Spruch:
In der Strafsache AZ 17 U 334/10x des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien verletzen das Gesetz:
1./ das Unterbleiben der Wiederholung der am 18. Februar 2011 vertagten Hauptverhandlung in der Verhandlung am 26. Juli 2011 § 276a zweiter Satz StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;
2./ der in der Hauptverhandlung am 26. Juli 2011 erfolgte Vortrag des erheblichen Inhalts
a./ des schriftlichen psychiatrisch-neurologischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. Georg P***** (ON 11) § 252 Abs 1 Z 4 und Abs 2a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;
b./ des Akts AZ 11 U 286/08s des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien, und damit eines gegen die Angeklagte früher ergangenen Straferkenntnisses § 252 Abs 2 und Abs 2a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;
c./ der in den polizeilichen Berichten der Polizeiinspektionen enthaltenen Protokolle über die Vernehmungen der Renate M***** als Beschuldigte (ON 2, ON 5 und ON 14) und des ihre gerichtliche Vernehmung umfassenden Protokolls über die Hauptverhandlung am 18. Februar 2011 (ON 9) § 252 Abs 2a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;
3./ das Urteil vom 26. Juli 2011 § 258 Abs 1 zweiter Satz StPO iVm § 447 StPO sowie § 29 StGB.
Dieses Urteil sowie der unter einem gefasste Beschluss auf Widerruf der zu AZ 11 U 286/08s des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien gewährten bedingten Strafnachsicht werden aufgehoben und die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien verwiesen.
Text
Gründe:
Im Verfahren gegen Renate M***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 17 U 334/10x des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien, wurde die Hauptverhandlung am 18. Februar 2011 ‑ nach Vernehmung der Angeklagten zu den mit Strafanträgen vom 4. und 15. November 2010 (ON 3 und 6) gegen sie erhobenen Vorwürfen und Anhörung zum Antrag der Anklagebehörde auf Widerruf der zu AZ 11 U 286/08s des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien gewährten bedingten Strafnachsicht ‑ zur Einholung eines „neurologisch-psychologischen“ Gutachtens auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 9).
Nach Einlangen des Sachverständigengutachtens (ON 11) und Einbringung eines weiteren Strafantrags gegen die Genannte wegen des Vorwurfs des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB (ON 15), zu dem sie als Beschuldigte vernommen worden war (ON 14 S 3 f), wurde für den 26. Juli 2011 eine Hauptverhandlung anberaumt, zu der die Angeklagte trotz eigenhändiger Übernahme der Ladung (wie auch einer unter einem zugestellten Ausfertigung des Gutachtens sowie des Strafantrags ON 15; ON 1 S 4 f) nicht erschien.
Im Protokoll über die sodann in Abwesenheit der Renate M***** durchgeführte Hauptverhandlung wurde festgehalten: „Einverständlich wird“ auf eine „Neudurchführung des Verfahrens wegen Überschreitung der Zweimonatsfrist gemäß § 276a StPO verzichtet“. „Aus den Aktenbestandteilen werden die wesentlichen Feststellungen getroffen, insbesondere aus den polizeilichen Anzeigen, der eingeholten Strafregisterauskunft, dem psychiatrisch-neurologischen Gutachten von Dr. Georg P***** ‑ ON 11, dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 18. 2. 2011 ‑ ON 9 und dem angeschlossenen hg. Beiakt 11 U 286/08s.“
Renate M***** wurde mit in Rechtskraft erwachsenem Abwesenheitsurteil vom 26. Juli 2011, GZ 17 U 334/10x-19, des „dreimal“ begangenen Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Geldstrafe verurteilt. Mit unter einem gefassten Beschluss wurde zudem die zu AZ 11 U 286/08s des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat sie in Wien am 1. und 8. Oktober 2010 sowie am 2. April 2011 mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz in drei Fällen Gewahrsamsträgern verschiedener im Urteil genannter Unternehmen ein Heft, eine Sonnenbrille und Lebensmittel wegzunehmen versucht.
