Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Revisionsbeantwortung der Klägerin sind weitere Verfahrenskosten. Die beklagte Partei hat ihre Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Begründung
Die Klägerin bezog vom 1. 3. 2010 bis 31. 3. 2011 eine befristete Berufsunfähigkeitspension.
Mit Bescheid vom 31. 3. 2011 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 3. 2. 2011 auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension mit der Begründung ab, dass Berufsunfähigkeit über den 31. 3. 2011 hinaus nicht vorliege.
Das Erstgericht wies auch im zweiten Rechtsgang das auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension in gesetzlicher Höhe über den 31. 3. 2011 hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte, soweit dies für das Revisionsverfahren von Bedeutung ist, im Wesentlichen fest, dass die am 9. 7. 1978 geborene Klägerin aufgrund ihres näher festgestellten medizinischen Leistungskalküls noch die Tätigkeiten einer Portierin, Eintrittskassiererin, Garderobiere, Museumsaufseherin oder Platzanweiserin im Rahmen einer Halbtagsbeschäftigung (vier Stunden pro Tag) verrichten kann. Am regionalen Arbeitsmarkt, den sich die Klägerin mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem eigenen Pkw erschließen kann, sind in den angeführten Verweisungstätigkeiten insgesamt mehr als 40 ‑ offene oder besetzte ‑ Halbtagsstellen vorhanden, nicht jedoch in mindestens zwei dieser Verweisungstätigkeiten jeweils 15 Halbtagsstellen.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass die Invalidität der Klägerin inhaltlich nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen sei. Die Einkünfte der Klägerin bei einer Halbtagsbeschäftigung in den genannten Verweisungsberufen blieben um zumindest 20 % unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz zurück. Mit diesen Einkünften sei der Klägerin aus finanziellen Gründen weder ein Wochenpendeln noch eine Wohnsitzverlegung zumutbar, weshalb das Vorhandensein eines ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts zu prüfen sei. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei ein regionaler Arbeitsmarkt, auf dem der Versicherten 40 mit ihrem Leistungskalkül vereinbarte ‑ freie oder besetzte ‑ Stellen zur Verfügung stünden oder auf dem es in zwei Verweisungstätigkeiten je zumindest 15 Arbeitsplätze gebe, ausreichend. Da am regionalen Arbeitsmarkt der Klägerin zwar nicht in zumindest zwei Verweisungsberufen je 15 Halbtagsstellen, jedoch insgesamt in allen genannten Verweisungstätigkeiten mehr als 40 Halbtagsstellen vorhanden seien, seien die Voraussetzungen für die Gewährung einer Berufsunfähigkeits‑ bzw Invaliditätspension nicht erfüllt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und sprach aus, dass das auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension in der gesetzlichen Höhe gerichtete Klagebegehren dem Grunde nach über den 31. 3. 2011 hinaus zu Recht bestehe und die beklagte Partei verpflichtet sei, der Klägerin ab 1. 4. 2011 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung in Höhe von 914,63 EUR monatlich zu erbringen.
Es stützte sich bei seiner Entscheidung im Wesentlichen auf die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs in der Entscheidung 10 ObS 51/08k (= SSV‑NF 22/55), wonach vom Bestehen eines für eine Verweisung ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts ausgegangen werden könne, wenn der Versicherten in zwei Verweisungstätigkeiten zumindest jeweils 15 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und damit im Sinne von Angebot und Nachfrage von einem „Arbeitsmarkt“ gesprochen werden könne. Verweisungstätigkeiten, in denen lediglich eine geringere Anzahl an offenen oder besetzten Stellen am erreichbaren Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe, seien daher aus dem Verweisungsfeld auszuscheiden. Die unbekämpft gebliebene Feststellung des Erstgerichts, wonach auf dem der Klägerin zugänglichen regionalen Arbeitsmarkt nicht in zumindest zwei Verweisungstätigkeiten zumindest (jeweils) 15 Arbeitsplätze vorhanden seien, reiche daher aus, um die Voraussetzung für die von der Klägerin begehrte Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit zu bejahen, ohne dass es weiterer Feststellungen darüber bedürfte, wie sich die 40 dem Leistungskalkül der Klägerin entsprechenden Stellen im Einzelnen auf die ihr möglichen fünf Verweisungstätigkeiten verteilen.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil es sich bei seiner Entscheidung auf die zitierte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs stützen konnte.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.
