Spruch:
Das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 27. Oktober 2010, GZ 503 Hv 116/10d-8, verletzt
1) durch die Anwendung des § 107b Abs 1 StGB auf vor seinem Inkrafttreten verwirklichte Taten §§ 1 Abs 1, 61 erster Satz StGB und
2) durch das Unterlassen von Feststellungen zur Intensität und zur Dichte der Angriffe §§ 488 Abs 1, 270 Abs 4 Z 2 StPO iVm § 107b Abs 1 und Abs 2 StGB.
Dieses Urteil wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Korneuburg verwiesen.
Text
Gründe:
Mit gekürzt ausgefertigtem Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 27. Oktober 2010 (ON 8) wurde Ali K***** der Vergehen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB (I), der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (II), der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (III/1) und der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB (III/2) schuldig erkannt.
Danach hat er in D*****
(I) „zwischen September 2007 und 21. 09. 2010 gegen Yadikar K***** eine längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem er die Genannte regelmäßig am Körper misshandelte“,
(II) am 21. September 2010 Yadikar K***** durch gefährliche Drohung, nämlich die Äußerung „Ich bringe dich um, wenn du zur Polizei gehst“, zum Unterlassen der Erstattung einer Strafanzeige gegen ihn zu nötigen versucht und
(III) Yadikar K***** vorsätzlich am Körper verletzt, nämlich
1) am 18. März 2010, indem er mit einem Keramikaschenbecher mehrmals gegen ihren Körper schlug, wodurch die Genannte „eine Verletzung“ am linken Ellenbogen, an der linken Hüfte sowie am linken Oberschenkel erlitt, und
2) am 21. September 2010, indem er sie zu Boden stieß, würgte und ihr Tritte versetzte, was eine an sich schwere Körperverletzung, nämlich einen knöchernen Abriss an der rechten Großzehe, zur Folge hatte.
Wie die Generalprokuratur in ihrer gegen dieses Urteil gemäß § 23 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, verletzt der Schuldspruch I das Gesetz in mehrfacher Hinsicht:
Rechtliche Beurteilung
1) § 107b StGB trat gemäß Art XIV Abs 1 des Zweiten Gewaltschutzgesetzes BGBl I 2009/40 mit 1. Juni 2009 in Kraft.
Der auf diese Gesetzesstelle gestützte Schuldspruch (I) fußt nach dem Urteilstenor (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) - der bei einem (wie hier) gekürzt ausgefertigten Urteil (§ 270 Abs 4 StPO) die Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) als Bezugspunkt für die materiell-rechtliche Beurteilung ersetzt (RIS-Justiz RS0125764 [T4]) - auf der Annahme, der Verurteilte habe Yadikar K***** vom September 2007 bis zum 21. September 2010 wiederholt am Körper misshandelt. Da das Erstgericht darüber hinaus weder einen fahrlässig herbeigeführten Verletzungserfolg (§ 83 Abs 2 StGB) noch eine öffentliche oder vor mehreren Leuten erfolgte Tatbegehung (§ 115 Abs 1 StGB) feststellte, war das dem Verurteilten angelastete Verhalten vor dem Inkrafttreten des Zweiten Gewaltschutzgesetzes nicht strafbar, womit die Verurteilung hinsichtlich des Zeitraums vom September 2007 bis zum 31. Mai 2009 gegen §§ 1 Abs 1, 61 erster Satz StGB verstößt.
2) Nach § 270 Abs 4 Z 2 StPO hat eine gekürzte Urteilsausfertigung im Fall einer Verurteilung (ua) die vom Gericht als erwiesen angenommenen Tatsachen in gedrängter Darstellung zu enthalten. Das bedeutet, dass der bloße Ausspruch im Sinn des § 260 Abs 1 Z 1 StPO allein nicht reicht, das Erstgericht vielmehr sämtliche Tatsachenfeststellungen treffen muss, die für die rechtliche Beurteilung erforderlich sind (15 Os 10/12b; Danek, WK-StPO § 270 Rz 60).
Da nicht jeder wiederholte Angriff gegen ein Opfer dem Tatbestand des § 107b (hier: Abs 1) StGB zu subsumieren ist, sondern auch auf die Eingriffsintensität und die sonstigen Tatbegehungsmodalitäten mit Blick auf die konkrete Situation des Opfers Bedacht zu nehmen ist, sind insoweit zwecks rechtsrichtiger Subsumtion Konstatierungen zu den Faktoren Dauer, Dichte und Intensität der Gewaltausübung zu treffen (eingehend 13 Os 143/11w mwN), welchem Erfordernis das gegenständliche Urteil nicht entspricht.
In Bezug auf den Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis zum 21. September 2010 verletzt das Urteil somit §§ 488 Abs 1, 270 Abs 4 Z 2 StPO iVm § 107b Abs 1 und Abs 2 StGB.
