sogenannten „Einbrecherkralle“ gänzlich ausgeschlossen. Dieser wiederum hat sich einmal mit einem Bohrer gewaltsam Zugang zum Obergeschoss verschafft.

Ausgehend von diesen Feststellungen schied das Erstgericht die Ehe aus dem gleichteiligen Verschulden beider Streitteile. Die Ehe sei mit dem Umzug des Klägers ins Erdgeschoss unheilbar zerrüttet gewesen. Danach gesetzte Eheverfehlungen seien nicht kausal und damit nicht mehr zu berücksichtigen. Die gegenseitige Geringschätzung der Streitteile hätte zu einem jahrelangen Erosionsprozess und dieser schließlich zum Scheitern der Ehe geführt. Dem Kläger seien Tätlichkeiten, Beschimpfungen sowie mangelnde Beteiligung am Haushalt und Kindererziehung anzulasten. Der Beklagten seien ebenfalls Tätlichkeiten und Beschimpfungen sowie Aufhetzen der Kinder gegen den Kläger und unleidliches Verhalten gegenüber dem Vater des Klägers vorzuwerfen. Ein sehr erheblicher Unterschied im Grad des Verschuldens liege nicht vor, weshalb vom gleichteiligen Verschulden auszugehen sei.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil dahin ab, dass es aussprach, dass den Kläger das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe. Für diesen Ausspruch reiche auch deutliches Überwiegen des Verschuldens eines Ehegatten. Es sei zu berücksichtigen, dass es bereits vor der Eheschließung zu Verfehlungen der Streitteile gekommen sei, weshalb diese subjektiv nicht als ehezerstörend empfunden worden seien. Dies entspreche vielmehr dem „normalen Zustand“ der Beziehung. Der Kläger habe aber darüber hinaus zusätzliche Verhaltensweisen gesetzt, die sein Verschulden am Scheitern der Ehe deutlich und erheblich schwerer erscheinen ließen als jenes der Beklagten. Dabei seien insbesondere die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft durch den Kläger, sein cholerisches Verhalten, die absichtlichen Demütigungen der Beklagten, seine augenscheinliche Gewaltbereitschaft beim Aufbrechen von Türen und die Hinderung der Beklagten an der Benutzung des Pkw hervorzuheben. Dadurch seien die entscheidenden Beiträge zur unheilbaren Ehezerrüttung geleistet worden.

Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil keine erheblichen Rechtsfragen zu beurteilen gewesen seien.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.

1. Die Verschuldenszumessung bei der Scheidung erfolgt nach den Umständen des Einzelfalls und kann in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage begründen (RIS‑Justiz RS0119414, RS0118125 [T1], RS0110837), sofern keine krasse Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz vorliegt (RIS‑Justiz RS0119414 [T1]). Ob die Heranziehung verziehener oder verfristeter Eheverfehlungen der Billigkeit entspricht, ist ebenso wie die Gewichtung des beiderseitigen Fehlverhaltens grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls, die mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht revisibel ist (RIS‑Justiz RS0056171 [T11]).

2.1. Bei beiderseitigem Verschulden muss ein sehr erheblicher Unterschied im Grad des Verschuldens gegeben sein, um ein überwiegendes Verschulden eines Teils annehmen zu können. Es ist dabei nicht nur zu berücksichtigen, wer mit der schuldhaften Zerrüttung der Ehe begonnen hat, sondern auch wer entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Ehe unheilbar zerrüttet wurde (RIS‑Justiz RS0057057). Ein überwiegendes Verschulden ist nur dort anzunehmen und auszusprechen, wo der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RIS‑Justiz RS0057821). Weil das überwiegende Verschulden, insbesondere bei den Scheidungsfolgen, dem alleinigen Verschulden gleich gelegt wird, ist ein strenger Maßstab anzulegen (RIS‑Justiz RS0057821 [T8]).

2.2. Anders als im allgemeinen Sprachgebrauch ist ein überwiegendes Verschulden daher nicht schon bei mehr als 50 %‑Überwiegen anzunehmen (RIS‑Justiz RS0057821 [T9]). Der Gesetzgeber hat dem Richter nicht die Pflicht auferlegt, hinsichtlich des Verschuldensausmaßes subtile Abwägungen vorzunehmen; nur das erheblich schwerere Verschulden eines Teils soll im Scheidungsurteil zum Ausdruck kommen (RIS‑Justiz RS0057325). Ein überwiegendes Verschulden eines der Ehegatten nach § 60 Abs 2 oder 3 EheG ist nur dann auszusprechen, wenn der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich und evident hervortritt und das mindere Verschulden fast völlig in den Hintergrund tritt (RIS‑Justiz RS0057325 [T4]).

