OGH 7Ob58/13z

OGH7Ob58/13z17.4.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. J***** M*****, 2. E***** M*****, beide vertreten durch Dr. Hans Ambros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei A***** S.A *****, vertreten durch Bollmann & Bollmann Rechtsanwaltspartnerschaft in Wien, wegen 7.500 EUR sA, über die Revision der klagenden Parteien gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 30. November 2012, GZ 1 R 238/12i‑10, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 20. Juli 2012, GZ 17 C 241/12h‑6, aufgehoben wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, den beklagten USt Parteien die mit 3.417,65 EUR (darin enthalten 335,25 EUR und 1.425,60 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Kläger haben mit der Beklagten einen Reiseversicherungsvertrag („Reiseschutz mit Storno Classic“) für eine Reise vom 5. 12. 2011 bis 11. 1. 2012 abgeschlossen. Vereinbart wurde eine einmalige Prämie von insgesamt 569 EUR und eine Versicherungssumme von insgesamt bis zu 7.500 EUR. Die für das vorliegende Verfahren maßgeblichen Bestimmungen der dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Versicherungsbedingungen (AVB) lauten auszugsweise:

Allgemeine Bedingungen für alle Sparten:

[...]

6.1. Kein Versicherungsschutz besteht für Ereignisse, die vorsätzlich oder grob fahrlässig durch den Versicherten herbeigeführt werden.

[...]

Reiserücktrittskosten

[...]

2. Versicherte Ereignisse

2.1 Plötzliche schwere Krankheit, Impfunverträglichkeit (nur bei vorgeschriebenen Impfungen), Unfallsverletzung oder Tod des Versicherten. [...]

2.10 Für bis zu sieben Personen auf einer Polizze, die gemeinsam eine Reise gebucht haben und versichert sind, liegt auch dann ein Versicherungsfall vor, wenn einer der Gründe gemäß Punkt 2.1 bis 2.9 nur für eine dieser sieben Personen eintritt.“

Am 2. 12. 2011 ereignete sich ein Autounfall, bei dem die Zweitklägerin auf einer eisigen Landstraße wegen eines entgegenkommenden Fahrzeugs gegenlenkte, ins Rutschen kam und gegen einen Baum fuhr. Dabei wurde der Airbag ausgelöst, die Zweitklägerin erlitt Platzwunden am Kopf und brach sich fünf Rippen. Sie war nicht angegurtet. Am 3. 12. 2012 stornierte sie die versicherte Reise und meldete den Schadensfall. Den Klägern entstanden Stornokosten in der Höhe von insgesamt 12.000,78 EUR.

Die Kläger begehren die Zahlung von 7.500 EUR sA. Die Zweitklägerin treffe kein grobes Verschulden. Selbst wenn sie angeschnallt gewesen wäre, hätte sie auf Grund der aufgetretenen Verletzungen die Reise nicht antreten können.

Die Beklagte bestreitet das Klagebegehren. Sowohl nach den gesetzlichen Bestimmungen als auch nach den AVB sei der Versicherungsnehmer zum Zweck der Verminderung der Gefahr oder der Verhütung einer Erhöhung der Gefahr dem Versicherer gegenüber zur Erhaltung von Obliegenheiten verpflichtet. Gemäß § 106 Abs 2 KFG sei der Lenker eines Kraftfahrzeugs zum bestimmungsgemäßen Gebrauch des Sicherheitsgurts verpflichtet. Die Zweitklägerin habe es grob fahrlässig unterlassen, den vorgesehenen Sicherheitsgurt zu nutzen. Die Beklagte sei daher leistungsfrei. Dem Erstkläger sei das Verhalten der Zweitklägerin zuzurechnen.

Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung des Klagsbetrags. Die Unfallverletzung eines Versicherten sei ein versichertes Ereignis. Bei einem Verstoß gegen die Gurtenpflicht nach § 106 Abs 2 KFG sei bloß von einem geringen Schuldgehalt im Sinne einer leichten Fahrlässigkeit auszugehen.

