OGH 4Ob123/13m

OGH4Ob123/13m27.8.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Irina Schiffer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei M***** F*****, wegen Wiederaufnahme (Streitwert 35.000 EUR), über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 18. April 2013, GZ 2 R 33/13i‑8, mit welchem der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 8. Februar 2013, GZ 59 Cg 5/13f‑5, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Mit der am 18. 1. 2013 eingebrachten Klage begehrt die Klägerin die Wiederaufnahme des beim Erstgericht zu 59 Cg 66/10x geführten Verfahrens. Dort hatte sie geltend gemacht, dass der Beklagte entgegen einem vertraglichen Verbot Mitglieder eines von der Klägerin geführten Strukturvertriebs abgeworben habe. Das Erstgericht hatte eine Negativfeststellung zur behaupteten Abwerbung getroffen und die Klage auf dieser Grundlage abgewiesen. Das Urteil ist rechtskräftig.

Die Wiederaufnahmeklage stützt die Klägerin auf zwei Gruppen neuer Tatsachen und Beweismittel. Einerseits habe sie „erstmals“ durch eine am 7. 12. 2012 in einem anderen Verfahren erfolgte Zeugenaussage zweier ehemaliger Mitglieder des Strukturvertriebs - „in allen Einzelheiten erst durch die Zustellung des Verhandlungsprotokolls“ - erfahren, dass der Beklagte diese und zwei weitere Mitglieder im Zeitraum von Jänner bis April 2010 abgeworben habe. Andererseits habe ihr am 16. 1. 2013 ein anderes ehemaliges Mitglied des Strukturvertriebs mitgeteilt, dass der Beklagte im genannten Zeitraum noch weitere Personen abgeworben habe. An der verspäteten Geltendmachung treffe sie jeweils kein Verschulden.

Das Erstgericht wies die Klage als nicht zur Bestimmung einer Tagsatzung für die mündliche Verhandlung geeignet zurück. Die Klägerin treffe die Behauptungs- und Beweislast für fehlendes Verschulden iSv § 530 Abs 2 ZPO. Ein solches Verschulden könne auch darin liegen, dass die Partei nicht alle zumutbaren Erhebungen pflege, um die zur Dartuung ihres Prozessstandpunkts erforderlichen Zeugen und Beweismittel auszuforschen. Das sei hier der Fall, weil sich aus einer von der Klägerin im Vorverfahren vorgelegten Urkunde ergebe, dass die angeblich neu hervorgekommenen Zeugen hochrangige Positionen im Strukturvertrieb gehabt hätten. Diese Zeugen hätten daher schon im wiederaufzunehmenden Verfahren angeboten werden müssen.

Das Rekursgericht bestätigte die Zurückweisung der Klage in Bezug auf jene neuen Tatsachen und Beweismittel, von denen die Klägerin nach ihrem Vorbringen aufgrund der Aussage vom 7. 12. 2012 erfahren hatte. Insofern ließ es den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Im darüber hinausgehenden Umfang hob es die angefochtene Entscheidung auf und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund auf.