Die Feststellungen gründete das Erstgericht auf die Berichte der Polizei, die „objektiv“ geständige Einlassung der Angeklagten, die sich allerdings auf ihre angebliche Kleptomanie berief, sowie das ‑ ihre Zurechnungsfähigkeit bejahende ‑ Gutachten des Sachverständigen Dr. Georg P*****. Bei der Strafbemessung wertete es (auch) „das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen“ als erschwerend.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur
Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen die beschriebene Vorgangsweise des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien sowie das Urteil vom 26. Juli 2011 (ON 19) mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Vorauszuschicken ist, dass die Bestimmungen des 14. Hauptstücks der StPO, also jene über die Hauptverhandlung und das Urteil im schöffengerichtlichen Verfahren, auch für die Verhandlung vor dem Bezirksgericht gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).
1. Nach § 276a StPO ist die Fortsetzung einer vertagten Verhandlung nur zulässig, wenn seit der Vertagung nicht mehr als zwei Monate verstrichen sind oder beide Teile auf die Wiederholung wegen Überschreitung der Frist von zwei Monaten verzichten. Diese Voraussetzungen lagen in Anbetracht des Termins der vorangegangenen Hauptverhandlung (am 18. Februar 2011) und der ‑ entgegen der Protokollierung eines „einverständlichen Verzichts“ (ON 17 S 3) ‑ fehlenden Zustimmung der in jener vom 26. Juli 2011 abwesenden Angeklagten (vgl dazu 11 Os 30/11p; Danek, WK-StPO § 276a Rz 8) nicht vor, weshalb die Verhandlung am 26. Juli 2011 hätte wiederholt werden müssen.
2. Aus dem Protokoll über die Hauptverhandlung am 26. Juli 2011 ist mit Blick auf die oben zitierte Formulierung weiters ersichtlich, dass der wesentliche Inhalt des Sachverständigengutachtens, des Akts AZ 11 U 286/08s samt dem in diesem Verfahren gegen die Angeklagte ergangenen Straferkenntnis, sowie der ‑ Protokolle über die Vernehmung der Angeklagten enthaltenden ‑ Polizeiberichte (ON 2, ON 5 und ON 14) und des ihre gerichtliche Vernehmung umfassenden Hauptverhandlungsprotokolls vom 18. Februar 2011 vom Richter zusammenfassend vorgetragen wurde.
Gutachten von Sachverständigen dürfen in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 2 und 4 StPO genannten Fällen verlesen oder vorgeführt werden (vgl dazu Ratz, WK-StPO § 281 Rz 228).
Gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse müssen demgegenüber ‑ ebenso wie die Anzeigen und Berichte der Polizei über ihre Erhebungen (RIS-Justiz RS0098456) ‑ nach § 252 Abs 2 StPO in der Hauptverhandlung vorgelesen werden.
Protokolle über frühere Aussagen des Angeklagten kann der Vorsitzende nach § 245 Abs 1 dritter Satz StPO (soweit hier wesentlich) im Fall einer ‑ mit dem Nichterscheinen zur Hauptverhandlung gleichzusetzenden ‑ Antwortverweigerung ganz oder teilweise vorlesen.
In Bezug auf die Expertise des Sachverständigen steht eine Vorführermächtigung nach § 252 Abs 1 Z 2 StPO (mangels dessen Vernehmung in der Hauptverhandlung) nicht in Rede. Aus dem Nichterscheinen der Angeklagten zur Hauptverhandlung am 26. Juli 2011 ist deren Einverständnis mit einer diesbezüglichen Verlesung oder Vorführung im Sinn der Z 4 nicht abzuleiten.
Die durch §
252 Abs 2a StPO ermöglichte Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach § 252 Abs 1 und Abs 2
StPO (vgl § 258 Abs 1
StPO) zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts durch den die Verhandlung leitenden Richter ist (unter anderem) ebenso an die Zustimmung auch der Angeklagten gebunden, die in deren Fernbleiben von der Hauptverhandlung gleichfalls nicht erblickt werden kann (vgl zum Ganzen RIS-Justiz RS0117012; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 234; Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 13, Kirchbacher, WK-
StPO § 252 Rz 103, 134; ErläutRV 679 BlgNR 22. GP 13 f).
