OGH 10ObS29/12f

OGH10ObS29/12f13.3.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, 3100 St.Pölten, Kremser Landstraße 3, vertreten durch Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die ordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. November 2011, GZ 10 Rs 36/11d-16, womit das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. Dezember 2010, GZ 22 Cgs 43/10g-12, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Beide Parteien haben die Kosten ihrer Rechtsmittelschriften selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der Klägerin wurde anlässlich der Geburt ihres Sohnes Paul S***** am 30. 4. 2002 für den Zeitraum von 1. 1. 2003 bis 31. 12. 2003 Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 5.303,45 EUR zuerkannt und ausbezahlt. Im maßgeblichen Zeitraum erzielte die Klägerin ein - über der Zuverdienstgrenze von 14.600 EUR liegendes - Einkommen aus nicht selbständiger Arbeit von 17.193,77 EUR.

Mit Bescheid vom 5. 9. 2007 widerrief die beklagte Partei die Zuerkennung des Kinderbetreungsgeldes für den Zeitraum vom 1. 1. 2003 bis 31. 12. 2003 und verpflichtete die Klägerin zum Ersatz der unberechtigt empfangenen Leistung in Höhe von 5.303,45 EUR.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 8. 10. 2007 Klage, die sie am 16. 11. 2009 zurückzog. Sie verpflichtete sich gegenüber der beklagten Partei zur Zahlung des aushaftenden Rückforderungsbetrags. In der Folge fand ein Schriftwechsel über Zahlungserleichterungen statt. Die Klägerin drang wiederholt darauf, dass die beklagte Partei - zumindest teilweise - von der Rückforderung absehen möge, wofür die beklagte Partei aber keinen Anlass sah. In eventu begehrte die Klägerin die Gewährung von Ratenzahlungen. Letztendlich teilte sie der beklagten Partei im Juni 2010 mit, dass sie (überhaupt) nicht mehr beabsichtige, den Rückforderungsbetrag zu begleichen.

Daraufhin erließ die beklagte Partei am 28. 6. 2010 einen Wiederholungsbescheid. Gegen diesen brachte die Klägerin am 26. 7. 2010 die vorliegende Klage ein.

Der Zeitpunkt, in dem die Mitarbeiter der beklagten Partei erstmals in Kenntnis des maßgebenden Sachverhalts betreffend die Überschreitung der Einkommensgrenze waren, ist in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum (ersten) Bescheid vom 5. 9. 2007 zu suchen (S 6 des Ersturteils).

Die Klägerin bringt im Wesentlichen vor, die Rückforderung sei unberechtigt, weil die beklagte Partei in derselben Rechtssache keinen zweiten Bescheid erlassen hätte dürfen. Außerdem sei der Anspruch auf Rückforderung nunmehr verjährt.

Die beklagte Partei beantragte die Zurückweisung der Klage gemäß § 73 ASGG; in eventu die Abweisung des Klagebegehrens. Die Erlassung eines Wiederholungsbescheids entspreche § 72 Z 1 ASGG (in der bis 31. 12. 2009 geltenden und im gegenständlichen Fall noch zur Anwendung zu bringenden) Fassung. Der Vorwurf der Verjährung sei ungerechtfertigt, weil die Klägerin rechtsmissbräuchlich oder zumindest aus rechtsirrigen Motiven handle.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und verpflichtete die Klägerin zur Rückzahlung. Rechtlich ging es davon aus, im Hinblick auf § 71 Abs 1 ASGG und § 72 Z 1 ASGG sei der Vorwurf der rechtswidrigen Erlassung eines Wiederholungsbescheids ungerechtfertigt. Der Eintritt der Verjährung sei aus mehrfachen Gründen zu verneinen. Der Rückforderungsanspruch bestehe schon aufgrund des Anerkenntnisses der Klägerin zu Recht; das Anerkenntnis habe die Verjährungsfrist unterbrochen. Außerdem sei der Bescheid vom 5. 9. 2007 jedenfalls binnen offener Fünfjahresfrist des § 31 Abs 7 KBGG ergangen. Anschließend habe die Klägerin versucht, die Durchsetzung des zu Recht bestehenden Rückforderungsanspruchs durch die rechtsmissbräuchliche Ausübung von Gestaltungsrechten möglichst lange hinauszuzögern. Die dem Bescheid vom 5. 9. 2007 folgende Verfahrensverschleppung sei allein ihrer Vorgangsweise zuzurechnen. Auf den genauen Zeitpunkt der Kenntniserlangung der Einkommenssituation durch die beklagte Partei iSd § 31 Abs 7 KBGG müsse aus diesen Gründen nicht näher eingegangen werden. Da die Klageerhebung rechtsmissbräuchlich erfolgt sei, habe die Klägerin der beklagten Partei deren Kosten gemäß § 77 Abs 3 ASGG zu ersetzen.

