OGH 15Os102/12g

OGH15Os102/12g24.4.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. April 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Dr. Michel‑Kwapinski und Mag. Fürnkranz als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Viktorin als Schriftführer in der Strafsache gegen Junior U***** wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. Jänner 2012, GZ 8a E Vr 11197/98, Hv 7075/98‑32, und des Oberlandesgerichts Wien vom 26. März 2012, AZ 19 Bs 42/12h, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Verteidigers Mag. Schartmüller und des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Mit gekürzt ausgefertigtem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. Februar 1999, GZ 8a E Vr 11197/98, Hv 7075/98‑14, wurde der nigerianische oder liberianische Staatsangehörige Junior U***** (im Urteil: U*****) des am 9. September 1998 in Wien begangenen Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

In weiterer Folge wurde Junior U***** (alias David W*****) mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Passau vom 12. Oktober 1999, 4 Ls 313 Js 5746/98, wegen von Februar bis März 1998 in Passau begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei tatmehrheitlichen Fällen unter Anwendung der §§ 1, 2, 3, 29a I Nr 2 dBtMG und §§ 53, 54 dStGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt (ON 31; Strafregisterauskünfte ON 33 AS 193 und 199 f).

Das Landesgericht für Strafsachen Wien wies mit Beschluss vom 12. Jänner 2012 (ON 32) den zum Verfahren AZ 8a E Vr 11197/98, Hv 7075/98 unter Berufung auf § 31a StGB gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft (ON 30) auf Feststellung, dass die Verurteilung vom 2. Februar 1999 im Verhältnis der §§ 31, 40 StGB zur Verurteilung des Amtsgerichts Passau vom 12. Oktober 1999 stehe, ab.

Mit Beschluss vom 26. März 2012, AZ 19 Bs 42/12h (ON 43 im Hv‑Akt) gab das Oberlandesgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 34) nicht Folge. Es lehnte die begehrte Festellung unter Hinweis auf den Wortlaut der Bestimmung des § 31 Abs 1 erster Satz StGB ab.

In ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur aus:

„Wäre die Folgeverurteilung durch ein österreichisches Gericht erfolgt, so hätte dieses die §§ 31 Abs 1 und 40 StGB anzuwenden gehabt, weil die dem Urteil des Amtsgerichts Passau zu Grunde liegenden Taten zeitlich vor dem rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. Februar 1999 lagen und demgemäß schon mit dem früheren Urteil hätten abgeurteilt werden können.

Deutsche Gerichte können nach § 55 dStGB nur auf frühere deutsche Urteile Bedacht nehmen (vgl MünchKommStGB/v. Heintschel‑Heinegg § 55 Rn 11). Österreichische Gerichte können gemäß § 31 Abs 2 StGB auch auf ausländische Urteile Bedacht nehmen, wenn sie zeitlich vor dem inländischen gefällt wurden.

Auf Grund der in § 73 StGB normierten grundsätzlichen Gleichstellung von ausländischen und inländischen Verurteilungen ist das durch § 31 Abs 1 StGB geknüpfte Band aber auch dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn ein ausländisches Urteil zeitlich dem inländischen folgt.

Der Argumentation des Oberlandesgerichts Wien, das Landesgericht für Strafsachen Wien habe zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf das noch gar nicht ergangene Urteil des Amtsgerichts Passau nicht Bedacht nehmen können (BS 3 vorletzter, letzter Absatz), sodass eine nachträgliche Milderung der Strafe nach § 31a StGB im Verfahren AZ 8a Hv 7075/98 des Landesgerichts für Strafsachen Wien nicht in Betracht komme, und § 4 Abs 5 TilgG stelle auf das tatsächliche Verhältnis von Verurteilungen zueinander und nicht auf die Tatsache der Anwendung des § 31 StGB in einem Strafurteil ab (RIS‑Justiz RS0117522), ist zwar beizupflichten, doch verlangt schon die bloße Feststellung der Tatsache, dass Verurteilungen zueinander im Verhältnis des § 31 StGB stehen, die Durchführung des in § 410 StPO geregelten Verfahrens. Selbst dann, wenn zu einer Reduktion der im Nach-Urteil verhängten Strafe keine Veranlassung besteht oder eine solche ‑ wie hier ‑ gar nicht in Betracht kommt, ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 StGB zu deklarieren und dies gemäß § 5 Abs 1 StRegG dem Strafregisteramt mitzuteilen (RIS‑Justiz RS0107405, RS0090727; Ratz in WK² § 31a Rz 11 zweiter Absatz; Lässig, WK‑StPO § 410 Rz 2 mwN).

