OGH 10ObS35/13i

OGH10ObS35/13i16.4.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Susanne Jonak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*****, vertreten durch Dr. Christian Kleinszig und Dr. Christian Puswald, Rechtsanwälte in St. Veit an der Glan, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, 1081 Wien, Josefstädterstraße 80, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 13. Dezember 2012, GZ 7 Rs 89/12f‑14, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 4. Oktober 2012, GZ 30 Cgs 73/12w‑9 bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung

Die Klägerin ist als Beamtin an einer Bezirkshauptmannschaft tätig, die zentrumsnah in einer Landeshauptstadt gelegen ist. Am 12. 12. 2011 beabsichtigte die Klägerin in ihrer halbstündigen Mittagspause mit dem Fahrrad einen etwa 1 km von der Bezirkshauptmannschaft entfernten Supermarkt der Firma Hofer aufzusuchen, um dort einen bestimmten (veganen) Kürbiskernaufstrich zum Verzehr in der Mittagspause einzukaufen. Als sie auf dem Weg zum Supermarkt mit ihrem Rad im Bereich einer Baustelle einen Gehsteig befuhr, kam es zu einer Kollision mit einem eine Hauseinfahrt verlassenden PKW. Im Zuge dieses Unfalls erlitt die Klägerin Verletzungen.

Mit ihrer gegen den Bescheid vom 9. 5. 2012 gerichteten Klage begehrt sie die „Anerkennung“ des Unfalls als Dienstunfall sowie die Gewährung „insbesondere der gemäß §§ 88 ff B‑KUVG“ zustehenden Leistungen im gesetzlichen Ausmaß.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren mit der Begründung ab, es liege kein Dienstunfall iSd § 90 Abs 2 Z 6 B-KUVG vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Rechtlich ging es davon aus, der ein Kilometer weit vom Dienstort entfernte Supermarkt sei nicht „in der Nähe“ iSd § 90 Abs 2 Z 6 B‑KUVG gelegen. Ein dienstlicher Bezug oder eine zwingende (gesundheitliche) Notwendigkeit, das (Mittag‑)Essen gerade bei diesem Supermarkt zu besorgen, sei nicht vorgebracht worden. Im Hinblick auf die erhebliche Entfernung des Supermarkts vom (zentrumsnahen) Dienstort sei vielmehr davon auszugehen, dass die wesentliche Ursache der Fahrt der Wunsch der Klägerin nach einem bestimmten Brotaufstrich war, weshalb ein Dienstunfall zu verneinen sei.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) ‑ ist die Revision nicht zulässig.

1. Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO vorliegen, ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs maßgebend (RIS‑Justiz RS0112921; RS0112769). Dieser hat aber zwischenzeitig (nach Ergehen der Berufungsentscheidung) in der Entscheidung 10 ObS 169/12v vom 19. 3. 2013 zu den auch im vorliegenden Verfahren entscheidungswesentlichen Rechtsfragen eingehend Stellung genommen. Zu § 175 Abs 2 Z 7 ASVG ‑ der im Wesentlichen gleich lautet, wie der hier anzuwendende § 90 Abs 2 Z 6 B‑KUVG ‑ wurden bereits Leitlinien zur Beurteilung des Begriffs „in der Nähe der Arbeitsstätte“ (des Dienstorts) aufgestellt, die sich im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen lassen:

2.1. Der Versicherungsschutz für Wege zur und von der Einnahme von Mahlzeiten beruht auf dem Gedanken, dass Essen und Trinken regelmäßig unaufschiebbare notwendige Handlungen sind, um die Arbeitskraft des Versicherten zu erhalten und es ihm so zu ermöglichen, seine betriebliche Tätigkeit fortzusetzen.

2.2. Unternimmt der Versicherte den Weg zwecks Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse nicht zu seiner Wohnung, sondern zu einem anderen Ort, so ist er auf dem Hin‑ und Rückweg nur dann geschützt, wenn der Ort „in der Nähe“ der Arbeitsstätte liegt.

