OGH 7Ob104/11m

OGH7Ob104/11m31.8.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*****‑AG *****, vertreten durch Marschall & Heinz Rechtsanwalts‑Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei E***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Hans Houska, Rechtsanwalt in Wien, wegen 284.738 EUR (sA), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 17.519,56 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 22. März 2011, GZ 5 R 260/10g‑50, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 6. Oktober 2010, GZ 35 Cg 100/07f‑45, infolge Berufung der klagenden Partei bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden, soweit sie nicht im Umfang der Abweisung von 267.218,44 EUR in Rechtskraft erwachsen sind, aufgehoben. Die Rechtssache wird im aufgehobenen Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die I***** GmbH (im Folgenden Auftraggeberin) beauftragte die Beklagte, Bauteile für Computersysteme von Wien nach Moskau zu transportieren. Die Beklagte ließ den Transport durch einen Subfrächter durchführen, der das Transportgut, dessen Wert mehr als 1 Mio EUR betrug, mit zwei LKW in ein Zolllager nach Moskau brachte. Dort stellte sich heraus, dass die Plane des einen LKW aufgeschnitten und ein Teil der Ladung gestohlen worden war.

Mit der Behauptung, als Transportversicherer der Auftraggeberin dieser den Diebstahlsschaden von 282.590 EUR ersetzt und Gutachterkosten von 2.348 EUR aufgewendet zu haben, begehrte die Klägerin von der Beklagten 284.738 EUR (sA). Die Beklagte hafte gemäß Art 17 in Verbindung mit Art 3 CMR für den Diebstahl. Die Mitarbeiter des Subfrächters hätten den Transportschaden grob fahrlässig verschuldet. Die von der Beklagten bevollmächtigte Bearbeitungsstelle habe die Haftung der Beklagten mit Schreiben vom 11. 6. 2007 zwar anerkannt, habe sich aber auf die Haftungsbeschränkung des Art 23 Abs 3 CMR berufen und eine Abfindung mit 14.827 EUR angeboten, die die Klägerin nicht angenommen habe.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung. Sie habe keine grobe Fahrlässigkeit zu verantworten. Es werde Haftungsbefreiung gemäß Art 17 Abs 2 CMR geltend gemacht und hilfsweise eingewendet, dass die Haftung nach Art 23 Abs 3 CMR limitiert sei. Mangels Bekanntgabe von Details über Art und Umfang des behaupteten Verlusts habe sie nicht klären können, welche Waren mit welchem Wert in Verlust geraten seien. Ihr Angebot, unter Zugrundelegung eines Durchschnittsgewichts von 1.513 kg nach Art 23 Abs 3 CMR eine Zahlung von 14.827 EUR zu leisten, sei von der Klägerin abgelehnt worden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Klägerin sei es nicht gelungen, der Beklagten oder dem von dieser beauftragten Subfrächter ein qualifiziertes Verschulden im Sinn des Art 29 CMR nachzuweisen. Die Beklagte sei ihrer Darlegungspflicht bezüglich der näheren Umstände des Transports ausreichend nachgekommen.

Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der ersten Instanz. Dass die Schadensursache (wo und wie der Diebstahl erfolgte) nicht festgestellt habe werden können, gehe zu Lasten der Klägerin. Ein dem Vorsatz gleich zu haltendes grob fahrlässiges, der Beklagten zuzurechnendes Verhalten des Subfrächters oder der Beklagten selbst sei nicht vorgelegen. Auf den in der Berufung erhobenen Einwand der Klägerin, die Beklagte hafte jedenfalls ‑ auch wenn man keine grobe Fahrlässigkeit zugrunde lege ‑ nach Art 23 CMR, brauche nicht eingegangen zu werden, weil dieses Vorbringen dem Neuerungsverbot widerspreche. Die Klägerin habe zu dem nunmehr behaupteten (bloß) fahrlässigen Verhalten der Beklagten und ihrem daraus resultierenden Ersatzanspruch erstgerichtlich kein (Tatsachen‑)Vorbringen erstattet. Sie habe sich vielmehr ausschließlich auf grobe Fahrlässigkeit der Beklagten und ihres Subfrächters bezogen. Soweit in der Klage ausdrücklich ein bestimmter Rechtsgrund geltend gemacht werde, dürfe ihr nicht aus einem anderen Rechtsgrund stattgegeben werden.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil die zu beurteilenden Rechtsfragen in Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsprechung gelöst worden seien.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin, die unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht und beantragt, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren mit 17.519,56 EUR stattgegeben werde. Hilfsweise stellt die Klägerin einen Aufhebungsantrag. Die Abweisung des Mehrbegehrens von 267.218,44 EUR blieb unbekämpft und ist daher in Rechtskraft erwachsen.

Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, das außerordentliche Rechtsmittel ihrer Prozessgegnerin entweder als unzulässig zurückzuweisen oder ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts, an den der Oberste Gerichtshof nicht gebunden ist (§ 508a Abs 1 ZPO), zulässig, weil dem Gericht zweiter Instanz eine Fehlbeurteilung unterlaufen ist, die im Interesse der Rechtssicherheit vom Obersten Gerichtshof wahrgenommen werden muss. Sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags der Revisionswerberin deshalb auch berechtigt.

