OGH 6Ob114/11z

OGH6Ob114/11z18.7.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. K***** G*****, vertreten durch Winkler Heinzle Nagel Rechtsanwaltspartnerschaft in Bregenz, gegen die beklagte Partei E*****, vertreten durch Achammer & Mennel Rechtsanwälte OG in Feldkirch, wegen Unterlassung, Widerrufs und Veröffentlichung (Streitwert 10.100 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 2. März 2011, GZ 4 R 39/11h-19, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 15. November 2010, GZ 6 Cg 86/10z-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.085,09 EUR (darin 180,85 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 1.978,43 EUR (darin 1.234 EUR Barauslagen und 124,07 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte ist Medieninhaberin (Verlegerin) der Zeitschrift „W*****“. In deren Rahmen wird den Lesern auch ein Forum zur kontroversiellen Auseinandersetzung durch Verfassung von Leserbriefen geboten.

Der Kläger schloss 1983 sein Studium der Iranistik mit den Nebenfächern Ethnologie, Soziologie und Philosophie ab. Seine Dissertation zum Thema „Iran und islamische Revolution“ wurde in Buchform veröffentlicht. Der Kläger geht dem Beruf des freien Wissenschaftlers nach; er hält Vorträge, die sich auch dem Thema „Islam“ widmen. Er war und ist nicht Mitglied einer politischen Partei und kandidierte auch niemals für eine solche. Der Kläger wird vor allem von Institutionen wie der Vorarlberger Arbeiterkammer, der Grünen Bildungswerkstatt, dem Theater Cosmo, dem Philosphikum in Lech oder dem Jüdischen Museum als Wissenschaftler beauftragt.

Am 21. 3. 2010 wurde in der Zeitschrift „W*****“ folgender Leserbrief veröffentlicht:

„Vorarlberger Lügen-Produktion

Dr. G*****, man ist doch kein Lügner, wenn man ein veröffentlichtes Zitat (Cohn-Bendit) anführt. Die Tatsache, dass ich Sie schon mehrmals als Islam-Täuscher enttarnt habe, muss Sie sehr giften! Hat das Cohn-Bendit gesagt oder nicht? Jedenfalls ist es so im Internet übermittelt worden und beschreibt die Politik der Grünen treffend: 'Wir, die Grünen, müssen dafür sorgen, so viele Ausländer wie möglich nach Deutschland zu holen. Wenn sie in Deutschland sind, müssen wir für ihr Wahlrecht kämpfen. Wenn wir das erreicht haben, werden wir den Stimmenanteil haben, den wir brauchen, um diese Republik zu verändern.' Oder noch besser: 'Deutschland muss von außen eingehegt werden, und innen durch Zustrom heterogenisiert, quasi verdünnt werden' (Joschka Fischer). Ihnen als sog. oder selbst ernannter 'Islamwissenschaftler' ist die Irreführung der Bevölkerung vorzuwerfen, da Sie bei jeder Gelegenheit den Islam verharmlosen, wobei Sie auch mit der im Islam üblichen Täuschung (Taqyia) vorgehen, indem sie einen 'humanen, mekkanischen Vers' anführen, wohl wissend, dass dieser durch spätere, nachfolgende Verse, die zu Gewalt aufrufen, aufgehoben wird. Sie leisten einer menschenverachtenden Lehre Vorschub, deren schreckliche Auswirkungen in allen islamischen Staaten gut erkennbar sind. Für K***** G***** und andere Realitätsverweigerer nicht! Unsere Nachkommen und die Geschichte werden diese Herrschaften richtig einstufen!

Alwin Häle, Muntlix“ .

Alwin Häle ist dem Kläger aus Veranstaltungen zum Thema Islam bekannt.