2.3. Es steht dem Versicherten aber nicht frei, die lebensnotwendigen Bedürfnisse an jedem ihm genehmen Ort außerhalb seiner Wohnung zu befriedigen. Es ist daher nicht jeder Ort, den der Versicherte in der Pause abhängig von deren Dauer und vom verwendeten Verkehrsmittel erreichen, dort seine lebensnotwendigen Bedürfnisse befriedigen und anschließend zurückkehren kann, ein mögliches Ziel seines geschützten Weges.

2.4. Da das Gesetz auf einen Ort „in der Nähe“ abstellt, besteht ein Versicherungsschutz aber nicht nur dann, wenn das nächstgelegene Lokal oder der nächstgelegene Platz zur Befriedigung des Bedürfnisses aufgesucht wird. Es wird dem Versicherten vielmehr eine gewisse Bewegungsfreiheit zuzugestehen sein.

2.5. Welcher Ort noch „in der Nähe“ liegt, beurteilt sich nach den jeweiligen besonderen Verhältnissen des Einzelfalls. Die Einschränkung „in der Nähe“ erlaubt aber den Schluss, dass im Allgemeinen der Ort von der Arbeitsstätte in der Regel zu Fuß in einer Zeitspanne erreichbar sein muss, in der während der Arbeitspause der Hin‑ und Rückweg zurückgelegt und das Essen eingenommen werden kann. Wird ein weit entfernter Ort aufgesucht und ist dies nicht mehr wesentlich durch die Notwendigkeit der Essenseinnahme geprägt, so ist weder der Weg noch die Verrichtung geschützt.

3. Weiters wurde in der Entscheidung 10 ObS 169/12v ausgesprochen, dass der Weg zur Nahrungsaufnahme in der Nähe der Arbeitsstätte auch dann geschützt ist, wenn der Versicherte Lebensmittel besorgt hat, um das Essen unmittelbar danach an der Arbeitsstätte einzunehmen, weil auch in diesem Fall noch der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit besteht, auf dem der normierte Wegschutz beruht (siehe oben Pkt 2.1.).

4.1. Von diesen Grundsätzen weicht die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ab, der 1 km vom Dienstort entfernte Supermarkt sei unter Berücksichtigung der nur halbstündigen Mittagspause und der zentrumsnahen Lage des Dienstorts nicht mehr als „in der Nähe“ gelegen anzusehen, vielmehr sei wesentliche Ursache der von der Klägerin unternommenen Radfahrt der Wunsch nach einem bestimmten Brotaufstrich gewesen. Standen der Klägerin für die Beschaffung des Mittagessens näher gelegene Lokalitäten bzw Einkaufsmöglichkeiten zur Verfügung (wovon infolge der zentrumsnahen Lage ihrer Arbeitsstätte auszugehen ist), hätte sie einen rechtfertigenden Grund behaupten und beweisen müssen, warum sie einen entfernter liegenden Supermarkt aufgesucht hat. Wie bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, ist ein derartiges Vorbringen jedoch nicht erstattet worden. Das Aufsuchen weiter entfernter Lokalitäten oder Einkaufsmöglichkeiten ohne dass unter Berücksichtigung des örtlichen Angebots dafür ein rechtfertigender Grund vorliegt, führt zum Verlust des Versicherungsschutzes (vgl Rudolf Müller in SV Komm § 175 ASVG Rz 223 mwN).

4.2. Sind von der Rechtsprechung jüngst Leitlinien für die Beurteilung des in § 90 Abs 1 Z 6 B‑KUVG enthaltenen Terminus „in der Nähe der Dienststätte“ aufgestellt worden und kann diese Beurteilung zudem immer nur einzelfallbezogen erfolgen, ist keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO mehr gegeben. Die Ansicht, im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Einzelfalls sei das Aufsuchen des Supermarkts nicht mehr durch die zum Erhalt der Arbeitskraft notwendige Essenseinnahme geprägt, sondern überwiegend durch das eigenwirtschaftliche Interesse der Klägerin am Besorgen eines speziellen Kürbiskernaufstrichs, stellt jedenfalls keine zulassungsrelevante Fehlbeurteilung dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse der Klägerin, die einen ausnahmsweisen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit rechtfertigen können, wurden nicht vorgebracht und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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