OGH 2Ob107/13v

OGH2Ob107/13v30.7.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und widerbeklagten Partei Mag. Vladimir S*****, geboren am *****, vertreten durch Mag. Birgit Brass, Rechtsanwältin in Villach, gegen die beklagte und widerklagende Partei Natascha S*****, geboren am *****, vertreten durch Dr. Karl‑Peter Hasch, Rechtsanwalt in Villach, wegen Ehescheidung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Berufungsgericht vom 21. Februar 2013, GZ 2 R 19/13s‑71, womit das Urteil des Bezirksgerichts Villach vom 24. September 2012, GZ 10 C 72/10i‑65, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden im Ausspruch über das Verschulden dahin abgeändert, dass die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

„Die zwischen den Streitteilen am 3. 11. 1995 vor dem Standesamt in Sofia, Bulgarien, geschlossene und zu Ehebuchnummer 030758 beurkundete Ehe wird aus gleichteiligem Verschulden geschieden.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 359,50 EUR bestimmten Barauslagen des Verfahrens erster und zweiter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei 149,33 EUR (darin enthalten 24,88 EUR USt) an Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die Streitteile haben am 3. 11. 1995 in Sofia in Bulgarien die Ehe geschlossen, die Beklagte war damals 25 Jahre alt, der Kläger 35. Die Streitteile haben sehr verschiedene Charaktere, der Kläger ist kommunikativ, dominant und bestimmend, die Beklagte dagegen sehr introvertiert, ängstlich und unterwürfig. Diese Unterschiede haben sich in der Folge auf das gesamte Eheleben ausgewirkt. So litt die Beklagte an einer Erbkrankheit, aufgrund derer sie vorerst keine Kinder bekommen wollte. Anlässlich einer gynäkologischen Untersuchung wurde auch festgestellt, dass sie auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen kann. Der Kläger bestand daraufhin auf einer künstlichen Befruchtung. Die Beklagte beugte sich letztlich dem Wunsch des Klägers und unterzog sich im Jahr 1996 einer künstlichen Befruchtung. Dabei erlitt sie eine Eileiterschwangerschaft, weshalb ein Eileiter entfernt werden musste. Auf Drängen des Klägers unternahm die Beklagte weitere Versuche. 2001 erlitt sie eine Entzündung des zweiten Eileiters, der ebenfalls operativ entfernt werden musste. Diese Eingriffe belasteten die Beklagte sehr, weshalb sie keinen vierten Versuch unternehmen wollte. Auf Drängen des Klägers besuchten die Streitteile daraufhin den Prediger ihrer Religionsgemeinschaft, wonach sich die Beklagte wiederum dem fortgesetzten Drängen des Klägers beugte. Dieser letzte Versuch künstlicher Befruchtung war auch erfolgreich. Am 30. 10. 2003 kam der Sohn N***** zur Welt, über dessen Geburt sich auch die Beklagte sehr freute. Bei den wiederholten stationären Aufenthalten der Beklagten im Zusammenhang mit den Eileiterschwangerschaften und deren operativen Entfernung begleitete der Kläger seine Frau und war sehr besorgt.

Die Beklagte litt bereits vor der Eheschließung an Depressionen, die Erkrankung wurde zunächst aber nicht diagnostiziert. Etwa im Jahr 2005 äußerte die Beklagte Selbstmordgedanken und suchte über Anraten ihrer Schwester ärztliche Hilfe, 2007/2008 wurde ihre depressive Erkrankung festgestellt.

Im Jahr 2001 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass es seiner in Bulgarien lebenden, rund 14 Jahre alten Tochter sehr schlecht gehe, sie habe die Schule abgebrochen und konsumiere Rauschgift. Er hatte den Wunsch, seine Tochter in den Haushalt der Streitteile zu übersiedeln. Die Beklagte war zwar gegen diese Übersiedlung, beugte sich aber auch hier dem Wunsch des Mannes.

Nach der Geburt des Sohnes führte die Beklagte den Haushalt. Etwa drei Jahre später begann sie einen Computer‑ bzw Buchhaltungskurs, gegen den sich der Kläger zuerst aussprach. In der Folge fing sie als Masseurin an, womit der Kläger einverstanden war und was er auch finanziell unterstützte.

