OGH 10ObS31/13a

OGH10ObS31/13a19.3.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr.

Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Stefan Jöchtl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*****, vertreten durch Dr. Hubert Tramposch, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. November 2012, GZ 25 Rs 68/12d‑27, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat, wird der Begriff der Invalidität in der VO (EWG) 1408/71 nicht legal definiert. In Ermangelung einer europäischen Definition liegt die Definitionshoheit, wann Invalidität besteht, grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten. Es hat daher jeder Mitgliedstaat die Invalidität nach seinen eigenen Rechtsvorschriften zu prüfen, auch wenn der Versicherte einen Wohnsitz im Ausland gewählt hat (10 ObS 101/06k, SSV‑NF 20/43 mwN; RIS‑Justiz RS0120870; RS0107575 ua). Dies erklärt auch, warum es keine generelle Anerkennung von Invalidität unter den Mitgliedstaaten gibt. Eine verbindliche Feststellung von Invalidität ist nur im Rahmen von Art 40 Abs 4 VO (EWG) 1408/71 vorgesehen und setzt voraus, dass die Tatbestandsmerkmale im Anhang V anerkannt sind. Von dieser Möglichkeit haben aber nur Frankreich, Italien, Luxemburg und Belgien Gebrauch gemacht. Österreich hat von dieser durch Art 40 Abs 4 VO (EWG) 1408/71 eröffneten Möglichkeit, zu bestimmen, dass die Entscheidung des Trägers eines Mitgliedstaats über das Bestehen der Invalidität auch die beteiligten anderen Mitgliedstaaten bindet, nicht Gebrauch gemacht (10 ObS 19/97k, SSV‑NF 11/18 mwN).

2. An dieser Rechtslage hat sich, wie der erkennende Senat bereits in der Entscheidung 10 ObS 90/12a vom 10. 9. 2012 dargelegt hat, auch im Anwendungsbereich der neuen VO (EG) 883/2004 , welche die VO (EWG) 1408/71 mit 1. 5. 2010 abgelöst hat und im vorliegenden Fall bereits Anwendung zu finden hat, keine Änderung ergeben (vgl Wunder in Schreiber/Wunder/Dern , VO [EG] Nr 883/2004 Vor Art 44 Rz 4 mwN). Auch in der neuen VO (EG) 883/2004 wird der Begriff der Invalidität nicht näher definiert. Die Definition des Risikos der „Invalidität“ als konkrete Festlegung der Voraussetzungen, unter denen Leistungen bei Invalidität erbracht werden, liegt daher weiterhin in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Eine leistungsexakte Definition durch Unionsrecht oder den EuGH wäre nicht mehr von dem Koordinierungsauftrag gedeckt, sie hätte harmonisierenden Charakter. Koordinierungsrechtlich verbleibt es damit bei den mitgliedstaatlich unterschiedlichen Voraussetzungen für Leistungen bei Invalidität und den damit gegebenenfalls für die betroffenen Berechtigten verbundenen Nachteilen ( Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 6 Vor Art 44 Rz 3 mwN). Da es somit an einem gemeinschaftsweit anerkannten Begriff der Invalidität fehlt, entfaltet die Anerkennung eines Invaliditätszustands in einem Mitgliedstaat grundsätzlich keine Bindungswirkung für andere Mitgliedstaaten. Dieser Grundsatz wird nunmehr durch Art 46 Abs 3 VO (EG) 883/2004 für Mitgliedstaaten, die in Anhang VII aufgelistet sind, durchbrochen. Denn die in Anhang VII aufgelisteten Mitgliedstaaten haben die festgelegten Definitionen des Grades der Invalidität als mit denen ihrer Rechtsvorschriften übereinstimmend anerkannt. Derzeit ist aber lediglich für Belgien, Frankreich und Italien eine entsprechende Eintragung vorgenommen worden, sodass nur für diese drei Staaten die Tatbestandswirkung der Anerkennung gilt. Für den österreichischen Rechtsbereich kommt dieser Bestimmung weiterhin keine praktische Bedeutung zu. Auch aus der VO (EG) 883/2004 ist daher für Österreich keine Bindung an die Entscheidung des Trägers in einem anderen Mitgliedstaat über das Vorliegen von Invalidität ableitbar (vgl 10 ObS 90/12a; Pöltl in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht Art 46 Rz 3 und Art 49 Rz 1 ff mwN).

3. Soweit der Revisionswerber gegen diese Rechtsansicht die Tatbestandsgleichstellung des Art 5 VO (EG) 883/2004 ins Treffen führt, ist ihm entgegenzuhalten, dass die Entscheidung, an welche Voraussetzungen ein Mitgliedstaat einen Leistungsanspruch knüpft, nach wie vor ihm überlassen bleibt. Art 5 beeinflusst nur die Subsumtion der Sachverhalte unter die nationale Norm. Er gibt vor, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach dem Recht des zuständigen Staats auch durch Tatbestandsverwirklichung in einem anderen Staat gleichwertig erfüllt sind (vgl Dern in Schreiber/Wunder/Dern , VO [EG] Nr 883/2004 Art 5 Rz 4 mwN). Im Hinblick auf die Feststellung der Erwerbsminderung (Invalidität) durch Träger anderer Mitgliedstaaten findet daher keine Tatbestandsgleichstellung statt, es sei denn, die Anerkennung wäre, wie bereits dargelegt, im Sinn des Art 46 Abs 3 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich vereinbart worden (vgl Eichenhofer , Sozialrecht der Europäischen Union 4 § 6 Rz 115).

4. Schließlich vermag auch der weitere Hinweis des Revisionswerbers auf die Arbeitnehmer‑Freizügigkeit nach Art 45 AEUV bzw Art 15 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Union kein anderes Ergebnis zu begründen. Art 15 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Union, wonach alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger die Freiheit haben, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen, wiederholt letztlich nur die bereits in Art 45 AEUV enthaltenen Garantien der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das europäische Sozialrecht will allerdings keine Harmonisierung, sondern lediglich eine Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit auf europäischer Ebene bewerkstelligen. Aus diesem Grund sieht Art 48 AEUV eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vor und lässt also Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezüglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen. Die materiellen und verfahrensmäßigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch Art 48 AEUV nicht berührt. Nachteile, die aus der unterschiedlichen Gestaltung der nationalen Systeme sozialer Sicherheit entstehen, können daher entgegen der Ansicht des Revisionswerbers auch nicht über Art 45 AEUV beseitigt werden (vgl Fuchs in Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht 6 Einführung Rz 71 mwN):

5. Die Koordinierungsvorschriften des europäischen Sozialrechts regeln somit zwar Fragen der Begründung des Leistungsanspruchs durch Zusammenrechnung von (hier: in Österreich und Deutschland erworbenen) Versicherungszeiten für die notwendige Erfüllung der Wartezeit, sie treffen aber keine Regelung über das Vorliegen von Invalidität des Klägers nach den maßgebenden österreichischen Rechtsvorschriften. Der Kläger kann daher aus dem Umstand, dass er in seinem Heimatstaat eine Leistung aus dem Versicherungsfall der Erwerbsminderung (Invalidität) bezieht, für das vorliegende Verfahren nichts ableiten (10 ObS 90/12a).

Da die Entscheidung des Berufungsgerichts im Einklang mit der zitierten Rechtsprechung steht, war die außerordentliche Revision des Klägers mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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