OGH 10Ob45/10f

OGH10Ob45/10f5.10.2010

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen M*****, geboren am 4. Juli 2001, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 3 und 11, 1030 Wien, Karl-Borromäus-Platz 3), über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 4. Mai 2010, GZ 44 R 202/10x-65, womit infolge Rekurses des Kindes der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 15. März 2010, GZ 9 PU 51/10s-58, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass das auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen über den 30. 4. 2010 hinaus gerichtete Mehrbegehren abgewiesen wird.

Text

Begründung

Der am 4. 7. 2001 geborene M***** ist der Sohn von A***** und S*****. Der Minderjährige und seine Mutter sind österreichische Staatsbürger und leben im gemeinsamen Haushalt in Detmold, Deutschland. Der Vater ist türkischer Staatsangehöriger, lebt in Wien und bezieht seit 16. 1. 2010 Arbeitslosengeld. Er ist aufgrund eines am 18. 10. 2005 vor dem Bezirksgericht Innere Stadt Wien abgeschlossenen Unterhaltsvergleichs zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 250 EUR an das Kind verpflichtet.

Das Kind stellte am 26. 2. 2010 (ON 55) beim Erstgericht den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach §§ 3, 4 Z 1 UVG.

Mit Beschluss vom 15. 3. 2010 (ON 58) bewilligte das Erstgericht dem Kind gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum vom 1. 2. 2010 bis 30. 4. 2010 Unterhaltsvorschüsse in monatlicher Höhe von 250 EUR. Eine ausdrückliche Abweisung des Mehrbegehrens auf Gewährung der Unterhaltsvorschüsse über den 30. 4. 2010 hinaus unterblieb. Das Erstgericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Unterhaltsschuldner nach Eintritt der Vollstreckbarkeit den laufenden Unterhaltsbetrag nicht zur Gänze geleistet habe. Beim Bezirksgericht Hernals sei gegen den Unterhaltsschuldner am 24. 2. 2010 eine Exekution gemäß § 294a EO beantragt worden. Nach dem deutschen Unterhaltsvorschussgesetz bestehe kein Anspruch des Kindes auf eine Unterhaltsvorschussgewährung, weil die das Kind betreuende Mutter vor kurzem geheiratet habe und dieser Umstand einen Anspruch des Kindes auf deutschen Unterhaltsvorschuss ausschließe. Die Gewährung des Unterhaltsvorschusses sei mit 30. 4. 2010 zu begrenzen, da die Durchführungsverordnung zur neuen Wanderarbeitnehmerverordnung Nr 883/2004 mit 1. 5. 2010 in Kraft trete und damit eine „Exportverpflichtung“ entfalle.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass es dem Kind die Unterhaltsvorschüsse in Höhe von monatlich 250 EUR für den Zeitraum vom 1. 2. 2010 bis 31. 1. 2015 gewährte. Das Kind habe zum maßgebenden Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz (15. 3. 2010) Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse gemäß der damals noch geltenden VO (EWG) 1408/71 gehabt. Es treffe zwar zu, dass die mit 1. 5. 2010 in Kraft getretene neue Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 auf Unterhaltsvorschüsse nicht mehr anzuwenden sei und damit auch die bisher geltende „Exportverpflichtung“ nicht mehr bestehe. Da jedoch keine Übergangsbestimmung bestehe, welche einen Wegfall eines bis zum Inkrafttreten der neuen Koordinierungsverordnung bestehenden Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss vorsehe, gebühre der Unterhaltsvorschuss nach Ansicht des Rekursgerichts auch über den 30. 4. 2010 hinaus. Da zu dieser Rechtsfrage noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege, erklärte das Rekursgericht den Revisionsrekurs gegen seine Entscheidung für zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses.

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel keine Folge zu geben. Vater und Mutter haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

Der Revisionsrekurswerber macht geltend, die Entscheidung des Rekursgerichts stehe im Widerspruch zu § 8 UVG, wonach die Vorschüsse für die Dauer des voraussichtlichen Vorliegens der Voraussetzungen, jedoch längstens für fünf Jahre zu gewähren seien. Mangels gegenteiliger Übergangsbestimmungen sei der mit dem Inkrafttreten der neuen Koordinierungsvereinbarung (EG) 883/2004 verbundene Wegfall der Exportverpflichtung für Zeiträume ab 1. 5. 2010 zu beachten, da bei Dauerrechtsverhältnissen im Fall einer Gesetzesänderung der in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts reichende Teil des Dauertatbestands grundsätzlich nach dem neuen Recht zu beurteilen sei. Diese Änderung der Rechtslage sei im Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz bereits festgestanden.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu.