Eine solche Feststellung kann nach Lage des Falles unter analoger Heranziehung der Bestimmungen des § 31a StGB und des § 410 StPO zu Gunsten des Verurteilten nur im ‑ zeitlich vorangegangenen ‑ Inlandsverfahren erfolgen.

Die Entscheidungen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien und des Oberlandesgerichtes Wien haben sich für den Verurteilten nachteilig ausgewirkt (§ 4 Abs 5 TilgG; vgl Kert, WK‑StPO TilgG § 4 Rz 29 ff).“

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

§ 31 Abs 1 StGB zufolge ist eine Zusatzstrafe zu verhängen, wenn jemand, der bereits zu einer Strafe verurteilt worden ist, wegen einer anderen Tat verurteilt wird, die nach der Zeit ihrer Begehung schon in dem früheren Verfahren hätte abgeurteilt werden können. Einer früheren inländischen Verurteilung steht eine frühere ausländische Verurteilung auch dann gleich, wenn die Voraussetzungen nach § 73 StGB nicht vorliegen (Abs 2 leg cit).

Die von der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes angestrebte Berücksichtigung der zeitlich nach dem gegenständlichen Inlandsverfahren erfolgten ausländischen Verurteilung widerspricht somit dem klaren Wortlaut des Gesetzes.

Eine durch Analogie schließbare Gesetzeslücke liegt vor, wenn die aus der konkreten gesetzlichen Regelung hervorleuchtenden Zwecke und Werte die Annahme nahelegen, der Gesetzgeber habe einen nach denselben Maßstäben regelungsbedürftigen Sachverhalt übersehen. Ohne Vorliegen einer Gesetzeslücke gleichsam an die Stelle des Gesetzgebers zu treten und einen Regelungsinhalt (rechtsfortbildend) zu schaffen, dessen Herbeiführung ausschließlich diesem obläge, steht den Gerichten nicht zu (RIS‑Justiz RS0008866 [T9, T10, T16 und T18]).

Die Regelung des § 31 StGB bezweckt, dem sich aus § 28 Abs 1 StGB ergebenden Absorptionsprinzip des materiellen Strafrechts ohne Durchlöcherung der Rechtskraft (auch des Strafausspruchs) der ersten Entscheidung in jenen Fällen zum Durchbruch zu verhelfen, in welchen ein Angeklagter, gegen den bereits ein Strafurteil ergangen ist, einer anderen, vor dessen Fällung begangenen (realkonkurrierenden) strafbaren Handlung schuldig befunden wurde, um eine in der getrennten Verfahrensführung bestehende Benachteiligung des Täters durch ein österreichisches Gericht zu vermeiden. Demnach ist zu prüfen, inwieweit die ursprünglich verhängte Strafe strenger ausgefallen wäre, wenn die nun zur Aburteilung kommende Straftat in den Schuldspruch miteinbezogen worden wäre. Eine allfällige Differenz ist als Zusatzstrafe zu verhängen. Die Summe der Strafe darf das Höchstmaß dessen nicht überschreiten, was bei gleichzeitiger Aburteilung aller Taten hätte verhängt werden dürfen. Die Zusatzstrafe darf auch nach Art und Dauer nicht strenger sein, als es für die später abgeurteilte Tat allein zulässig ist (vgl 30 BlgNR XIII. GP, 116 und 119 f; Ratz in WK2 § 28 Rz 2 f, § 31 Rz 1, 7 und 12). Zur Korrektur der im Vor‑Urteil verhängten Strafe berechtigt § 31 StGB nicht (Ratz, aaO § 31 Rz 17).

§ 31a Abs 1 StGB verpflichtet das Gericht, die Strafe angemessen zu mildern, wenn nachträglich Umstände eintreten oder bekannt werden, die zu einer milderen Bemessung der Strafe geführt hätten. Schon die bloße Feststellung der Tatsache, dass Verurteilungen zueinander im Verhältnis des § 31 StGB stehen, verlangt die Durchführung eines darauf bezogenen Verfahrens. Auch dann, wenn zu einer Reduktion der im Nach‑Urteil verhängten Strafe letztlich keine Veranlassung besteht, ist sie nunmehr als Zusatzstrafe zu deklarieren und diese Tatsache dem Strafregisteramt mitzuteilen (RIS‑Justiz RS0107405; Ratz in WK2 § 31a Rz 11).