3.1. Ausgehend von den Feststellungen der Vorinstanzen ist davon auszugehen, dass beiden Teilen Tätlichkeiten und Gewaltausübung vorzuwerfen sind. Jede körperliche Misshandlung steht aber außerhalb des Rahmens, in dem Reaktionshandlungen auf vorangegangenes ehewidriges Verhalten des anderen Ehegatten im Zusammenleben normal gesitteter Eheleute noch verständlich und entschuldbar sein können und nicht als schwere Eheverfehlungen zu werten wären (RIS‑Justiz RS0057020). Seit dem Eherechtsänderungsgesetz 1999 ist in § 49 Satz 2 EheG ausdrücklich die Zufügung körperlicher Gewalt als schwere Eheverfehlung angeführt. Bei ihr kommt es ‑ anders als beim ebenfalls genannten „schweren“ seelischen Leid ‑ auf die Schwere der Beeinträchtigung grundsätzlich nicht an. Die besondere Hervorhebung körperlicher Gewaltakte im Gesetzeswortlaut bedeutet, dass der Gesetzgeber in dieser Hinsicht einen objektiven, also insbesondere einen von der persönlichen Lebenssituation der Ehegatten unabhängigen Maßstab an das Verhalten der Ehegatten anlegen wollte. Jegliche Gewalt soll in Ehe und Familie prinzipiell verpönt sein. Das gewalttätige Verhalten eines Ehegatten kann daher auch nicht als bloß „milieubedingte Entgleisung“ entschuldigt werden (RIS‑Justiz RS0057020 [T2]).

3.2. Die festgestellten Tätlichkeiten stellen jedenfalls schwere Eheverfehlungen beider Streitteile dar. Aufgrund des besonderen Unwerts dieser Eheverfehlungen kann auch nicht erfolgreich eingewendet werden, dass diese dem „normalen Zustand“ der Beziehung entsprechen.

4.1. Sofern das Berufungsgericht die Auffassung vertritt, es sei bereits vor der Ehe zu beidseitigem Fehlverhalten gekommen, sodass dieses bei der Verschuldensabwägung mangels Kausalität für die Zerrüttung nicht zu berücksichtigen sei, ist dem entgegenzuhalten, dass sich aus den Feststellungen des Erstgerichts zwar ergibt, dass es zwischen den Streitteilen schon vor der Eheschließung wiederholt zu Streitigkeiten und einem geringschätzigen Umgang miteinander gekommen war; es wurde jedoch nicht festgestellt, dass diese Konflikte dasselbe Ausmaß wie die Auseinandersetzungen während der Ehe erreicht hätten. Hinweise dafür, dass es bereits vor der Eheschließung zu körperlichen Misshandlungen gekommen wäre, ergeben sich aus den Feststellungen nicht. Ebensowenig ist aus den Feststellungen ersichtlich, dass die Streitigkeiten bereits damals mit der gleichen Intensität geführt worden wären. Im Übrigen wäre, selbst wenn man ‑ abweichend von den Feststellungen ‑ davon ausginge, dass die Verfehlungen der Streitteile bereits vor der Eheschließung eine ähnliche Intensität erreicht hätten, zu berücksichtigen, dass die Zerrüttungswirkung einer Eheverfehlung nicht sofort eintreten muss, sondern sich auch erst allmählich und erst im Zusammenhang mit anderen Eheverfehlungen auswirken kann (RIS‑Justiz RS0056734).

4.2. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts kann daher der Umgang der Eheleute miteinander bei der Beurteilung des Verschuldens im Rahmen der hier gebotenen Gesamtschau nicht gänzlich ausgeblendet werden, zumal deren Zerrüttungswirkung nicht durch die Feststellungen widerlegt wird.

5.1. Auch wiederholte Beschimpfungen, bei denen es sich nicht um milieubedingte Entgleisungen handelt, stellen eine schwere Eheverfehlung dar (RIS‑Justiz RS0055652 [T1]).

5.2. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung kann keine Rede davon sein, dass das Verschulden der Beklagten fast völlig hinter jenes des Klägers zurücktreten würde, mag auch das Verschulden des Klägers etwas schwerer wiegen. Den vom Berufungsgericht für die Begründung des überwiegenden Verschuldens herangezogenen Verfehlungen des Klägers, insbesondere die Hinderung der Benutzung des Pkw durch die Beklagte oder die Anwendung von Sachgewalt, kommt dabei im Verhältnis zu den festgestellten groben Beschimpfungen unter Anwendung von körperlicher Gewalt gegen den Ehepartner nur untergeordnete Bedeutung zu. Ein bloß zahlenmäßiges Überwiegen der Eheverfehlungen des Klägers vermag zudem kein überwiegendes Verschulden zu begründen (vgl RIS‑Justiz RS0056171 [T8]).

6. Eheverfehlungen, die in den Zeitraum nach Eintritt der völligen Zerrüttung der Ehe fallen, spielen bei der Verschuldensabwägung keine entscheidende Rolle (RIS‑Justiz RS0057338). Eheverfehlungen nach Zerrüttung der Ehe sind vielmehr nur dann von Bedeutung, wenn sie der verletzte Ehegatte bei verständiger Würdigung noch als zerrüttend empfinden durfte oder eine Vertiefung der Zerrüttung durch diese Verfehlungen nicht ausgeschlossen werden kann (RIS‑Justiz RS0057338 [T7]). Demgegenüber wertete das Berufungsgericht ohne nähere Begründung Verhaltensweisen des Klägers nach der Zerrüttung der Ehe als (schwere) Eheverfehlungen, während es die Handlungen der Beklagten in diesem Zeitraum völlig unberücksichtigt lässt.

7. Zusammenfassend ist daher vom gleichteiligen Verschulden der Ehegatten auszugehen, sodass das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen war.

Aufgrund der Abänderung des Berufungsurteils war auch die Kostenentscheidung für das zweitinstanzliche Verfahren neu zu fassen. Diese sowie die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Dabei war jedoch für das Revisionsverfahren nur der einfache Einheitssatz zuzusprechen.

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