1. Nach § 8 UVG sind Vorschüsse - abgesehen von Vorschüssen nach § 4 Z 4 UVG - vom Beginn des Monats, in dem das Kind dies beantragt, für die Dauer des voraussichtlichen Vorliegens der Voraussetzungen, jedoch jeweils längstens für fünf Jahre zu gewähren. Die Unterhaltsvorschussgewährung hat somit für einen Zeitraum von (nunmehr) längstens fünf Jahren zu erfolgen, soweit nicht zu erwarten ist, dass die Voraussetzungen für die Unterhaltsvorschussgewährung früher wegfallen (vgl 6 Ob 114/07v; 7 Ob 588/95 ua). Der Wegfall der Voraussetzungen für die Gewährung der Vorschüsse bildet auch einen Grund für die Einstellung der Vorschüsse nach § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG.

2. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass der Minderjährige aufgrund der VO (EWG) 1408/71 für den Zeitraum vom 1. 2. 2010 bis 30. 4. 2010 Anspruch auf Unterhaltsvorschuss in Titelhöhe hatte. Mit 1. 5. 2010 wurde die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des EuGH als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden (10 Ob 25/10i; 10 Ob 14/10x). Dies bedeutet, dass seit dem 1. 5. 2010 Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen sind. Die vom EuGH für den österreichischen Unterhaltsvorschuss in der Rechtssache Humer (vgl EuGH 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205) nach der VO (EWG) 1408/71 statuierte Exportverpflichtung für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, besteht aufgrund der Unanwendbarkeit des Koordinierungsrechts nicht mehr (Felten/Neumayr, Die neue Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, iFamZ 2010, 164 ff [165 f]; Pfarrhofer, Verpflichtung zum Export von Unterhaltsvorschussleistungen ist entfallen, Zak 2010/395, 229; Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU 9 ff [24], Marhold, Neuordnung der Koordinierung der Familienleistungen in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU 55 ff [57] ua). Es liegt im vorliegenden Fall aber auch keine Fallkonstellation vor, bei der allenfalls aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (ex-Art 12 EG) oder aus der VO (EWG) 1612/68 ein Anspruch des Kindes auf österreichischen Unterhaltsvorschuss abgeleitet werden könnte (vgl Felten/Neumayr aaO iFamZ 2010, 166 ff). Dem Kind steht daher aufgrund der seit 1. 5. 2010 geltenden Rechtslage ein Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse nicht (mehr) zu.

3.1 Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht auf eine Änderung der Rechtslage in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind. Es ist daher grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen, ob eine Rechtsänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist (RIS-Justiz RS0031419). Sofern der Rechtssetzer nicht ausdrücklich anderes verfügt oder wenn der besondere Charakter einer zwingenden Norm nicht deren Rückwirkung verlangt, ist sie insoweit nicht anzuwenden, als der zu beurteilende Sachverhalt vor Inkrafttreten der neuen Bestimmung endgültig abgeschlossen ist. Bei Dauerrechtsverhältnissen ist im Fall einer Rechtsänderung mangels abweichender Übergangsregelung der in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Gesetzes reichende Teil des Dauertatbestands nach der Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Änderung zu beurteilen (10 Ob 14/10x, 6 Ob 263/04a ua).

3.2 Die neue VO (EG) 883/2004 enthält in ihrem Art 87 keine spezielle Übergangsbestimmung für bereits bewilligte Unterhaltsvorschüsse, die aufgrund der alten VO (EWG) 1408/71 in das EU-Ausland exportiert werden. Bei Ansprüchen nach der VO (EWG) 1408/71 handelt es sich in der Regel um Ansprüche, die erst durch das Unionsrecht entstanden sind. Es steht daher dem europäischen Gesetzgeber auch zu, diese Ansprüche zu ändern (vgl Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht5 Teil 2 Art 87 Rz 4). Da der Unterhaltsvorschussantrag in die Zukunft gerichtet ist, ist die Änderung der Rechtslage mit 1. 5. 2010 zu berücksichtigen und es ist für die Perioden ab dem 1. 5. 2010 demnach bereits die neue Rechtslage anzuwenden (10 Ob 14/10x mwN).

4. Das Erstgericht hat daher den Unterhaltsvorschuss zutreffend nur für den im Rechtsmittelverfahren nicht mehr strittigen Zeitraum vom 1. 2. 2010 bis 30. 4. 2010 bewilligt. Es war somit in Stattgebung des Revisionsrekurses des Bundes der erstgerichtliche Beschluss mit der Maßgabe wiederherzustellen, dass das auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen über den 30. 4. 2010 hinaus gerichtete Mehrbegehren ausdrücklich abgewiesen wird.

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