Am 28. März 2010 wurde in „W*****“ folgender weiterer Leserbrief veröffentlicht:

„Selbst ernannter Islamkenner …

… G*****! Den Zeilen von Herrn Alwin Häle kann ich in Bezug auf Dr. K***** G***** nur beipflichten. Ich habe besagten Herrn auch schon des öfteren 'live' erlebt und finde, dass er vor dem Islam kuscht, zu dessen permanenter Verharmlosung aufruft und eine bösartige Irreführung bei seinem laienhaften Publikum propagiert. Ich hoffe, dass sich nicht jeder von seinem 'wissenschaftlichen' Geschwätz einlullen lässt und wachsam bleibt. Wachsam vor einer Religion, die sich nach außen als 'Religion des Friedens und der Liebe' gibt und deren wahrer innerer Kern den puren Faschismus beherbergt.

Daniel Debortoli, Feldkirch“ .

Der Leserbriefschreiber Daniel Debortoli ist dem Kläger nicht bekannt.

In den V***** vom 13./14. März 2010, ebenfalls herausgegeben von der Beklagten, wurde nachstehender Leserbrief des Klägers veröffentlicht:

„Vorarlberger Lügen-Produktion

Es ist nichts Neues, dass mit planmäßigen Gerüchtekampagnen politische Stimmung gemacht wird. Je dreister und verlogener, desto besser. Das Kalkül ist klar: Normale, anständige Menschen können es in der Regel gar nicht glauben, dass andere prinzipienlos lügen, und nehmen für bare Münze, was da serviert wird. Beispiele aus jüngster Zeit:

1. Leserbriefe, die als persönliche Meinungsäußerung erscheinen, stammen in Wirklichkeit aus einer Schreibfabrik der FPÖ - dokumentarisch nachgewiesen in den V***** vom 6. 3. 2010.

2. Der frühere FPÖ-Kandidat Werner Giacomuzzi behauptet öffentlich, ein 'Türke' habe eine Professorin an der Fachhochschule aggressiv beleidigt. Nachforschungen ergeben: erfunden und erlogen.

3. Alwin Häle aus Muntlix veröffentlicht in einem seiner üblichen Rundschreiben ein angeblich wörtliches Zitat des grünen Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit: 'Es gehe darum, so viele Ausländer wie möglich nach Deutschland zu holen', damit diese den Grünen die Mehrheit für eine Gesellschaftsveränderung verschaffen. Dieses Zitat kursiert im Internet - und ist glatt erfunden. Nirgendwo wird ein konkretes Datum, ein Ort oder eine Publikation nachgewiesen, wo Cohn-Bendit so etwas geäußert haben soll. Also auch hier: Eine Unterstellung und eine Lüge.

FPÖ; Giacomuzzi und Häle: Sie sind wahrhafte Vertreter christlich-abendländischer Werte. Leider nicht des 8. Gebotes ('Du sollst kein falsches Zeugnis geben').

Dr. K***** G*****“ .

Zuvor hatte der Kläger in der Zeitschrift „K***** Nr. 9/2008 November 2008, S 18 bis 13 folgenden Artikel publiziert, der auszugsweise lautet:

„Natürlich ist das alles in Wirklichkeit keine Schnapsidee. Weil es gar nicht um die Köpfe von Moslems geht und das, was möglicherweise drin ist, sondern um die Köpfe von Leserbrief- und Forenschreibens aus der Gegend zwischen Muntlix und Lochau.

Dieser Narrenumzug hat eine öffentliche Repräsentanz erworben, weil er in einem Medium stattfindet, das diese Repräsentanz kraft seines Monopols und seiner Reichweite herstellt: Es sind dies die Produkte des Vorarlberger Medienhauses, die gedruckten (V***** und W*****) und die digitalen (V***** online).

Leserbriefseiten sind Aufmarschplätze dieser Paranoia-Truppe, die sich zwischenzeitlich durch regelmäßige Treffen gegenseitig abstimmt und ihre Erzeugnisse, logistisch geschickt, durch Mehrfachverwurstung unters Volk bringt.

sich anschließend mit Alwin H. und Werner G. vor der Weltherrschaft des Islam und dem Verlust der abendländischen Werte fürchten ….“

Muntlix ist der Wohnort von Alwin Häle, mit Alwin H. war dieser gemeint.