Von den erstgenannten Tatsachen und Beweismitteln habe die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen durch eine am 7. 12. 2012 erfolgte Einvernahme zweier Zeugen erfahren. Daher habe die vierwöchige Klagefrist iSv § 534 Abs 1 iVm Abs 2 Z 4 ZPO an diesem Tag begonnen. Die Fristenhemmung nach § 222 Abs 1 ZPO idF BBG 2011 sei auf Wiederaufnahmeklagen nicht anwendbar. Daher sei die hier erst am 18. 1. 2013 erhobene Klage in Bezug auf diese Tatsachen und Beweismittel verspätet. Auf die Zustellung des Verhandlungsprotokolls komme es dabei nicht an. Hingegen stütze die Klägerin ihr Vorbringen betreffend die weiteren Zeugen (gemeint offenkundig: und die von diesen bekundeten Tatsachen) auf ein Telefongespräch vom 16. 1. 2013. Insofern sei die Klage rechtzeitig erhoben. Zwar werde in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass das Wiederaufnahmeverfahren schon dann ohne Zurückweisung im Vorprüfungsverfahren fortzusetzen sei, wenn einer von mehreren Wiederaufnahmegründen „zutreffe“ (gemeint offenbar: schlüssig behauptet werde); eine Teilzurückweisung habe nicht zu erfolge. Diese Rechtsprechung betreffe allerdings nur die Tauglichkeit der Wiederaufnahmegründe als solche, auf die Verfristung sei sie nicht anzuwenden. Daher sei die Klage in Bezug auf den erstgenannten Tatsachenkomplex und die dazu geführten Beweismittel zurückzuweisen. Hingegen habe die Klägerin jene Tatsachen und Beweismittel, von denen sie nach ihrem Vorbringen am 16. 1. 2013 erfahren habe, rechtzeitig geltend gemacht. Dabei handle es sich jedenfalls um nova reperta iSv § 530 Abs 1 Z 7 ZPO. Die Frage, ob die Klägerin ein Verschulden an der verspäteten Geltendmachung treffe, sei nicht im Vorprüfungsverfahren, sondern erst im Aufhebungsverfahren zu klären. Insofern habe das Erstgericht daher das Verfahren fortzusetzen. Der Revisionsrekurs gegen den bestätigenden Teil der Rekursentscheidung sei zulässig, weil höchstgerichtliche Judikatur zur Frage fehle, ob bei teilweise verfristeten Wiederaufnahmegründen eine Teilzurückweisung zu erfolgen habe.

In ihrem Revisionsrekurs macht die Klägerin geltend, dass die Aussagen vom 7. 12. 2012 nur „vage Hinweise“ enthalten hätten; die genauen Abwerbevorgänge habe sie erst im Jänner 2013 ermitteln können. Sie habe schon in der Wiederaufnahmeklage behauptet, dass sie „nunmehr erstmalig“ Kenntnis von neuen Tatsachen erlangt habe; dies reiche für die Behauptung der Rechtzeitigkeit aus. Abgesehen davon sei § 222 ZPO zumindest analog auch auf Wiederaufnahmeklagen anzuwenden, sodass die Klage auch bei Beginn des Fristenlaufs am 7. 12. 2012 zur Gänze rechtzeitig gewesen wäre. Eine Teilzurückweisung komme nach den Entscheidungen 7 Ob 306/01b und 8 Ob 3/03d nicht in Betracht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist im Ergebnis nicht zulässig.

1. Die Klägerin hat jene neuen Tatsachen und Beweismittel, von denen sie nach ihrem eigenen Vorbringen in der Verhandlung vom 7. 12. 2012 erfahren hatte, verspätet geltend gemacht.

1.1. Die Wiederaufnahmeklage ist nach § 534 Abs 1 ZPO binnen einer Notfrist von vier Wochen zu erheben. Beim Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO beginnt die Frist mit jenem Tag, an dem die Partei imstande war, die ihr bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel bei Gericht vorzubringen. Dafür ist entscheidend, wann die Partei Kenntnis von den neuen Tatsachen und Beweismitteln erlangt. Absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, es genügt ein höherer Grad von Wahrscheinlichkeit, der objektiv gesehen die Wiederaufnahme rechtfertigt (4 Ob 157/85; RIS-Justiz RS0044790); der Kläger muss die neuen Beweismittel so weit kennen, dass er ihre Eignung für ein allfälliges Verfahren prüfen kann (7 Ob 730/78 = SZ 51/165; RIS-Justiz RS0044635). Dabei ist die Kenntnis des mit Prozessvollmacht ausgestatteten Parteienvertreters der Partei zuzurechnen (10 ObS 371/01h; RS0044790 [T2]). Stützt sich die Wiederaufnahme auf eine Aussage in einer gerichtlichen Verhandlung, bei der Vertreter der Partei anwesend waren, beginnt die Frist schon mit der Ablegung der Aussage, nicht erst mit der Übermittlung des Protokolls (9 ObA 235/91 = SZ 64/172; RIS-Justiz RS0044649).