Die Streitteile verfügten während der Ehe über ein gemeinsames Konto, auf das die Beklagte immer Zugriff hatte. Sie lebten sehr sparsam, was den gemeinsamen Vorstellungen entsprach. Obwohl die Beklagte freien Zugriff auf das Konto hatte, tätigte sie nur äußerst selten kleinere Einkäufe für sich selbst. Grund dafür war, dass der Kläger der Beklagten teils mit Worten, hauptsächlich aber durch Gesichtsausdruck und dominante Körperhaltung zu erkennen gab, dass solche persönlichen Einkäufe der Beklagten nicht erforderlich seien. Wenn die Beklagte solche Einkäufe machte, versteckte sie die Sachen aus Angst vor ihrem Mann bei ihrer Schwester.

Im Jahr 2007/2008 begann die Beklagte wegen ihrer Depressionen eine Therapie, durch die sie selbstbewusster wurde und ihr Selbstwertgefühl gesteigert wurde. So erklärte sie anlässlich eines gemeinsamen Wanderurlaubs im Oktober 2009 gegenüber dem Kläger in einem Restaurant erstmals, er solle sich sein Essen selbst holen. Der Kläger war davon überrascht. Dieses Erlebnis stellte erstmals auch eine Belastung in der Beziehung zu seiner Frau dar. Bis dahin gingen die Streitteile auch im Beisein von Bekannten und Verwandten sehr liebevoll miteinander um und führten nach außen hin eine perfekte Beziehung. Auch bei einem anschließenden Urlaub zu Silvester 2009/2010 verhielt sich die Beklagte gegenüber dem Kläger sehr ablehnend. Nach der Rückkehr kam es zu Streitigkeiten. Die Beklagte erklärte für den Kläger völlig überraschend, dass sie an Scheidung denke. Der Kläger litt massiv unter dieser für ihn plötzlichen Wesensänderung seiner Frau. Der Kläger versuchte die Beziehung zu seiner Frau und die Ehe zu retten und bat sie um Fortsetzung der Ehe. Die Beklagte wünschte jedoch eine solche Aufrechterhaltung nicht und fühlte sich durch diesen Wunsch des Klägers „genervt“. Im April 2010 kam es zu einem gemeinsamen Gespräch bei einem Mediator. Dabei erklärte die Beklagte, ihren Mann immer gehasst zu haben. Sie fühlte sich zuletzt auch von ihm abgestoßen.

Im Jahr 2009 lernte sie im Rahmen ihrer Massagetätigkeit einen Mann kennen. Aus dem beruflichen Kontakt entwickelte sich im Jahr 2010 eine engere Beziehung. Die Beklagte traf den Mann wiederholt privat, sie schätzte seine Zärtlichkeit und Sorge um ihre Person und sah den Kontakt auch als Bestätigung ihres gesteigerten Selbstwertgefühls.

Der Kläger begehrt die Scheidung der Ehe aus dem Alleinverschulden der Beklagten, weil sie eine ehewidrige Beziehung zu einem anderen Mann eingegangen sei. Sie verweigere den Geschlechtsverkehr, habe sich der Tochter des Klägers gegenüber lieblos verhalten und dem Kläger wiederholt erklärt, ihn nur aus Mitleid geheiratet zu haben und ihn zu hassen.

Die Beklagte warf dem Kläger auch in ihrer Widerklage vor, sich nur über sein Drängen einer künstlichen Befruchtung unterzogen zu haben, obwohl dies mit hoher körperlicher und psychischer Belastung für sie verbunden gewesen sei. Der Kläger habe jegliche Zuwendung und Beistand vermissen lassen und sie psychisch unter Druck gesetzt. Den Geschlechtsverkehr habe sie verweigert, weil der Kläger pornografische Seiten betrachtet habe. Überdies habe er seine Unterhaltspflicht verletzt und unterhalte eine (nicht erwiesene) ehewidrige Beziehung, sodass ihn das Alleinverschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe.

Die Parteien bestritten die gegenseitigen Vorwürfe.

Das Erstgericht schied die Ehe aus dem überwiegenden Verschulden der Beklagten.

Das Berufungsgericht änderte diesen Ausspruch in das Alleinverschulden der Beklagten ab.

Gemäß § 57 Abs 1 erster Satz EheG erlösche das Recht auf Scheidung wegen Verschuldens, wenn der Ehegatte nicht binnen sechs Monaten Klage erhebe. Betrachte man auch nur die unbekämpften Feststellungen unter diesem Aspekt, zeige sich, dass dem Kläger, mögen ihm auch Verhaltensweisen in der Vergangenheit anzulasten sein, in den letzten sechs Monaten vor Zerrüttung der Ehe, die mit Mai 2010 anzunehmen sei, keinerlei ehewidriges Verhalten mehr gesetzt habe, wohingegen die Beklagte eine ehewidrige Beziehung zu einem anderen Mann unterhalten, dem Beklagten sexuelle Kontakte verweigert und anlässlich des Gesprächs beim Mediator im April 2010 erklärt habe, den Kläger schon immer gehasst zu haben. Sie habe durch ihr Ausbrechen aus der Ehe auch deren endgültige Zerrüttung herbeigeführt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das überwiegende Verschulden des Klägers in eventu gleichteiliges Verschulden, auszusprechen. Weiters wird in eventu ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der Revision als unzulässig, in eventu ihr nicht Folge zu geben, weiters wird in eventu ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist, sie ist auch teilweise berechtigt.