Die beklagte Partei macht geltend, das Berufungsgericht ziehe aus der Entscheidung 10 ObS 51/08k (SSV‑NF 22/55) zu Unrecht die Schlussfolgerung, dass dem Leistungskalkül entsprechende Arbeitsplätze, die in einer geringeren Zahl als 15 pro Verweisungstätigkeit vorhanden seien, ohne Berücksichtigung der Gesamtanzahl der Arbeitsplätze in den in Frage kommenden Verweisungsberufen von vornherein auszuscheiden seien. Im Verweisungsbereich nach § 255 Abs 3 ASVG (allgemeiner Arbeitsmarkt) sei keine strikte isolierte Betrachtung einzelner Verweisungstätigkeiten vorzunehmen, sondern der gesamte allgemeine Arbeitsmarkt gleichsam als Einheit zu sehen. Es stehe in diesem Bereich nicht die Mindestanzahl von Arbeitsplätzen in einer Verweisungstätigkeit, sondern die Gesamtanzahl der nach dem Leistungskalkül in Frage kommenden Arbeitsplätze im Vordergrund. Es liege daher im konkreten Fall ein ausreichend regionaler Arbeitsmarkt für die Klägerin vor. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, es bedürfe keiner weiteren Feststellungen darüber, wie sich die (mindestens) 40 dem Leistungskalkül der Klägerin entsprechenden Stellen auf die ihr möglichen fünf Verweisungstätigkeiten verteilten, sei nicht zutreffend, weshalb jedenfalls sekundäre Feststellungsmängel vorlägen.
Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:
1. Nach der für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit der Klägerin unbestritten inhaltlich maßgebenden Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Es müssen daher Arbeitsplätze in einer solchen Anzahl vorhanden sein, dass noch von einem „Arbeitsmarkt“, das ist der Bereich einer Volkswirtschaft, in dem sich Angebot und Nachfrage nach Arbeit begegnen, gesprochen werden kann. Es müssen demnach solche Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl für eine Verweisung zur Verfügung stehen, wobei es allerdings gleichgültig ist, ob diese Stellen frei oder besetzt sind. Ist hingegen die Zahl der für einen körperlich oder geistig eingeschränkt arbeitsfähigen Versicherten in Frage kommenden Arbeitsplätze (frei oder besetzt) so gering, dass der Arbeitsmarkt dem Versicherten praktisch auf Dauer verschlossen ist, mangelt es diesem an der Möglichkeit, durch Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit ein seinem Lebensunterhalt dienendes Entgelt erwerben zu können. Diesem Versicherten steht dann ein Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung (10 ObS 51/08k, SSV‑NF 22/55 mwN).
2. Grundlage für die Beurteilung der Frage, ob ein für eine Verweisung ausreichender Arbeitsmarkt besteht, ist die Zahl der in diesen Verweisungsberuf bestehenden Arbeitsplätze. Stehen in Österreich in den der Arbeitsfähigkeit des Versicherten angemessenen Verweisungsberufen nicht wenigstens 100 Arbeitsplätze zur Verfügung, so kann nach ständiger Rechtsprechung nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarkts gesprochen und der Versicherte nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden (10 ObS 51/08k, SSV‑NF 22/55 mwN).
3. Sind aber ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ der Versicherten mit Rücksicht auf den durch die mögliche Teilzeitbeschäftigung erzielbaren geringen Verdienst eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln nicht zumutbar (vgl 10 ObS 29/08z, SSV‑NF 22/38 mwN), kommt für sie nur ein regionaler Arbeitsmarkt in Betracht. Ihr stehen daher nur noch die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplätze in ihrem (aktuellen) Wohnort und in dessen durch Tagespendeln in zumutbarer Weise erreichbaren Umkreis zur Verfügung. In diesem Sinn ist die Frage zu stellen, ob es in der betreffenden Region für zumutbare Verweisungstätigkeiten eine so nennenswerte Zahl von ‑ offenen oder besetzten ‑ Stellen gibt, die die Annahme rechtfertigen, dass ein für die Verweisbarkeit ausreichender Arbeitsmarkt besteht (vgl 10 ObS 51/08k, SSV‑NF 22/55; 10 ObS 29/08z, SSV‑NF 22/38 mwN).
4. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung erkannte der Senat in der Entscheidung 10 ObS 143/03g (SSV‑NF 17/67), dass die Annahme eines ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts nicht berechtigt ist, wenn maximal 20 für den Versicherten (einen Hilfsarbeiter) erreichbare, seiner Leistungsfähigkeit adäquate Arbeitsplätze bestehen. Der Entscheidung lag die Feststellung der Vorinstanzen zugrunde, dass der Kläger in dem von ihm durch Tagespendeln erreichbaren Gebiet noch vier Verweisungstätigkeiten ausüben konnte, für die es insgesamt maximal 20 Arbeitsplätze gab.
4.1 Hingegen genügen nach Ansicht des Senats für die Annahme eines regionalen Arbeitsmarkts 40 Arbeitsplätze in einer einzigen Verweisungstätigkeit, die dem ungelernten Versicherten zur Verfügung stehen. In diesem Fall kann in Bezug auf diese bestimmte Verweisungstätigkeit von einem ausreichenden Vorhandensein von Arbeitsplätzen ausgegangen werden (vgl 10 ObS 262/03g, SSV‑NF 18/5).