3) Da die aufgezeigten Rechtsfehler geeignet sind, zum Nachteil des Verurteilten zu wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
4) Dabei (3) war im Hinblick auf die Tatzeiten zu den Vergehen der Nötigung (II), der Körperverletzung (III/1) und der schweren Körperverletzung (III/2) mit einer Aufhebung des gesamten Urteils vorzugehen, um dem Erstgericht die Möglichkeit zu eröffnen, das inkriminierte Verhalten einer neuerlichen Gesamtbeurteilung zu unterziehen (§ 292 erster Satz StPO iVm § 289 StPO):
Gemäß § 107b Abs 2 StGB übt Gewalt im Sinn von § 107b Abs 1 StGB aus, wer eine andere Person am Körper misshandelt (erster Fall) oder vorsätzliche mit Strafe bedrohte Handlungen gegen Leib und Leben oder gegen die Freiheit mit Ausnahme der strafbaren Handlungen nach §§ 107a, 108 und 110 StGB begeht (zweiter Fall).
Im zweiten Fall des § 107b Abs 2 StGB muss der Vorsatz des Täters daher - bei jedem Teilakt (Schwaighofer in WK2 § 107b Rz 27, Winkler SbgK § 107b Rz 113) - sowohl dem Tatbestand des jeweiligen Anknüpfungsdelikts entsprechen als auch (im Sinn des § 107b Abs 1 StGB) darauf gerichtet sein, längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt auszuüben (Winkler SbgK § 107b Rz 112 bis 114, zu den Tatbestandserfordernissen des § 107b Abs 1 StGB siehe 13 Os 143/11w).
Unter dem Aspekt allfälliger Konkurrenz zwischen § 107b Abs 1 StGB und einem der in § 107b Abs 2 zweiter Fall StGB bezeichneten Anknüpfungsdelikte enthält § 107b Abs 5 StGB eine Subsidiaritätsklausel (dazu Ratz in WK2 Vorbem zu §§ 28 bis 31 Rz 36, 38 f) dahin, dass mit strengerer Strafdrohung als § 107b StGB versehene strafbare Handlungen die in dieser Bestimmung zusammengefassten Tatbestände verdrängen.
Umgekehrt geht die Lehre einhellig davon aus, dass Anknüpfungsdelikte, die nicht von der Subsidiäritätsklausel des § 107b Abs 5 StGB umfasst sind, ihrerseits vom jeweiligen Tatbestand des § 107b StGB verdrängt werden (Mitgutsch, Ausgewählte Probleme der Freiheitsdelikte - Beharrliche Verfolgung und fortgesetzte Gewaltausübung, JB Strafrecht BT 2010, 21 [42]; Schwaighofer in WK2 § 107b Rz 54 bis 59; Tipold, Zur Auslegung des § 107b StGB [Fortgesetzte Gewaltausübung] JBl 2009, 677 [682]; Winkler SbgK § 107b Rz 167). Insoweit kommt allein das Scheinkonkurrenzverhältnis der Spezialität (dazu Ratz in WK2 Vorbem zu §§ 28 bis 31 Rz 32 bis 35) in Betracht, weil allein fortgesetzte Gewaltausübung im Sinn des § 107b Abs 2 zweiter Fall StGB - wie dargelegt - die Verwirklichung sämtlicher Merkmale des jeweiligen Anknüpfungsdelikts und überdies die Erfüllung der speziellen Merkmale des § 107b Abs 1 StGB verlangt (Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs zum Entwurf für ein Zweites Gewaltschutzgesetz 28/SN-193/ME 23. GP 5).
Setzt der Täter hingegen neben den von § 107b StGB umfassten weitere Taten, die einem der in § 107b Abs 2 zweiter Fall StGB bezeichneten Anknüpfungstatbestände zu unterstellen - aber eben nicht vom § 107b Abs 1 StGB entsprechenden Vorsatz getragen - sind, bleibt kein Raum für die Annahme eines Scheinkonkurrenzverhältnisses, sodass der jeweils verwirklichte Tatbestand mit § 107b StGB echt konkurriert. Bei der Strafbemessung ist in solchen Fällen zu beachten, dass (in Relation zu einer Verurteilung hinsichtlich aller Taten - ausschließlich - nach § 107b StGB) zwar ein Erschwerungsgrund (§ 33 Abs 1 Z 1 StGB) hinzutritt, gleichzeitig aber dem Schuldspruch wegen des Vergehens (oder Verbrechens) nach § 107b StGB geringeres Gewicht zukommt (§ 32 Abs 3 StGB).
Auf die - wie dargelegt ausschließlich über die subjektive Tatseite zu beantwortende - Frage, ob die von den Schuldsprüchen II und III umfassten Taten in den Subsumtionsbereich des § 107b Abs 1 StGB fallen (womit die jeweiligen Anknüpfungsdelikte verdrängt würden), wird im neuerlichen Rechtsgang besonderes Augenmerk zu legen sein.
Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass auch die Urteilsannahme zum Schuldspruch III/1, Yadikar K***** habe durch die diesbezügliche Tat des Verurteilten „eine Verletzung“ erlitten (US 2), mangels hinreichenden Sachverhaltsbezugs die vorgenommene Subsumtion nicht trägt.
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