Das Berufungsgericht verwarf die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung der Klägerin wegen Nichtigkeit, gab im Übrigen der - auch im Kostenpunkt erhobenen - Berufung nicht Folge und sprach aus, dass beide Parteien die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen haben. Nach der hier noch anzuwendenden Rechtslage sei der bekämpfte Kinderbetreuungsgeld-Rückforderungsbescheid durch die Klageerhebung ex lege außer Kraft getreten und sei durch die Gerichtsentscheidung ersetzt worden. Da es der Klägerin freigestanden sei, ihre Klage in jedem Verfahrensstadium zurückzuziehen und in diesen Fällen das Verfahren ohne Gerichtsentscheidung beendet wurde, sei die Situation aufgetreten, dass dem Krankenversicherungsträger kein exekutionsfähiger Titel mehr zur Verfügung gestanden sei und ein Wiederholungsbescheid erlassen werden musste. Es liege deshalb weder Streitanhängigkeit vor, noch sei eine Verletzung der Rechtskraft eingetreten. Der Berufungsgrund der (primären) Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens sei in der Berufung nicht ausgeführt worden; ein rechtlicher Feststellungsmangel infolge Fehlens von Feststellungen zum genauen Zeitpunkt der Kenntnis der beklagten Partei vom Rückforderungstatbestand sei mangels rechtlicher Relevanz zu verneinen. Nach § 31 Abs 7 KBGG in der vor 1. 1. 2008 geltenden - hier noch zur Anwendung zu bringenden - Fassung sei die Rückforderung einer bereits bezahlten Leistung nur für einen Zeitraum von fünf Jahren - zurückgerechnet ab der Kenntnis des maßgeblichen Sachverhalts durch den Krankenversicherungsträger zulässig. Dass auch der Rückforderungsbescheid innerhalb dieser Fünfjahresfrist erlassen worden sein muss, sei dem Gesetzestext nicht entnehmbar und ergebe sich auch nicht aus der Entscheidung 10 ObS 45/10f. Im Übrigen treffe diese Voraussetzung auf den (ersten) Bescheid vom 5. 9. 2007 ohnedies zu. Eine Verjährung des Rückforderungsanspruchs sei deshalb zu verneinen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 Ob 45/10f noch nicht ausdrücklich dazu Stellung genommen habe, inwieweit auch eine Bescheiderlassung innerhalb der Fünfjahresfrist des § 31 Abs 7 KBGG erforderlich sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidung des Berufungsgerichts in der Hauptsache in ein klagestattgebendes Urteil abzuändern, die Entscheidung im Kostenpunkt ersatzlos zu beheben und die beklagte Partei zum Ersatz der gesamten Verfahrenskosten zu verurteilen.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist - soweit Nichtigkeit geltend gemacht wird und auch im Kostenpunkt - absolut unzulässig; im Übrigen ist sie mangels einer Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

1. Ist das Berufungsgericht in die Prüfung einer allfälligen, im erstinstanzlichen Verfahren unterlaufenen Nichtigkeit eingegangen und hat eine solche verneint, ist die Wahrnehmung dieser Nichtigkeit im Verfahren dritter Instanz nicht mehr möglich (RIS-Justiz RS0042981). Soweit neuerlich die Nichtigkeit wegen Streitanhängigkeit und Verletzung der Rechtskraft geltend gemacht wird, obwohl sie das Berufungsgericht bereits - mit gemäß § 519 ZPO unanfechtbarem Beschluss - verneint hat, ist die Revision zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0042981 [T4]).

2. Auch die im Kostenpunkt erhobene Revision ist unzulässig. Gemäß § 528 Abs 1 Z 2 ZPO sind Rekurse gegen die Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz über den Kostenpunkt grundsätzlich und ausnahmslos unzulässig (RIS-Justiz RS0044181; RIS-Justiz RS0053407). Dieser auch in Sozialrechtssachen anzuwendende Rechtsmittelausschluss (RIS-Justiz RS0053407 [T17]) gilt sowohl für die Entscheidung über die Kosten des erstinstanzlichen als auch für die Entscheidung über die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens. Die Bekämpfung der Kostenentscheidung des Gerichts zweiter Instanz ist daher unzulässig, sodass die Revision auch in diesem (weiteren) Umfang zurückzuweisen war.

3. Unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens rügt die Revisionswerberin nicht die Verletzung von Prozessgesetzen, sondern das Fehlen von - ihrer Ansicht nach - rechtlich relevanten Feststellungen darüber, zu welchem konkreten Zeitpunkt der Sachbearbeiter der beklagten Partei (individuelle) Kenntnis vom Rückforderungstatbestand erhalten hat. Feststellungsmängel sind aber ausschließlich mit Rechtsrüge geltend zu machen (Kodek in Rechberger, ZPO3 § 496 Rz 4). Ein (primärer) Mangel des Berufungsverfahrens zufolge Verletzung von Prozessgesetzen ist demnach zu verneinen.