1. Zwar erfolgt die Verschuldenszumessung bei der Scheidung nach den Umständen des Einzelfalls, sodass damit in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage begründet wird (RIS‑Justiz RS0119414; RS0118125).

2. Nach der Judikatur (RIS‑Justiz RS0057358) kann aber die Berücksichtigung verjährter und verziehener Eheverfehlungen zur Verschiebung des Grades des Verschuldens führen. Solche Eheverfehlungen sind nur grundsätzlich geringer zu bewerten, je länger sie zurückliegen. Auch frühere Eheverfehlungen sind daher in die Gesamtabwägung einzubeziehen. Nach § 57 EheG verfristete Eheverfehlungen können noch zur Unterstützung eines auf andere, nicht verfristete Eheverfehlungen gestützten Scheidungsbegehrens herangezogen werden, wobei diese neuen Eheverfehlungen zwar nicht vollkommen belanglos sein dürfen, für sich allein aber auch für eine Scheidung nicht ausreichen müssen. Es genügt vielmehr, dass alle Eheverfehlungen insgesamt schwer sind und einen Scheidungsgrund bilden ( Aichhorn in Gitschthaler/Höllwerth , Ehe‑ und Partnerschaftsrecht, § 57 EheG Rz 8 mwN; vgl Koch in KBB³ § 57 EheG Rz 1).

3. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann hier keineswegs gesagt werden, dass der Kläger in den letzten sechs Monaten vor Zerrüttung der Ehe keine Eheverfehlungen gesetzt hätte. Geht man mit dem Berufungsgericht von einer endgültigen Zerrüttung der Ehe im Frühjahr 2010 aus, ist zu konstatieren, dass der Kläger die im Oktober 2009 beginnenden Versuche der Beklagten, ihre unterwürfige Disposition aufgrund des im Rahmen der Therapie gesteigerten Selbstwertgefühls mehr in Richtung einer ‑ gesetzlich verankerten ‑ partnerschaftlichen Ausrichtung einer Ehe zu verändern, nicht akzeptierte und als Belastung der Beziehung zu seiner Frau ansah, was zu Streitigkeiten führte.

4. Betrachtet man dieses Verhalten im Zusammenhang mit dem sonstigen extrem dominierenden Verhalten des Klägers, das einerseits so weit ging, die körperliche Integrität der Beklagten im Zusammenhang mit den massiv von ihm beeinflussten Versuchen der künstlichen Befruchtung hintanzustellen ‑ auch wenn dies letztendlich zu der auch von der Beklagten begrüßten Geburt des gemeinsamen Sohnes führte ‑ und das andererseits seinen signifikanten Ausdruck darin fand, dass die Beklagte sich nicht getraute, selbst kleinere persönliche Einkäufe in die gemeinsame Wohnung zu bringen, kann dieses Verhalten insgesamt nicht außer Betracht bleiben.

Hingegen hat die Beklagte eine ehewidrige Beziehung unterhalten und relativ überraschend und abrupt auf die Beendigung der Ehe gedrängt, ohne ihr eine Fortsetzungschance zu geben.

Ein überwiegendes Verschulden einer Seite ist nach der ständigen Judikatur aber nur dann auszusprechen, wenn es erheblich schwerer wiegt als das des anderen (RIS‑Justiz RS0057858), der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RIS‑Justiz RS0057821) und das Verhalten der anderen Seite dagegen eher zu vernachlässigen ist ( Koch in KBB³ § 60 EheG Rz 4).

Das Verhalten des Klägers kann hier aber nicht in diesem Sinn vernachlässigt werden, weshalb in Abänderung der vorinstanzlichen Entscheidungen das gleichteilige Verschulden an der Scheidung der Ehe auszusprechen war.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 1 (§ 50) ZPO. Die Pauschalgebühr im Scheidungsverfahren beträgt gemäß Anm 6 zu TP 2 GGG für das Verfahren zweiter Instanz 310 EUR.

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