Das Berufungsgericht hob über Berufung der Beklagten das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Der sachliche Grund für die Berücksichtigung eines Mitverschuldens, wenn der Sicherheitsgurt nicht angelegt wurde, nur bei Schmerzengeldansprüchen (nicht auch bei den anderen aus Körperverletzung oder Tod resultierenden Schadenersatz-ansprüchen) liege darin, dass der Gesetzgeber dies als Verstoß mit nur geringem Schuldgehalt angesehen habe. § 106 Abs 2 KFG sei aber nicht die Positivierung des geringen Verschuldens, sondern lediglich eine vom historischen Gesetzgeber beim Mitverschulden zugrunde gelegte Annahme. Mittlerweile werde das Anschnallen jedoch nicht mehr als persönliche Einschränkung und die Anschnallpflicht nicht mehr als problematischer Zwang, sondern als Selbstschutz des Benützers eines Kraftfahrzeugs verstanden. Daher sei ein Verstoß gegen die Gurtenanlagepflicht auf Grund geänderter Bewusstseinsbildung der Allgemeinheit nicht mehr generell als gering schuldhaft, sondern in der Regel als grob schuldhaft anzusehen. Die Beklagte sei aber auch für die Kausalität des unterlassenen Gurtenanlegens für die Verletzungen beweispflichtig, wozu das Erstgericht keine Feststellungen getroffen habe.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil zur Frage des groben Verschuldens nach § 61 VersVG im Fall der Verletzung der Gurtenanlegepflicht keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Rekurs der Kläger mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte begehrt, den Rekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, er ist auch berechtigt.

1. Auffallende Sorglosigkeit liegt vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlicher Weise vernachlässigt wurde und dieser objektiv besonders schwerwiegender Sorgfaltsverstoß auch subjektiv vorwerfbar ist. Grobe Fahrlässigkeit ist dann gegeben, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich vorhersehbar ist (RIS‑Justiz RS0030644, RS0085373).

2. Nach § 106 Abs 2 KFG sind Lenker und beförderte Personen, die einen Sitzplatz in einem Kraftfahrzeug benützen, der mit einem Sicherheitsgurt ausgerüstet ist, je für sich zum bestimmungsgemäßen Gebrauch des Sicherheitsgurts verpflichtet, sofern nicht Abs 5 Anwendung findet. Die Verletzung dieser Pflicht begründet, jedoch nur soweit es sich um einen allfälligen Schmerzengeldanspruch handelt, im Fall der Tötung oder Verletzung des Benützers durch einen Unfall ein Mitverschulden an diesen Folgen im Sinn des § 1304 ABGB. Das Mitverschulden ist soweit nicht gegeben, als der Geschädigte (sein Rechtsnachfolger) beweist, dass die Folge in dieser Schwere auch bei einem Gebrauch des Sicherheitsgurts eingetreten wäre.

3. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wird die Verletzung der Gurtenpflicht im Regelfall als leichter Verstoß mit geringem Schuldgehalt beurteilt (RIS‑Justiz RS0029844). Dies wird damit begründet, dass die EB zur RV (57 BlgNR 14. GP 51) zu Art III Abs 1 der 3. KFG‑Novelle (nunmehr § 106 Abs 2 KFG) als einen der Gründe für eine ausdrückliche Regelung des im Nichtgebrauch des Sicherheitsgurts liegenden Verschuldens anführen: „Außerdem ist es geboten, durch die ausdrückliche Unterstellung eines Mitverschuldens eine Berufung auf eine bloße culpa levissima auszuschalten“ und der AB (295 BlgNR 14. GP 2) die Beschränkung der Anspruchskürzung auf den Schmerzengeldanspruch mit dem „in der Unterlassung der Benützung des Sicherheitsgurts liegenden geringen Schuldgehalt“ begründet. Daraus werde deutlich, dass der Gesetzgeber selbst den in der Unterlassung des Gebrauchs des Sicherheitsgurts allein liegenden Sorgfaltsverstoß als einen solchen mit nur geringem Schuldgehalt angesehen habe (8 Ob 82/81, 8 Ob 294/81, 2 Ob 30/90, 2 Ob 62/05i, 2 Ob 13/06k, 2 Ob 283/06s, 2 Ob 190/07s).