4. In ihrer Rechtsrüge bringt die Revisionswerberin zusammengefasst vor, eine Verpflichtung zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen sei nur dann rechtswirksam und durchsetzbar, wenn ein entsprechender Bescheid erlassen worden sei. Deshalb habe auch der Rückforderungsbescheid innerhalb der Frist von fünf Jahren ab Kenntnis des maßgebenden Sachverhalts zu ergehen, wobei diese Frist so zu berechnen sei, dass zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre hinzuzurechnen seien, um den spätest möglichen Zeitpunkt für die Erlassung eines Rückforderungsbescheids zu eruieren. Da Feststellungen dazu fehlten, wann der Sachbearbeiter der beklagten Partei erstmals Kenntnis vom maßgebenden Sachverhalt erlangt habe, sei nicht beurteilbar, ob der Wiederholungsbescheid vom 28. 6. 2010 innerhalb der Fünfjahresfrist des § 31 Abs 7 KBGG ergangen sei oder nicht.

Dazu ist auszuführen:

4.1. Die Rückforderung des von der Klägerin bezogenen Kinderbetreungsgeldes richtet sich nach § 31 Abs 7 KBGG. Im Hinblick auf die Übergangsvorschrift des § 49 Abs 14 KBGG idF BGBl I 2007/76 ist § 31 Abs 7 KBGG im vorliegenden Fall in der bis zum 31. 7. 2007 geltenden Stammfassung anzuwenden. Diese entspricht im Wesentlichen der Bestimmung des § 39 Abs 8 KGG; diese Regelung entspricht wiederum inhaltlich weitgehend dem § 25 Abs 6 AlVG (10 ObS 45/10f mwN).

4.2. Bereits in der Entscheidung 10 ObS 45/10f wurde ausgeführt, dass § 31 Abs 7 KBGG vor diesem Hintergrund und seinem klaren Wortlaut nach allein dahin verstanden werden kann, dass nur für einen Zeitraum von fünf Jahren - zurückgerechnet ab der Kenntnis des maßgeblichen Sachverhalts durch den Krankenversicherungsträger - die Rückforderung einer bereits bezahlten Leistung oder die Nachzahlung einer nicht gewährten Leistung (infolge nachträglicher Änderungen) zulässig sein soll, während weiter zurückliegende Zeiträume sowohl für den Versicherten als auch für den Versicherungsträger unangreifbar sein sollen. § 31 Abs 7 KBGG aF stellt somit auf in der Vergangenheit liegende Zeiträume ab, für die die Verfügung zur Nachzahlung zulässig bzw unzulässig sein soll. Bereits aus der Entscheidung 10 ObS 45/10f ergibt sich eindeutig, dass die von der Revisionswerberin vertretene Ansicht, es komme allein darauf an, dass der Versicherungsträger innerhalb von fünf Jahren - ab Kenntnis des maßgeblichen Sachverhalts durch den Krankenversicherungsträger in die Zukunft gerechnet - einen Bescheid erlässt, dem Wortlaut des § 31 Abs 7 KBGG nicht entspricht.

4.3. Vielmehr ist auch im vorliegenden Fall maßgeblich, ob der Bezugszeitraum (1. 1. 2003 bis 31. 12. 2003) angesichts des Zeitpunkts der Kenntnis der beklagten Partei innerhalb des in § 31 Abs 7 KBGG genannten (rückzurechnenden) Zeitraums von fünf Jahren liegt. Das Erstgericht ist von der - für den Obersten Gerichtshof bindenden - Feststellung ausgegangen, dass die Kenntnis der beklagten Partei vom Rückforderungstatbestand spätestens mit Erlassung des (ersten) Bescheids vom 5. 9. 2007 vorgelegen sein musste. Im Fehlen von Feststellungen zu welchem - allenfalls früheren Zeitpunkt - der Sachbearbeiter des Krankenversicherungsträgers tatsächlich Kenntnis vom Rückforderungstatbestand erlangt hat, ist schon deshalb kein rechtlich relevanter Feststellungsmangel zu erkennen, weil ausgehend von der oben dargelegten Rechtsansicht auch bei Vorliegen einer derartigen Feststellung der Bezugszeitraum im Jahr 2003 jedenfalls innerhalb des Zeitraums von fünf Jahren liegt.

Die Revision war demnach mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Klägerin auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Aktuelle berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse, die einen ausnahmsweisen Kostenersatz nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht bescheinigt und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich. Die beklagte Partei hat als Versicherungsträger iSd § 77 Abs 1 Z 1 ASGG die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens selbst zu tragen.

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