1.2. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in der Wiederaufnahmeklage mehrfach vorgebracht, sie habe von den im Revisionsrekursverfahren strittigen neuen Tatsachen und Beweismitteln „erstmals“ durch Zeugenaussagen in einer am 7. 12. 2012 durchgeführten Verhandlung erfahren. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass (zumindest) ihr Rechtsvertreter bei dieser Verhandlung anwesend war; dies wird durch das von der Klägerin selbst vorgelegte Verhandlungsprotokoll bestätigt. Das Datum von dessen Zustellung ist daher unerheblich. Dass es in der Verhandlung nur „vage Hinweise“ gegeben habe, die Anlass für weitere Ermittlungen gewesen seien, hat die Klägerin in erster Instanz nicht behauptet; vielmehr hat sie dort unter (ausschließlichem) Hinweis auf die Zeugenaussage ein umfangreiches Sachvorbringen erstattet. Bei der Behauptung bloß „vager Hinweise“ - die im Übrigen auch im Widerspruch zum Inhalt des Protokolls steht - handelt es sich daher um eine unzulässige Neuerung.

1.3. Angesichts der Kenntnis neuer Tatsachen und Beweismittel, die die Klägerin am 7. 12. 2012 erlangt hatte, war sie jedenfalls am nächsten Werktag, hier also am 10. 1. 2013, imstande, die Klage einzubringen. Spätestens damit begann die vierwöchige Frist des § 534 Abs 1 ZPO. Die Fristenhemmung nach § 222 Abs 1 ZPO in der hier anwendbaren Fassung des BBG 2011 erfasst nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung nur Notfristen im Berufungs-, Revisions-, Rekurs- und Revisionsrekursverfahren, also Rechtsmittelfristen im eigentlichen Sinn. Das entspricht offenkundig auch dem Willen des Gesetzgebers: Nach den Gesetzesmaterialien (EB zur RV, 981 BlgNR 24. GP 85) sollte der Fristenlauf grundsätzlich nicht mehr durch (wenngleich zuletzt nicht mehr so bezeichnete) „Gerichtsferien“ gehemmt werden; davon sollten - „im Interesse des Anwaltsstandes“ - nur die Rechtsmittelfristen gegen erst- und zweitinstanzliche Entscheidungen ausgenommen sein. Dem Gesetzgeber musste in diesem Zusammenhang bewusst sein, dass es neben den in § 222 Abs 1 ZPO genannten Rechtsmitteln auch die ebenfalls fristgebundenen Klagen nach den §§ 529 ff ZPO gibt. Wenn er sie in der Bestimmung nicht anführte, kann dies nur dahin gedeutet werden, dass insofern die Neuregelung ‑ also der Entfall der Hemmung ‑ greifen sollte. Wegen des mit der Durchbrechung der Rechtskraft verbundenen Ausnahmecharakters dieser Klagen liegt darin auch keine unsachliche Differenzierung.

2. Damit ist die erst am 18. 1. 2013 erhobene Klage in Bezug auf jene Tatsachen und Beweismittel, von denen die Klägerin nach ihrem eigenem Bekunden durch die Zeugenaussage vom 7. 12. 2013 erfahren hatte, verspätet. Diese Tatsachen und Beweismittel können daher keinesfalls zur angestrebten Wiederaufnahme führen, und zwar unabhängig davon, ob im Vorverfahren eine Teilzurückweisung erfolgt oder nicht. Denn auch wenn die Teilzurückweisung unterbliebe, hätte sich das Aufhebungsverfahren auf jene Tatsachen und Beweismittel zu beschränken, von denen die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen erst am 16. 1. 2013 erfahren hatte. Der bloße Umstand, dass verfristete und nicht verfristete Wiederaufnahmegründe in einer gemeinsamen Klage geltend gemacht werden, kann nicht dazu führen, dass eine einmal eingetretene Verfristung wieder wegfällt. Da eine Verfristung der Natur der Sache nach keiner Verbesserung zugänglich ist, kann auch offen bleiben, ob eine solche Verbesserung bei inhaltlichen Mängeln einer Wiederaufnahmeklage überhaupt zulässig wäre (bejahend 4 Ob 542/95 = SZ 68/113, 7 Ob 306/01b; verneinend 1 Ob 194/06w, 3 Ob 121/09d).