Der Kläger zitierte in der Vergangenheit humane „mekkanische“ Verse, aber auch andere Verse aus dem Koran, die nicht human sind, sondern zum Kampf aufrufen. Er ist um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Islam bemüht. Eine Täuschung oder gar Irreführung seines Publikums strebt der Kläger nicht an.

Der Kläger wandte sich an die Beklagte, um die Anschrift des Leserbriefschreibers „Daniel Debortoli“ herauszufinden, jedoch wurde dies - auch nach nochmaliger Intervention durch den Klagsvertreter - abgelehnt. Der Kläger suchte auch selbständig, die Anschrift des „Daniel Debortoli“ herauszufinden, nämlich durch eine ZMR-Abfrage und Suche in den Internetseiten „Herold“ und „Google“, konnte jedoch eine Anschrift nicht herausfinden.

Der Kläger sieht sich durch die Leserbriefe dem unberechtigten Vorwurf ausgesetzt, er würde sein Publikum bösartig in die Irre führen. Dadurch fürchtet er, dass das Vertrauen in seine Aufrichtigkeit und seine Verlässlichkeit als Wissenschaftler geschädigt wird, was seinen beruflichen Werdegang beeinträchtigen könnte.

Der Kläger begehrt, die Beklagte zu verpflichten, die Verbreitung des Inhalts, er propagiere bei einem laienhaften Publikum eine bösartige Irreführung über den Islam, zu unterlassen und gegenüber den Lesern der Zeitschrift „W*****“ diese Behauptung als unwahr zu widerrufen und diesen Widerruf unter der Rubrik Leserbriefe auf ihre Kosten zu veröffentlichen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern, aber auch an Privatpersonen, sofern sie die politische Bühne betreten haben, seien - auf Basis eines wahren Tatsachensubstrats - weiter gesteckt als bei (sonstigen) Privatpersonen. Sie müssten einen höheren Grad an Toleranz zeigen, vor allem dann, wenn sie selbst öffentliche Äußerungen tätigten, die geeignet seien, Kritik auf sich zu ziehen. Beachte man den Stil und den Ton der Leserbriefe, dann erhelle, dass diese äußerst emotional verfasst und bar jeglicher wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Islam seien, was den Inhalt des Leserbriefs und die verwendete Wortwahl bereits relativiere. Von daher betrachtet seien diese bereits per se ungeeignet, das Fortkommen und den Erwerb des Klägers als Wissenschaftler zu gefährden. Zu bedenken sei auch, dass sich der Kläger freiwillig in die Öffentlichkeit begeben habe und Diskussionen zum Islam führe. Er pflege auch in seinen eigenen Publikationen nicht gerade einen zurückhaltenden Stil und scheue sich nicht, Andersdenkende mit wenig schmeichelnden Attributen zu belegen und sie mit Begriffen wie „Lüge“ oder „Paranoia“ in Verbindung zu bringen. Dass Andersdenkende der Auffassung seien, dass er den Islam insgesamt verharmlosend darstelle, sei ein Ergebnis einer auch öffentlich ausgetragenen Diskussion, das der Kläger letztlich in Kauf nehmen müsse.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im klagsstattgebenden Sinn ab. Zwar seien die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern in Ausübung ihres öffentlichen Amts im Allgemeinen weiter gesteckt als bei Privatpersonen. Allerdings finde auch hier das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Interessenabwägung gegenüber der ehrenbeleidigenden Rufschädigung seine Grenze in einer unwahren Tatsachenbehauptung. Soweit verletzende Werturteile gestattet seien, wenn sie auf einem gewissen Mindesttatsachensubstrat beruhen, treffe die Beweislast der Wahrheit dieser Tatsachen den Täter. Einen wahren Tatsachenkern für die vom Kläger inkriminierte Behauptung, dass er eine bösartige Irreführung bei einem laienhaften Publikum propagiere und „wissenschaftliches Geschwätz“ verbreite, habe von der beklagten Partei nicht erwiesen werden können. Im Gegenteil stehe fest, dass der Kläger um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Islam bemüht sei und eine Täuschung oder gar Irreführung seines Publikums nicht anstrebe.