4. Apathy (Zivilrechtliche Folgen der Nichtanwendung von Sicherheitsgurten JBl 1985, 641 ff) führte aus, dass, obwohl auch der Gesetzgeber der Novelle BGBl 1984/253 von einem verminderten Schuldgehalt bei Verletzung der Anschnallpflicht ausgegangen sei, doch bei entsprechender Bewusstseinsbildung in absehbarer Zeit ein Verstoß gegen die Gurtenanlegepflicht nicht mehr generell als gering schuldhaft, sondern zunehmend als grob schuldhaft qualifiziert werden könnte. Einer solchen Beurteilung stehe auch der Wille des historischen Gesetzgebers nicht entgegen, sei doch dessen Beurteilung der Schwere des Verschuldens des Geschädigten, der sich nicht angegurtet habe, nicht unmittelbar Gesetzesinhalt geworden. Die Beurteilung der Schwere und des Ausmaßes des Mitverschuldens obliege daher den Gerichten im Einzelfall und werde vom Gesetzgeber nicht abgenommen. Daher seien die Gerichte auch nicht gehindert, einen weiter fortschreitenden Wandel in der Beurteilung der Vorwerfbarkeit des Nichtangurtens zu berücksichtigen und von den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers abzurücken, um Art III Abs 1 der 3. KFG‑Novelle zeitgemäß zu interpretieren.

Die Gurtenanlegepflicht hat zwar als wichtige und für die Sicherheit im Verkehr wesentliche Schutzvorschrift seit dem Inkrafttreten der 3. KFG‑Novelle mit 15. 7. 1976 angesichts der seitdem gewonnenen Erkenntnisse im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen an Bedeutung gewonnen. Dies rechtfertigt es aber nicht, die Wertung des Gesetzgebers und die darauf gegründete ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs als überholt in Frage zu stellen. Der Gesetzgeber ließ ‑ trotz mehrfacher Novellierungen des § 106 Abs 2 KFG (bzw davor Art III Abs 1 der 3. KFG‑Novelle) den wesentlichen Wortlaut der Bestimmung unverändert und ging ‑ obwohl er jeweils die Möglichkeit dazu gehabt hätte ‑ von dem seiner Ansicht nach vorliegenden verminderten Schuldgehalt bei der Verletzung der Gurtenanlegepflicht nicht ab. Diese Gewichtung überzeugt auch deshalb weiterhin, weil regelmäßig dem „Auslösungsverschulden“ gegenüber der Verletzung der Gurtenanlegepflicht ein weitaus höherer Schuldgehalt zukommen wird.

5. Der Gesetzgeber normierte in § 106 Abs 2 KFG (Art III Abs 1 der 3. KFG‑Novelle) die Verpflichtung zum Anlegen von Sicherheitsgurten. Wenn er dabei von einer Beschränkung der Beachtung des Mitverschuldens auf Schmerzengeldansprüche im Fall der Verletzung dieser Verpflichtung ausging, verdeutlicht dies nur seine Ansicht vom geringen Schuldgehalt der Verletzung an sich, und ‑ entgegen der Ansicht der Beklagten ‑ nicht eingeschränkt auf den Vergleich zum Auslösungsverschulden.

6. Abgesehen davon, dass ein „Eigenverschulden“ der Zweitklägerin am Verkehrsunfall entgegen den Ausführungen der Beklagten gar nicht feststeht - immerhin kam das Fahrzeug der Zweitklägerin deshalb ins Rutschen, weil sie einem entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen musste -, gründete die Beklagte ihre Leistungsfreiheit auch ausschließlich darauf, dass die Zweitklägerin den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte. Ob die Zweitklägerin daher an dem Verkehrsunfall auch ein „Auslösungsverschulden“ trifft, ist bereits deshalb nicht zu prüfen.

7. Die hier vorgelegenen schlechten Witterungsverhältnisse stellen auch keinen Umstand dar, durch dessen Hinzutreten grobe Fahrlässigkeit angenommen werden müsste. In Stattgebung des Rekurses ist daher das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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