Demnach entsprach es nicht dem Gesetz (§ 252 Abs 1 Z 4 und Abs 2a iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO), das Sachverständigengutachten zu verlesen und von dessen Verlesung und jener des früher gegen die Angeklagte ergangenen Straferkenntnisses zugunsten einer resümierenden Darstellung abzusehen.
§ 252 Abs 2a StPO bezieht sich nach dessen Wortlaut zwar nicht ausdrücklich auch auf eine Vorlesung nach § 245 Abs 1 vierter Satz StPO, gleichwohl erweist sich diese Bestimmung schon wegen der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller zulässigen Beweismittel (§ 258 Abs 2 StPO), zu denen auch die Einlassung des Angeklagten zählt (Fabrizy, StPO11 § 245 Rz 1 mwN), einer Ergänzung durch analoge Ausdehnung der Verzichtsmöglichkeit des § 252 Abs 2a StPO eben auch auf die in § 245 Abs 1 StPO bezeichneten Beweismittel als zugänglich. Dass ein resümierender Vortrag des Vorsitzenden dem Begriff der Verlesung (§ 258 Abs 1 zweiter Satz StPO) genügen kann, wurde in der Rechtsprechung schon vor Einführung des § 252 Abs 2a StPO durch die Strafprozessnovelle 2005 (BGBl I 2004/164) anerkannt (Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 132). Aus den dort genannten Gründen (vgl grundlegend 14 Os 129/98) und dem aus den Materialien hervorgehenden Regelungszweck der Bestimmung (einer Vermeidung von Verlesungsfehlern, die zur Nichtigkeit des angefochtenen Urteils führen können; vgl ErläutRV 679 BlgNR 22. GP 14) kann dem Gesetzgeber nicht zugesonnen werden, die Zustimmung der Beteiligten des Verfahrens zum Vortrag des wesentlichen Inhalts von Aktenstücken bloß in Bezug auf Protokolle über frühere Aussagen des Angeklagten ‑ mit der Konsequenz eines formellen Begründungsmangels nach § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO bei deren Verwertung im Urteil ‑ auszuschließen, sodass eine durch
Analogie zu schließende planwidrige Lücke vorliegt.
Weil ‑ wie dargelegt ‑ ein § 252 Abs 2a StPO entsprechendes Einverständnis der Angeklagten allerdings nicht vorlag, verletzt die resümierende Darstellung des wesentlichen Inhalts der über ihre Verantwortung im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung vom 18. Februar 2011 aufgenommenen Protokolle ‑ entgegen der auf den Gesetzeswortlaut rekurrierenden Ansicht der Generalprokuratur ‑ diese Bestimmung (und nicht § 245 Abs 1 dritter Satz StPO).
3. Die angeführten Aktenstücke sind demnach ‑ mangels (zulässiger) Verlesung und Vorliegens der Voraussetzungen für einen zusammenfassenden Vortrag ‑ nicht prozessordnungskonform in die Hauptverhandlung eingeführt worden, solcherart gar nicht vorgekommen, und durften daher im Urteil nicht verwertet werden (§ 258 Abs 1 StPO; Lendl, WK-StPO § 258 Rz 5, Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 131; Fabrizy, StPO11 § 252 Rz 24; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 234, 460).
4. Nach dem Zusammenrechungsprinzip des § 29 StGB bilden alle in einem Verfahren demselben Täter angelasteten Diebstähle, mögen sie weder örtlich noch zeitlich zusammenhängen, bei der rechtlichen Beurteilung eine Subsumtionseinheit (RIS-Justiz RS0114927). Die rechtliche Annahme dreier Vergehen des Diebstahls nach den §§ 15, 127 StGB läuft dieser Bestimmung zuwider.
Da nicht auszuschließen ist, dass die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil der Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).
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