4.2 In der Entscheidung 10 ObS 51/08k (SSV‑NF 22/55) wurde vom Senat für den Fall, dass der Versicherte in der Lage ist, mehrere Verweisungstätigkeiten auszuführen, ausgesprochen, dass bei der Prüfung, ob vom Bestehen eines für eine Verweisung ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts auszugehen ist, grundsätzlich die Gesamtzahl der in allen diesen Verweisungsberufen bestehenden Arbeitsplätze zugrunde zu legen ist, wobei allerdings Tätigkeiten auszuscheiden sind, die der Versicherte zwar noch ausüben könnte, in denen die Anzahl der Arbeitsplätze aber so gering ist, dass sie praktisch die Arbeitsmöglichkeiten für den Versicherten nicht vermehren. Stehen einem Versicherten in zwei Verweisungstätigkeiten je zumindest 15 Arbeitsplätze, insgesamt somit 30 Arbeitsplätze, zur Verfügung, die mit Tagespendeln erreichbar sind, ist vom Bestehen eines für eine Verweisung ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts auszugehen.
5. Im vorliegenden Fall stehen nach den Feststellungen der Vorinstanzen der Klägerin in den fünf genannten Verweisungstätigkeiten insgesamt „mehr als 40“ ‑ offene oder besetzte ‑ Halbtagsstellen zur Verfügung, die mit Tagespendeln erreichbar sind.
5.1 Soweit das Erstgericht unter Berufung auf die Entscheidung 10 ObS 262/03g (SSV‑NF 18/5) auch im vorliegenden Fall vom Vorliegen eines ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts ausging, ließ es unberücksichtigt, dass in der erwähnten Entscheidung diese 40 Arbeitsplätze in einer einzigen Verweisungstätigkeit zur Verfügung standen und daher in Bezug auf diese Verweisungstätigkeit vom Vorliegen eines ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts ausgegangen wurde, während im vorliegenden Fall die „mehr als 40“ zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze auf insgesamt fünf Verweisungstätigkeiten entfallen.
5.2 Soweit das Berufungsgericht aus der einen konkreten Einzelfall betreffenden Entscheidung 10 ObS 51/08k (SSV‑NF 22/55) die allgemeine Schlussfolgerung zu ziehen versucht, dass kein ausreichend regionaler Arbeitsmarkt bestehe, wenn nicht in zumindest zwei Verweisungstätigkeiten zumindest (je) 15 Arbeitsplätze vorhanden seien, so kann dem nur insoweit gefolgt werden, als die Annahme eines ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts ganz allgemein dann nicht mehr berechtigt sein wird, wenn insgesamt weniger als 30 für den Versicherten erreichbare, seiner Leistungsfähigkeit adäquate Arbeitsplätze bestehen. Es kann aber andererseits für die Frage des Bestehens eines ausreichenden regionalen Arbeitsmarkts nach Ansicht des erkennenden Senats keinen sachlich begründbaren Unterschied machen, ob in zwei Verweisungstätigkeiten je zumindest 15 Arbeitsplätze oder beispielsweise in einem einzigen Verweisungsberuf zumindest 30 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.
6. Bei der Frage, ob ein ausreichend regionaler Arbeitsmarkt besteht, handelt es sich um eine im Einzelfall zu beurteilende Rechtsfrage. Für die berechtigte Annahme eines Arbeitsmarkts kommt es im Allgemeinen auf die Anzahl der dem eingeschränkt leistungsfähigen (ungelernten) Versicherten in seinem Verweisungsfeld insgesamt zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze an. Aus dem Verweisungsfeld sind jedoch Tätigkeiten auszuscheiden, die der Versicherte zwar noch ausüben könnte, in denen die Anzahl der Arbeitsplätze aber so gering ist, dass sie in keiner nennenswerten Zahl zur Verfügung stehen (vgl 10 ObS 51/08k, SSV‑NF 22/55 mwN). Eine absolute Mindestzahl von vorhandenen Arbeitsplätzen in den einzelnen noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten für eine zulässige Verweisung lässt sich aber nicht festlegen.
7. Im Sinne der dargelegten Ausführungen reichen die bisher getroffenen Feststellungen für eine Beurteilung der Frage, ob für die Klägerin ein ausreichend regionaler Arbeitsmarkt besteht, nicht aus. Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren zunächst die nicht eindeutige Feststellung, der Klägerin stehen in den genannten fünf Verweisungstätigkeiten insgesamt „mehr als 40“ Stellen zur Verfügung, im Sinne einer „von‑bis Angabe“ zu präzisieren haben. Weiters wird zu klären sein, wie sich diese Stellen auf die der Klägerin noch möglichen Verweisungstätigkeiten einer Garderobiere, Eintrittskassiererin, Museumsaufseherin, Platzanweiserin oder Portierin verteilen. Erst danach wird abschließend beurteilt werden können, ob der Klägerin ein ausreichender regionaler Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
8. Da somit für die rechtliche Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens aufzuheben.
Der Kostenvorbehalt hinsichtlich der von der Klägerin für ihre Revisionsbeantwortung verzeichneten Kosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO. Die beklagte Partei hat ihre Kosten selbst zu tragen (§ 77 Abs 1 Z 1 ASGG).
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