Im deutschen Recht sind ausländische Strafen wegen des damit verbundenen Eingriffs in ihre Vollstreckbarkeit nicht gesamtstrafenfähig (MünchKommStGB/v. Heintschel‑Heinegg § 55 Rn 11).

Anhaltspunkte dafür, dass der österreichische Gesetzgeber dem Absorptionsprinzip auch in Bezug auf nachfolgende ausländische Verurteilungen zum Durchbruch verhelfen wollte, finden sich nicht. Den inländischen Gerichten ist in solchen Fällen ‑ mangels Grundlage zur Fällung eines eigenständigen Schuld- oder Strafausspruchs über die im Ausland abgeurteilte Tat ‑ nicht möglich, im Sinn der §§ 31 und 40 StGB autonom zu prüfen, inwieweit überhaupt eine Zusatzstrafe (als Differenz zur nach den Strafzumessungskriterien der österreichischen Strafgesetze gedachten Gesamtstrafe) zu verhängen wäre, wenn die erst später im Ausland zur Aburteilung gekommene (frühere) Straftat in den Schuldspruch miteinbezogen worden wäre. Eine im Wege nachträglicher Strafmilderung im vorangehenden inländischen Verfahren ausgesprochene Deklarierung der erst später im Ausland verhängten Strafe als Zusatzstrafe widerspräche zudem der expliziten Ablehnung der Durchlöcherung der Rechtskraft dieser ersten Entscheidung durch den Gesetzgeber (vgl 30 BlgNR XIII. GP 120). Vielmehr könnte eine dem Absorptionsprinzip Rechnung tragende Entscheidung eines inländischen Gerichts nur in einem zeitlich späteren und vom ersten verschiedenen Verfahren wegen einer vom ersten Urteil noch nicht erfassten Straftat erfolgen, etwa bei ‑ nach Maßgabe der §§ 62 ff StGB, Art 50 GRC und Art 54 SDÜ zulässiger ‑ Verfolgung der bereits im Ausland abgeurteilten Tat auch im Inland. Ein Verfahren zur autonomen Anpassung von der inländischen Verurteilung zeitlich nachfolgenden ausländischen Verurteilungen an das österreichische Recht zur Vermeidung von tilgungsrechtlichen Nachteilen im Zusammenhang mit gemäß § 2 Abs 2 Z 2 und 3 StRegG in das österreichische Strafregister aufgenommenen rechtskräftigen Verurteilungen ausländischer Strafgerichte (vgl §§ 1, 3 und 4 TilgG; Kert, WK-StPO TilgG § 4 Rz 31 ff) kennt das Gesetz nicht. Da der Gesetzgeber die autonome Anpassung rechtskräftiger ausländischer gerichtlicher Entscheidungen an die konkret aktuellen österreichischen Strafsätze und Strafbemessungsgrundsätze (vgl Martetschläger in WK2 ARHG § 65 Rz 1) zwar im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Entscheidungen ausländischer Gerichte geregelt (§§ 65 ff ARHG), eine solche Anpassung jedoch nicht auch im Kontext des Strafregistergesetzes oder des Tilgungsgesetzes vorgesehen, sondern bloß die Berücksichtigung früherer ausländischer Entscheidungen in einem späteren inländischen Strafverfahren wegen einer anderen Tat angeordnet hat (§ 31 Abs 2 StGB), kann ihm nicht einfach unterstellt werden, er habe eine solche Entscheidungsbefugnis in Bezug auf im österreichischen Strafregister erfasste (zeitlich spätere) ausländische Verurteilungen bloß versehentlich nicht geregelt.

Mit den von der Generalprokuratur angefochtenen Beschlüssen wurde somit im gegenständlichen Verfahren die nachträgliche Feststellung, dass die Urteile des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. Februar 1999 und des Amtsgerichts Passau vom 12. Oktober 1999 zueinander im Verhältnis der §§ 31, 40 StGB stehen, ohne fehlerhafte (analoge) Anwendung der Gesetze abgelehnt, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu verwerfen war.

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