3. Auf dieser Grundlage ist die Klägerin durch Teilzurückweisung nicht beschwert.

3.1. Richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 7 Ob 306/01b und 8 Ob 3/03d ausgesprochen hat, dass das Wiederaufnahmeverfahren schon dann ohne Zurückweisung im Vorprüfungsverfahren fortzusetzen sei, wenn auch nur einer von mehreren geltend gemachten Wiederaufnahmegründen schlüssig behauptet werde. In 7 Ob 306/01b wurde das mit einem nicht näher erläuterten Hinweis auf den Wortlaut (wohl) von § 530 Abs 1 Z 7 ZPO begründet; 8 Ob 3/03d beschränkt sich insofern auf ein Zitat der Vorentscheidung. Inhaltlich liegt diesen Entscheidungen offenkundig die Auffassung zugrunde, dass Mängel der Wiederaufnahmeklage verbessert werden können (vgl 7 Ob 306/01b). Muss in einem solchen Fall das Aufhebungsverfahren ohnehin durchgeführt werden, weil einer von mehreren Wiederaufnahmegründen schlüssig behauptet wurde, ist es aus verfahrensökonomischer Sicht sinnvoll, die für zulässig gehaltene Verbesserung anderer Gründe in diesem Aufhebungsverfahren vornehmen zu lassen, statt insofern schon im Vorprüfungsverfahren einen Verbesserungsauftrag zu erteilen.

3.2. Diese Wertung kann aber auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden, weil hier wegen der Verfristung eine Verbesserung von vornherein ausgeschlossen ist. Damit liegt die vom Rekursgericht vorgenommene Differenzierung zwischen der Verfristung und (anderen) Mängeln einer Wiederaufnahmeklage tatsächlich nahe. Eine nähere Prüfung kann hier aber unterbleiben. Denn Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Beschwer (4 Ob 576/94 = SZ 67/230; RIS-Justiz RS0041868, RS0006497; Zechner in Fasching/Konecny 2 Vor § 514 ZPO Rz 66 mwN). Sie liegt vor, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung beeinträchtigt wird, er also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RIS-Justiz RS0041746, RS0043815). Ein solches Rechtsschutzbedürfnis besteht hier nicht, weil die von der Klägerin angestrebte Abänderung der Rekursentscheidung aus den oben (Punkt 2) dargestellten Gründen nicht dazu führte, dass die aufgrund der Zeugenaussage vom 7. 12. 2012 bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel im Aufhebungsverfahren verwertet werden dürften. Vielmehr wären sie auch in diesem Fall wegen verspäteter Geltendmachung von vornherein nicht geeignet, die Wiederaufnahme zu begründen. Das diesbezügliche Vorbringen wäre daher inhaltlich nicht zu prüfen. Dass diese Beschränkung des Prozessstoffs in der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich ausgesprochen wurde, hat keinen Einfluss auf die materielle Rechtsstellung der Klägerin.

3.3. Auf ein allenfalls wiederaufgenommenes Verfahren wirkt sich die angefochtene Entscheidung ebenfalls nicht aus. Denn mit der Wiederaufnahme tritt das im Verfahren in den Stand vor Schluss der Verhandlung zurück (1 Ob 552/94); die Parteien sind weder an ihr Vorbringen im Vorprozess noch an die Schranken des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO gebunden (E. Kodek in Rechberger 3 § 540 Rz 2; Jelinek in Fasching/Konecny 2 § 541 ZPO Rz 18 ff; beide mwN). In einem erneuerten Verfahren wäre die Klägerin daher nicht gehindert, sich auch auf die im Revisionsrekursverfahren strittigen Tatsachen und Beweismittel zu stützen.

4. Aus diesen Gründen ist der Revisionsrekurs mangels materieller Beschwer der Klägerin zurückzuweisen. In Bezug auf die nicht vom Revisionsrekurs erfassten Tatsachen und Beweismittel kann der Oberste Gerichtshof die vom Rekursgericht (implizit) bejahte Frage, ob die Klägerin ein schlüssiges Vorbringen zum fehlenden Verschulden an der verspäteten Geltendmachung erstattet hat (vgl dazu zuletzt etwa 3 Ob 121/09d mwN), mangels Anfechtung nicht prüfen. Eine solche Anfechtung war hier wegen der Einseitigkeit des Vorprüfungsverfahrens von vornherein nicht möglich (E. Kodek in Rechberger 3 § 538 Rz 6; Jelinek in Fasching/Konecny 2 § 538 ZPO Rz 35; beide mwN). Der Beklagte ist an diese Beurteilung des Rekursgerichts aber nicht gebunden (Jelinek aaO mwN; vgl Judikat 61 neu = SZ 27/290; RIS-Justiz RS0039200 [T16]).

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