OGH 5Ob188/11z

OGH5Ob188/11z9.11.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Ladislav J*****, geboren am *****, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters Dipl.-Ing. Helmut J*****, vertreten durch Ing. Mag. Klaus Helm, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 8. Juni 2011, GZ 16 R 24/11k-S140, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung

Das Erstgericht hat den Antrag des Vaters, der Mutter die Obsorge für den im Jahr 1999 geborenen Sohn zu entziehen und dem Vater zu übertragen, abgewiesen. Dem vom Vater dagegen erhobenen Rekurs gab das Rekursgericht mit dem bekämpften Beschluss nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Der Vater behauptet in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs keine unrichtige rechtliche Beurteilung durch das Rekursgericht auf der Basis des von diesem zugrunde gelegten Sachverhalts. Der Vater macht aber in seinem Revisionsrekurs vermeintliche Neuerungen geltend, aus denen seiner Ansicht nach folgen solle, dass der von den Vorinstanzen angenommene Wunsch des Sohnes im Sinn des Weiterverbleibs bei der Mutter auf deren Beeinflussung zurückzuführen sei und nach jüngsten Vorkommnissen im Fall des Weiterverbleibs des Sohnes bei der Mutter eine Kindeswohlgefährdung vorliege, die die Obsorgezuteilung an den Vater erfordere. So habe der Sohn anlässlich eines Besuchs beim Vater am 6. 7. 2011 von der Entscheidung des Rekursgerichts erfahren und sich daraufhin geweigert, wieder zur Mutter zurückzukehren. Es sei auch aktenkundig, dass der Sohn im Verlauf des Obsorgestreits schon öfter nicht zur Mutter habe zurückkehren wollen und - nicht aktenkundig - zuletzt am 26. 1. 2011 von zu Hause weggelaufen sei. Nach den Erzählungen des Sohnes habe diesen die Mutter mindestens sieben bis achtmal massiv geschlagen und mit Drohungen eingeschüchtert, wie etwa mit der Ankündigung, dessen Hasen „wegzuschmeißen“. Aus diesen Gründen und infolge Beeinflussung durch die Mutter habe sich der Sohn bei früheren Befragungen durch Gericht und Jugendwohlfahrtsträger nicht zu sagen getraut, dass er zum Vater wolle. Mit dem nunmehr dokumentierten Wunsch des Sohnes sei der Entscheidung des Rekursgerichts die wesentliche Tatsachengrundlage entzogen. Auch die massive Verletzung des Gewaltverbots mache zur Wahrung des Kindeswohls den Obsorgewechsel erforderlich. Dazu kämen geplante „Abschiebungen“ des Kindes ins Ausland in den Jahren 2007 und 2009, was insgesamt eine positive Zukunftsprognose für das Kind bei Obsorge der Mutter ausschließe. Jedenfalls hätte das Rekursgericht zur Ermittlung des wirklichen Willens des Kindes ein psychologisches Gutachten einholen müssen; das Unterlassen dieser Maßnahme begründe einen Mangel des Rekursverfahrens.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Ausführungen des Vaters in seinem Revisionsrekurs ist Folgendes zu erwidern:

1. Die einmal getroffene Regelung, welchem Elternteil alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) allein zustehen, soll nicht bereits bei geringfügigen Veränderungen der Interessenlage, sondern nur dann geändert werden, wenn das Wohl des Kindes gefährdet (RIS-Justiz RS0047916; RS0047841), wenn also im Interesse des Kindes ein Wechsel in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen dringend geboten ist, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein strenger Maßstab angelegt werden muss (RIS-Justiz RS0048699; RS0047841). Die Entziehung der Obsorge ist demnach nur dann geboten, wenn der das Kind betreuende Elternteil seine Erziehungspflichten vernachlässigt, seine Erziehungsgewalt missbraucht oder den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen ist (9 Ob 54/10x; 7 Ob 182/10f mwN). Ob dies zutrifft, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und stellt daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG dar (8 Ob 144/10z). Nur wenn auf das im Vordergrund stehende Kindeswohl nicht ausreichend Bedacht genommen worden wäre, ist eine solche Obsorgeentscheidung revisibel (9 Ob 54/10x; 7 Ob 182/10f).

2. Für die vom Vater reklamierte Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens durch das Rekursgericht gilt zunächst, dass die Entscheidung, ob die Einholung eines solchen Gutachtens geboten ist, den Tatsacheninstanzen obliegt (8 Ob 144/10z). Im vorliegenden Fall zeigt sich das nicht untypische Bild eines von der Trennung und Scheidung der Eltern sowie dem Obsorgestreit belasteten und von den Eltern in ihrer Auseinandersetzung instrumentalisierten Kindes. Wenn die Vorinstanzen der Ansicht waren, bei der Beurteilung einer solchen, in familienrechtlichen Verfahren nicht ungewöhnlichen Situation ohne die (amtswegige) Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens auskommen zu können, ist darin - auf der Basis des Kenntnisstandes des Rekursgerichts - keine vom Obersten Gerichtshof als unvertretbar aufzugreifende Einschätzung zu erkennen; der gerügte Verfahrensmangel liegt somit nicht vor.

3. Im Übrigen vermag der Vater in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs - auf der Grundlage der erstgerichtlichen Feststellungen - keine unrichtige rechtliche Beurteilung der - einzelfallbezogenen (RIS-Justiz RS0007101) - Obsorgeentscheidung des Rekursgerichts aufzuzeigen.

4.1. Dem Vater ist im Grundsatz dahin beizupflichten, dass das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich geltende Neuerungsverbot nach herrschender Rechtsprechung im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen ist, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS-Justiz RS0048056). Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt. Sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS-Justiz RS0106312).

4.2. Allerdings verkennt der Vater, dass allein neues Vorbringen in einem Rechtsmittel die betreffenden Behauptungen noch nicht schon zur aktenkundigen und deshalb zu berücksichtigenden Tatsachengrundlage machen. Dies gilt namentlich für Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären sind (2 Ob 130/08v; vgl auch 2 Ob 162/11d), ist doch ein solches Beweisverfahren nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, der nicht auch Tatsachen-, sondern ausschließlich Rechtsinstanz ist (RIS-Justiz RS0108449).

4.3. Die Behauptungen des Vater in seinem Revisionsrekurs über den angeblichen Wunsch des Sohnes, künftig bei ihm bleiben zu wollen, und seine gegen die Mutter erhobenen Vorwürfe sind keineswegs so eindeutig verifiziert, dass sie ohne weitere Erhebungen als Tatsachengrundlage der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zugrundegelegt werden könnten. Nach der Aktenlage besteht der Eindruck, dass der Sohn gerade jenen Vorstellungen zugeneigt sein könnte, die der ihm gerade am nächsten stehende Elternteil von ihm erwartet. Die teilweise übertrieben anmutenden (jedenfalls äußerst emotional vorgetragenen) Anwürfe des Vaters gegen die Mutter finden in den Berichten des Jugendwohlfahrtsträgers (ON 100, 112) keine Stütze. Die vom Sohn während der Aufenthalte beim Vater geschriebenen, für das Gericht bestimmten Briefe, die die Vorwürfe des Vaters gegen die Mutter untermauern sollen, weisen einen Aufbau und eine Diktion auf, die von einem unbeeinflussten Buben im Alter von 12 Jahren nicht zu erwarten sind. Schließlich hat das Erstgericht nach den weiteren Eingaben des Vaters und nach Befragung der Beteiligten mit seinem Beschluss vom 4. 10. 2011 (ON S167) zwar einzelne vorläufige Anordnungen getroffen, aber in seiner Entscheidungsbegründung lediglich auf „das Spannungsfeld zwischen den Eltern“ verwiesen und keineswegs zum Ausdruck gebracht, dass es die vom Vater gegen die Mutter erhobenen Vorwürfe als erwiesen annehme. Die im Revisionsrekurs vom Vater neu aufgestellten Behauptungen können daher nicht als aktenkundige Tatsachengrundlage berücksichtigt werden, sondern werden im Rahmen der Entscheidung über den vom Vater ohnehin schon gestellten neuen Obsorgeübertragungsantrag zu berücksichtigen sein.

Eine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG stellt sich insgesamt nicht; der Revisionsrekurs ist daher unzulässig und zurückzuweisen.

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