Auf den vorliegenden Rechtsfall sind unstrittig die Vorschriften des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im Internationalen Straßengüterverkehr (CMR; BGBl 1961/138 idgF) anzuwenden. Ihren Einwand, die beklagte Frachtführerin könne sich auf die in den CMR normierten Haftungsbeschränkungen gemäß Art 29 CMR nicht berufen, weil sie bzw ihr Subfrächter den Schaden grob fahrlässig verursacht habe, hält die Klägerin in dritter Instanz nicht mehr aufrecht. Zu Recht wendet sich die Revisionswerberin allerdings gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, zufolge des Neuerungsverbots sei es ihr verwehrt, ausgehend von einem (bloß) fahrlässigen Verhalten des Subfrächters der Beklagten eine entsprechend Art 23 Abs 3 CMR beschränkte Ersatzleistung zu fordern. Entgegen der Rechtsmeinung des Berufungsgerichts hat die Klägerin ihr Begehren keineswegs ausschließlich auf einen bestimmten Rechtsgrund ‑ grobe Fahrlässigkeit ‑ gestützt. Sie hat vielmehr lediglich das von ihr behauptete und vom Erstgericht detailliert festgestellte Transportgeschehen insofern rechtlich dahin beurteilt, als sie das Verhalten der Beklagten und des dieser zuzurechnenden Subfrächters als grob fahrlässig angesehen hat. Diese ‑ unrichtige ‑ rechtliche Qualifikation des als Rechtsgrund geltend gemachten Sachverhalts ist bedeutungslos (RIS‑Justiz RS0037610 [T5]; RS0058348). Wie ihr von beiden Parteien erwähntes Vergleichsangebot zeigt, hat die Beklagte ursprünglich (vorprozessual) selbst angenommen, dass sie der Klägerin nach Maßgabe des Art 23 Abs 3 CMR zu haften habe.

Wie auch schon das Erstgericht hätte sich das Berufungsgericht daher mit der Frage einer eingeschränkten Haftung der Beklagten nach Maßgabe des Art 23 Abs 3 CMR zu befassen gehabt. Nach Art 17 Abs 1 CMR haftet der Frachtführer unter anderem für den gänzlichen oder teilweisen Verlust des Gutes, sofern der Verlust zwischen dem Zeitpunkt der Übernahme des Gutes und dem seiner Ablieferung eintritt. Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei dieser Haftung nach Art 17 CMR um eine Haftung für vermutetes Verschulden mit verschärftem Sorgfaltsmaßstab (RIS‑Justiz RS0073792). Die zu seiner Hauptleistungspflicht gehörende Obhutspflicht gebietet dem Frachtführer, alle handelsüblichen und nach den Umständen des Falls zumutbaren Maßnahmen zum Schutz des Gutes etwa vor Diebstahl zu treffen (RIS‑Justiz RS0062452). Der Frachtführer wird von der Haftung für den Verlust des Frachtgutes nur befreit, wenn dieser auf einem unabwendbaren Ereignis beruht, es also dem Frachtführer auch durch Anwendung äußerster, nach den Umständen des Falls möglicher und vernünftigerweise zumutbarer Sorgfalt nicht möglich war, den Schadenseintritt zu verhindern (RIS‑Justiz RS0073763). Die Beweislast dafür trifft den Frachtführer (vgl 6 Ob 257/07y ua). Dieser Beweis ist der Beklagten nach den festgestellten Umständen des vorliegenden Transports nicht gelungen. Mag auch die Verwendung eines Planen‑LKWs trotz des hohen Werts des Transportgutes kein grob fahrlässiges Verhalten darstellen und die Unterlassung einer gemeinsamen Fahrt der beiden Transportfahrzeuge „im Konvoi“ mangels Vereinbarung keinen Schuldvorwurf an die Beklagte begründen, wären doch entsprechende Maßnahmen, die den Schaden möglicherweise verhindert hätten, der Beklagten zumutbar gewesen. Diese hat demnach der Klägerin für den Transportschaden nach Maßgabe des Art 23 Abs 3 CMR zu haften.

Seit Inkrafttreten des Protokolls zum Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im Internationalen Straßengüterverkehr, BGBl 1981/192, ist die Ersatzpflicht des Frachtführers für leichtes Verschulden nach Art 17 CMR mit 8,33 Rechnungseinheiten für jedes fehlende Kilogramm des Rohgewichts beschränkt. Gemäß Art 23 Abs 7 CMR ist unter Rechnungseinheit das Sonderziehungsrecht des Internationalen Währungsfonds zu verstehen.

Die Vorinstanzen haben sich mit der für die Höhe des Ersatzanspruchs demnach maßgeblichen Frage des Gewichts des in Verlust geratenen Transportgutes aufgrund ihrer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansichten nicht weiter auseinandergesetzt. Davon ausgehend, dass das Klagebegehren nicht berechtigt sei, wurden auch keine Feststellungen darüber getroffen, ob die Klägerin die von ihr behaupteten Ersatzleistungen tatsächlich erbracht hat und daher nach § 67 Abs 1 VersVG anspruchslegitimiert ist. Das Verfahren ist demnach noch ergänzungsbedürftig. Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren mit den Parteien diese offen gebliebenen Fragen zu erörtern und - soweit keine Außerstreitstellungen erfolgen - nach Verfahrensergänzung Feststellungen zu treffen haben, die eine ausreichend sichere Beurteilung der Höhe des Anspruchs der Klägerin ermöglichen. Sollte der Beweis des Gewichts des gestohlenen Transportgutes nicht oder nur „mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten“ zu erbringen sein, würde auch eine Bestimmung der Höhe der Forderung der Klägerin nach § 273 Abs 1 ZPO in Betracht kommen.

Der Ausspruch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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