Nachträglich ließ das Berufungsgericht die Revision mit der Begründung zu, dass im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Höchstgerichts zur Bedeutung des Art 10 MRK im Zusammenhang mit öffentlich geführten Diskussionen nicht ausgeschlossen sei, dass das Höchstgericht zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung gelange.

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig; sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach ständiger Rechtsprechung hat die Auslegung des Bedeutungsinhalts einer Äußerung nach dem Verständnis eines durchschnittlich qualifizierten Erklärungsempfängers zu erfolgen (RIS-Justiz RS0115084). Ob ein Ausdruck den Tatbestand des § 1330 Abs 1 ABGB erfüllt, kann nur aus dem Zusammenhang, in dem er gebraucht wurde, beurteilt werden (RIS-Justiz RS0031857). Unter „Tatsachen“ sind Umstände, Ereignisse oder Eigenschaften mit einem greifbaren, für das Publikum erkennbaren und von ihm anhand bestimmter oder doch zu ermittelnder Umstände auf seine Richtigkeit überprüfbaren Inhalt zu verstehen (RIS-Justiz RS0032212). Darin liegt der Unterschied gegenüber bloßen Werturteilen, die erst aufgrund einer Denktätigkeit gewonnen werden können und die eine rein subjektive Meinung des Erklärenden wiedergeben (SZ 11/36; 6 Ob 147/73; RIS-Justiz RS0032212 [T1]). Auch Werturteile sind nur dann durch das Recht der freien Meinungsäußerung gedeckt, wenn sie auf ein im Kern wahres Tatsachensubstrat zurückgeführt werden können und die Äußerung nicht exzessiv ist (RIS-Justiz RS0032201 [T11, T18]).

In der Entscheidung 6 Ob 128/10g (vgl auch RIS-Justiz RS0075552, RS0054830, RS0102052) hat der Oberste Gerichtshof zuletzt wieder darauf hingewiesen, dass Art 10 Abs 2 EMRK wenig Raum für Einschränkungen gegenüber politischen Reden oder Debatten über Fragen von öffentlichen Interesse lässt („chilling effect“). Die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern sind erheblich weiter gezogen, als bei Privatpersonen. Dieser Grundsatz gilt auch für Privatpersonen und private Vereinigungen, sobald sie die politische Bühne (die Arena der politischen Auseinandersetzung) betreten (RIS-Justiz RS0115541).

Durch seine Buchveröffentlichung und zahlreichen Vorträge zum Thema Islam ist der Kläger zweifellos als „Public Figure“ zu qualifizieren. Der maßgerechte Durchschnittsleser fasst die abgedruckten Leserbriefe zwangsläufig in dem Sinne auf, dass es sich dabei um eine bloß rein subjektive Meinung im Rahmen der heftig geführten öffentlichen Debatte über das Verhältnis von Islam und Demokratie handelt. Dabei steht nicht die wissenschaftliche Expertise des Klägers im Vordergrund; vielmehr geht es um einen - wenn auch von allen Seiten teilweise überaus heftig geführten - Meinungsstreit im Zuge eines öffentlichen Diskurses. Damit erweist sich die abgedruckte subjektive Meinung des Verfassers des Leserbriefs aber als ein von Art 10 MRK gedeckter - wenngleich überspitzt formulierter - Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion.

Daher war in Stattgebung der Revision das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts abzuändern und die klagsabweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte