OGH 7Ob74/11z

OGH7Ob74/11z6.7.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W***** H*****, vertreten durch Anwalt Guntramsdorf Abmayer & Cejpek Rechtsanwälte OG in Guntramsdorf, gegen die beklagte Partei H***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Gerhard Mitterböck, Rechtsanwalt in Wien, wegen 32.673,60 EUR (sA), über die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 28. Februar 2011, GZ 2 R 12/11s‑20, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 25. November 2010, GZ 29 Cg 39/10w‑16, infolge Berufung des Klägers bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Aufgrund eines frachtrechtlichen Rahmenvertrags („Satellitendepot-Vertrag“) hat der Kläger als Subfrächter der Beklagten für diese im Jahr 2007 Transportleistungen erbracht. Der Rahmenvertrag wurde zum 18. 8. 2007 einvernehmlich aufgelöst.

Mit der am 23. 11. 2009 eingebrachten Klage begehrt der Kläger von der Beklagten (restlichen) Frachtlohn; zuletzt (nach Klagseinschränkung) bezifferte er seine Forderung mit 32.673,60 EUR. Mitarbeiter der Beklagten hätten ihm wiederholt mündlich zugesichert, dass bis zum Erreichen bestimmter Stückzahlen entstehende Abgänge von der Beklagten ausgeglichen werden würden. Die Beklagte habe das entsprechend erhöhte, von ihm in Rechnung gestellte Transportentgelt anerkannt, habe aber mit Ausflüchten wiederholt Rechnungsänderungen verlangt und ihn auf spätere Zahlungstermine vertröstet. Dieses Vorgehen, mehrfach Abänderungen der Rechnung zu verlangen, die Rechnung aber schließlich nicht zu bezahlen, stelle ein vorsätzliches Verhalten (eine „von der Beklagten öfter angewandte Methode“) dar, weshalb die Verjährungsfrist gemäß Art 32 Abs 1 Satz 2 CMR drei Jahre betrage.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung. Sie habe den Kläger für alle Leistungen entsprechend den getroffenen Vereinbarungen entlohnt und keine weitere Zahlung zugesagt. Die dreijährige Verjährungsfrist des Art 32 Abs 1 CMR beziehe sich ausschließlich auf Ersatzansprüche aus Schadensfällen. Für Entgeltansprüche des Frachtführers gelte immer die kurze (einjährige) Verjährungsfrist. Da die Ansprüche Beförderungen aus dem Jahr 2007 beträfen, seien sie verjährt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Verjährung ab.

Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Nach Satz 1 des Art 32 Abs 1 CMR verjährten Ansprüche aus einer diesem Übereinkommen unterliegenden Beförderung in einem Jahr. Nach Satz 2 betrage die Verjährungsfrist bei Vorsatz oder bei einem Verschulden, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem Vorsatz gleichstehe, jedoch drei Jahre. Art 32 Abs 1 CMR regle die Verjährung aller Ansprüche aus einer der CMR unterliegenden Beförderung. Darunter fielen auch die Entgeltansprüche des Frachtführers, für welche die Verjährungszeit gemäß Art 32 Abs 1 lit c CMR mit Ablauf einer Frist von drei Monaten nach dem Abschluss des Beförderungsvertrags beginne. Der Oberste Gerichtshof habe bereits klargestellt, das die Verjährungsfrist von einem auf drei Jahre verlängernde Verschulden müsse ein Element des anspruchsbegründenden Sachverhalts sein und könne sich daher nur auf Ansprüche aus rechtswidrigem Verhalten, nicht aber auf Vertragserfüllungsansprüche beziehen. Da ein ‑ wenn auch vorsätzlicher ‑ Zahlungsverzug die Anspruchsgrundlagen und den Anspruchscharakter, der schon zu Beginn der Verjährungsfrist feststehen müsse, nicht nachträglich verändern könne, sei die in Art 32 Abs 1 Satz 2 CMR normierte dreijährige Verjährungszeit auf den Entgeltanspruch des Frachtführers unanwendbar. Demgegenüber habe der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) zum gleichartigen § 439 Abs 1 dHGB in der Entscheidung I ZR 31/08 die Ansicht vertreten, die dreijährige Verjährungsfrist komme auch dann zum Tragen, wenn ein Primärleistungsanspruch des Frachtführers vorsätzlich (wider besseres Wissen) nicht erfüllt werde. Diese vor allem aus dem Gesetzeswortlaut abgeleitete Rechtsansicht überzeuge nicht. Der BGH zitiere die gegenteilige oberstgerichtliche Entscheidung 6 Ob 740/80 bloß am Rande, ohne auf die darin vorgetragenen Argumente einzugehen. Unberücksichtigt bleibe insbesondere, dass die Dauer der Verjährungsfrist aus Gründen der Rechtssicherheit bereits im Zeitpunkt ihres Beginns feststehen müsse. Diese Voraussetzung fehle unter Zugrundelegung der Rechtsansicht des BGH, wenn der Frachtführer seine Werklohnforderung nicht innerhalb von drei Monaten nach dem Abschluss des Beförderungsvertrags fällig stelle und daher bei Einsetzen der Verjährungsfrist noch gar nicht absehbar sei, ob sein Vertragspartner in Zahlungsverzug geraten werde. Es bestehe daher kein Anlass, von der österreichischen höchstgerichtlichen Judikatur abzuweichen. Da der Beförderungsvertrag, aus dem der Kläger seinen Entlohnungsanspruch ableite, vor dem 18. 8. 2007 abgeschlossen worden sei, sei die Verjährungsfrist von einem Jahr nach Art 32 Abs 1 Satz 1 CMR im Zeitpunkt des Einlangens der Klage beim Erstgericht bereits abgelaufen gewesen. Das Berufungsvorbringen, dass die Beklagte den Kläger unter Vorspiegelung ihrer Zahlungswilligkeit zu Handlungen verleitet habe, „um sich Transport‑ und Logistikleistungen in Höhe des Klagsbetrags zuzuwenden und damit einen Schaden in Höhe des Klagsbetrags verursacht“ habe, weshalb das Begehren aus advokatorischer Vorsicht auch auf Schadenersatz gestützt werde, verstoße gegen das Neuerungsverbot des § 482 ZPO.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels erheblicher Rechtsfragen im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Gegen die Entscheidung der zweiten Instanz richtet sich die mit einem Antrag auf Abänderung des Ausspruchs über die Unzulässigkeit der Revision verbundene, in eine außerordentliche Revision umzudeutende (RIS‑Justiz RS0123405) „ordentliche“ Revision des Klägers. Der Revisionswerber macht unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde.

Die Beklagte stellt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung den Antrag, das Rechtsmittel ihres Prozessgegners entweder als unzulässig zurückzuweisen oder ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig. Sie ist im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt, weil die Frage der Verjährung anhand der vom Erstgericht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen, wie die folgenden Erwägungen zeigen, noch nicht abschließend beurteilt werden kann.

Auf den vorliegenden Rechtsfall sind unstrittig die Bestimmungen des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR; BGBl 1961/138 idgF) anzuwenden. Nach ständiger Rechtsprechung sind alle Ansprüche, die sich aus einer der CMR unterliegenden Beförderung ergeben, also unter Umständen auch solche Ansprüche, die gar nicht aus der CMR selbst abgeleitet werden, der Verjährungsregelung des Art 32 CMR unterworfen (RIS‑Justiz RS0074001).

Den wesentlichen Streitpunkt des Revisionsverfahrens bildet, ob die in Satz 2 des Art 32 Abs 1 CMR bei Vorsatz oder bei einem Verschulden, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem Vorsatz gleichsteht, normierte Verlängerung der nach Satz 1 grundsätzlich einjährigen Verjährungsfrist auf drei Jahre, wie die Beklagte und die Vorinstanzen vertreten, auch für Vergütungs‑ oder Kostenerstattungsansprüche gilt. Der Revisionswerber meint, im Gegensatz zur Beklagten und zu den Vorinstanzen, dass die Verlängerung auch Vertragserfüllungsansprüche und insbesondere Entgeltansprüche des Frachtführers betrifft. Die Vorinstanzen sind der Entscheidung 6 Ob 740/80, HS 11.089 = HS 11.216 (30), gefolgt, in der der Oberste Gerichtshof ausgesprochen hat, dass die dreijährige Verjährungsfrist des Art 32 Abs 1 Satz 2 CMR auf den Anspruch des Frachtführers auf Zahlung des vereinbarten Entgelts unanwendbar sei. Ein Zahlungsverzug vermöge die Anspruchsgrundlagen und den Anspruchscharakter nicht nachträglich zu verändern, der, soweit er für die Verjährung erheblich sein solle, schon zu Beginn der Verjährungsfrist feststehen müsse.

Auch vom BGH (I ZR 178/78, VersR 1982, 649 [650]) und diesem folgend von den Oberlandesgerichten München (TranspR 1991, 298 [299]) und Frankfurt a.M. (TranspR 2005, 405 ‑ betreffend den mit Art 32 Abs 1 CMR wortgleichen und diesem nachgebildeten § 439 Abs 1 dHGB) wurde die Ansicht vertreten, die dreijährige Verjährungsfrist nach § 32 Abs 1 CMR sei auf einen vertraglichen Erfüllungsanspruch nicht anwendbar; sie beziehe sich lediglich auf Schadenersatzansprüche und auf gesetzliche Ansprüche ähnlichen Inhalts.

Im (deutschen) Schrifttum wurden und werden zu dieser Frage (sowohl hinsichtlich Art 32 Abs 1 CMR als auch § 439 Abs 1 dHGB betreffend) gegensätzliche Standpunkte vertreten: Für die Nichtanwendung des Art 32 Abs 1 Satz 2 CMR und des § 439 Abs 1 Satz 2 dHGB auf primäre Leistungsansprüche sprachen sich Demuth in Thume, CMR‑Kommentar, Art 32 Rn 15a, Bahnsen in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB II Art 32 CMR Rn 32, Herber/Eckardt in MünchKomm HGB2, § 439 Rn 2 und insbesondere Köper, TranspR 2006, 191 aus. Letzterer setzte sich aaO mit der Anwendbarkeit des § 439 Abs 1 und 2 HGB auf Frachtansprüche eingehend auseinander. Bereits eine dogmatische Betrachtung spreche gegen die Anwendbarkeit des § 439 Abs 1 Satz 2 HGB auf primäre Frachtansprüche. Es werde auf ein Verschuldensmerkmal abgestellt, welches im Tatbestand des Anspruchs (Frachtanspruch), für den es gelten solle, keinen Anknüpfungspunkt finde. Insbesondere spreche der Wille des deutschen Gesetzgebers gegen die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf primäre Frachtansprüche. Vom Anwendungsbereich des § 439 Abs 1 Satz 2 HGB seien auch solche Schadenersatzansprüche auszunehmen, die durch den Frachtführer oder Spediteur wegen vorsätzlicher Nichterfüllung der Primärleistungspflicht auf Zahlung der vereinbarten Fracht gegen den Absender oder Empfänger geltend gemacht würden, soweit diese Ansprüche nicht auf einer sittenwidrigen Schädigung oder einem Vermögensdelikt beruhten.

Die gegenteilige Ansicht vertreten namentlich Schaffert in Ebenroth/Boujong/Joost, HGB2 § 439 Rn 18 Andresen/Valder, Speditions‑, Fracht‑ und Lagerrecht, § 439 HGB Rn 19, Jesser‑Huß in MünchKomm HGB2, CMR Art 32 Rn 11 sowie Koller in VersR 2006, 1581; ders Transportrecht7 § 439 HGB Rz 27; Art 32 CMR Rn 7. Letzterer, der in früheren Auflagen noch die Gegenmeinung vertrat, führt aaO betreffend § 439 Abs 1 Satz 2 HGB aus, maßgeblich sei der Vorsatz des Schuldners. Zwar werde der Begriff „Vorsatz“ in der deutschen Rechtssprache meist im Zusammenhang mit der Schadenersatzpflicht gebraucht, doch decke der Wortlaut der Vorschrift jedes vorsätzlich rechtswidrige Verhalten. Dies führe keineswegs zu einem Leerlaufen des § 439 Abs 1 Satz 1 HGB; denn jeder Rechtsirrtum lasse ebenso wie die mangelnde objektive oder subjektive Leistungsfähigkeit den Vorsatz entfallen. Wertungswidersprüchlich wäre es vielmehr, wenn man Schadenersatzansprüche gegenüber sonstigen Leistungsansprüchen, die vorsätzlich missachtet werden, privilegieren würde. Zu Art 32 CMR vertritt Koller die Ansicht, eine Ausnahme von der grundsätzlich ein Jahr betragenden Verjährungsfrist gelte jedenfalls bei Schadenersatzansprüchen und richtigerweise auch bei allen anderen Arten von Ansprüchen, wenn und soweit dem Frachtführer, Absender oder Empfänger Vorsatz oder diesem gleichgestelltes Verschulden zur Last falle. In der Literatur würden diese Begriffe regelmäßig wie die in Art 29 CMR verwendeten Begriffe ausgelegt. Es sei anzunehmen, dass die CMR die Begriffe in Art 29 und Art 32 Abs 1 Satz 2 CMR identisch verwenden wolle. Angesichts der Bedeutung der Entstehungsgeschichte für die Auslegung der CMR betrage daher die Verjährungsfrist in Fällen vorsätzlichen und qualifiziert leichtfertigen rechtswidrigen Verhaltens drei Jahre. Das qualifizierte Verschulden beziehe sich bei Ersatzpflichten auf die zur Ersatzpflicht führenden Pflichtverletzungen aller Art, bei der Nichterfüllung von Primärleistungspflichten (zB Zahlung) auf das Unterlassen der Erfüllung. Strenge Kausalität zwischen dem vorsätzlichen pflichtwidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Anspruch sei nicht erforderlich; es genüge, dass zum Beispiel ein Zahlungsanspruch in Kenntnis der Verpflichtung vorsätzlich nicht erfüllt werde.

In der bereits vom Berufungsgericht erwähnten Entscheidung vom 22. 4. 2010, I ZR 31/08, hat sich der BGH unter Abkehr von seiner bisherigen Judikatur der Ansicht jener angeschlossen, die eine Anwendung des § 439 Abs 1 Satz 2 HGB auf Primärleistungsansprüche bejahen. Die Verjährungsvorschrift des § 439 Abs 1 HGB orientiere sich an Art 32 Abs 1 CMR. Ebenso wie diese Bestimmung differenziere sie nicht nach der Art der Ansprüche. Nach ihrem Wortlaut erfassten also beide Bestimmungen alle Leistungs‑ und sonstigen Verhaltenspflichten, die vorsätzlich oder qualifiziert vorwerfbar missachtet werden könnten. Die Gesetzesmaterialien böten für die Bestimmung des Anwendungsbereichs von § 439 Abs 1 Satz 2 HGB kein klares Bild. Ein Hinweis auf eine Beschränkung auf Sekundärleistungsansprüche finde sich darin nicht. In anderen Vertragsstaaten der CMR werde die Frage, ob die dreijährige Verjährungsfrist des Art 32 Abs 1 Satz 2 CMR auch für Erfüllungsansprüche und erfüllungsgleiche Ansprüche gelte, nicht einheitlich beurteilt (eine Anwendung bejahend: Clarke, CMR5, 128 FN 134; vgl auch Paris BullT 1989, 46, 47; verneinend österr OGH E vom 5. 11. 1980 ‑ 6 Ob 740/80). Es sei kein plausibler Grund ersichtlich, der eine frühere Verjährung von Primärleistungsansprüchen gegenüber Schadenersatzansprüchen bei Vorliegen eines qualifizierten Verschuldens des Schuldners rechtfertigte. Es wäre vielmehr widersprüchlich, wenn Schadenersatzansprüche gegenüber sonstigen Leistungsansprüchen, die vorsätzlich nicht erfüllt werden, privilegiert werden würden. Das vom Oberlandesgericht Frankfurt (TranspR 2005, 405, 406) und Herber/Eckardt (MünchKomm HGB2 § 439 Rn 12) gegen eine Anwendung von § 439 Abs 1 Satz 2 HGB auf Primärleistungsansprüche ins Feld geführte Bedenken, es käme dann zu einer Umkehrung des im Gesetz bestimmten Regel‑/Ausnahmeverhältnisses der ein‑/dreijährigen Verjährungsfrist, weil praktisch betrachtet jede Nichterfüllung eines vertraglichen Vergütungs‑ oder Aufwendungsersatzanspruchs vorsätzlich geschehe, sei nicht begründet. Diese Sichtweise berücksichtige nicht genügend, dass im Zivilrecht ‑ anders als im Strafrecht ‑ ein Rechtsirrtum entsprechend den jeweils maßgeblichen Verschuldensformen entlastend wirke. Der Vorsatz entfalle, wenn der Schuldner ‑ aus welchen Gründen auch immer ‑ der Ansicht sei, nicht zu schulden, bereits aufgerechnet zu haben oder ein Zurückbehaltungsrecht geltend machen zu können. Eine die Verjährungsfrist des § 439 Abs 1 Satz 2 HGB auslösende vorsätzliche Nichtzahlung sei dem Schuldner erst dann vorzuwerfen, wenn er entgegen besserem Wissen die Existenz eines Anspruchs abstreite oder wider besseres Wissen behaupte, dass der gegen ihn gerichtete Anspruch nicht in der geltend gemachten Höhe entstanden sei. Liege auf der Hand, dass die vom Schuldner für die Leistungsverweigerung genannten Gründe nur vorgeschoben seien, gebe es keinen vernünftigen Grund, ihm die Rechtswohltat der besonders kurzen Verjährung des § 439 Abs 1 Satz 1 HGB zugutekommen zu lassen.

Mit dieser Entscheidung des BGH hat sich Herber, Dreijährige Verjährung von Primärleistungsansprüchen nach § 439 Abs 1 Satz 2 HGB?, TranspR 2010, 357, kritisch auseinandergesetzt und auch den Stand der Rechtsmeinungen dazu ausführlich dargestellt. Die Verlängerung der Verjährungsfrist bei besonders schwerem Verschulden sei eine Besonderheit des Transportrechts, die auch dort nur für wenige Anwendungsfälle gelte und ihren Grund in oft zeitraubenden Aufklärungsbedürfnissen bei Transportschäden habe. Schon deshalb liege es sehr nahe anzunehmen, dass die Verlängerung der Frist nur für Schadenersatzansprüche gedacht sei. Nur für diese ‑ grundsätzlich verschuldensabhängigen ‑ Ansprüche finde sich auch ein tatbestandsmäßiger Anknüpfungspunkt für grobes Verschulden ‑ nicht hingegen beim von jedem Verschulden unabhängigen Primäranspruch auf Leistung oder Zahlung. Zuzustimmen sei der Ansicht des BGH, dass die Verjährung eines an die Stelle des Primäranspruchs tretenden Schadenersatzanspruchs der Verjährung des Primäranspruchs folge. Die Verlängerung der Verjährungsfrist gelte für alle Schadenersatzansprüche, nicht jedoch für Primäransprüche. Zu den Schadenersatzansprüchen zählten jedoch nicht nur die gegen den Frachtführer wegen Güterschäden und gegen den Absender wegen Sachschäden, sondern auch solche aus Vermögensschäden wegen positiver Vertragsverletzung und Verzögerung der Leistung (§§ 280, 281 BGB). Mache man mit dem BGH den Fristablauf für die Verjährung auch des Zahlungsanspruchs des Frachtführers davon abhängig, ob der Schuldner bei Nichterfüllung des Anspruchs die Rechtslage vertretbar oder leichtfertig falsch eingeschätzt habe, so führe dies zu „praktisch unerträglichen“ Ergebnissen. Die Rechtslage könne höchst kompliziert sein, denke man etwa an den zweifelhaften Lauf einer Verjährungsfrist oder die Begründetheit einer aufrechenbaren Gegenforderung. Für die Praxis heiße das: Der Schuldner einer Frachtforderung müsse mit der verlängerten Verjährung rechnen, wenn eine nach seiner Ansicht begründete Zahlungsverweigerung später rechtlich als leichtfertig angesehen werde.

Wägt man all diese einerseits insbesondere von Köper und Herber und andererseits von Koller und dem BGH vorgetragenen Argumente gegeneinander ab, so ist doch letzteren der Vorzug zu geben. Zunächst kann schon dem Wortlaut des Art 32 Abs 1 CMR eine Differenzierung in Schadenersatzansprüche einerseits und in Primärleistungsansprüche andererseits oder eine Beschränkung auf Schadenersatzansprüche nicht entnommen werden. Den Einwand, die Nichtzahlung des Frachtentgelts erfolge in aller Regel vorsätzlich, weshalb es zu einer Umkehr des in Art 32 Abs 1 CMR bestimmten Regel-/Ausnahmeverhältnisses komme, hat der BGH, auf dessen Ausführungen verwiesen wird, überzeugend entkräftet. Insbesondere überzeugt aber auch der Hinweis, dass es einen eklatanten Wertungswiderspruch darstellte, wenn man Schadenersatzansprüche gegenüber vorsätzlich missachteten Leistungsansprüchen privilegierte. Dies wird auch von Köper insofern erkannt, als er die Verlängerung der Verjährungsfrist bei vorsätzlicher Nichterfüllung von Primärleistungsansprüchen im Fall der Sittenwidrigkeit und/oder des Vorliegens eines Vermögensdelikts doch bejaht. Ein (zumindest) sittenwidriges, wenn nicht geradezu arglistiges Vorgehen der Beklagten (arg „angewandte Methode“) wird vom Kläger auch im vorliegenden Fall behauptet. Auch wenn er es in erster Instanz unterlassen hat, sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Schadenersatz zu berufen, kann ihm entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht unterstellt werden, er habe eine Haftung wegen schuldhafter Nichterfüllung zunächst ausgeschlossen. Die Ansicht des Berufungsgerichts, auf dieses Vorbringen des Klägers könne zufolge des Neuerungsverbots nicht eingegangen werden, ist daher nicht zu teilen.

Das vom Obersten Gerichtshof in der Entscheidung 6 Ob 740/80 angeführte Argument, eine Verlängerung der Verjährungsfrist komme bei Leistungsansprüchen nicht in Betracht, weil die Dauer der Verjährungsfrist bei deren Beginn feststehen müsse, überzeugt letztlich nicht. Wiederholt hat der Oberste Gerichtshof nämlich bereits ausgesprochen, dass die Verjährung erst in jenem Zeitpunkt zu laufen beginnen könne, in dem das Recht an sich ausgeübt hätte werden können, wenn seiner Geltendmachung also kein objektives rechtliches Hindernis mehr entgegenstehe (1 Ob 563/85, SZ 58/122 = TranspR 1986, 377 = JBl 1986, 317 [Huber]; 6 Ob 536/89, TranspR 1990, 152 ua). Anerkannt sei, dass die Regelung der Verjährung in Art 32 CMR nicht vollständig sei. Es müsse allenfalls eine berichtigende Auslegung des Art 32 Abs 1 Satz 3c CMR vorgenommen werden und nationales Recht anzuwenden sein (6 Ob 767/81, TranspR 1984, 193; 1 Ob 563/85). Da nach österreichischem Recht mangelnde Fälligkeit den Verjährungsbeginn hindert (stRsp; vgl etwa Dehn in KBB3 § 1478 Rz 2 mwN), geht die in 6 Ob 740/80 angestellte Überlegung letztlich ins Leere.

Entgegen der Ansicht Herbers stellt die Frage, ob Frachtentgelt vorsätzlich oder mit vorsatzgleichem Verschulden nicht geleistet wurde, kein derart unüberwindliches Problem dar, dass aus dieser „praktischen“ Erwägung die Anwendung des Art 32 Abs 1 CMR auf Schadenersatzansprüche beschränkt bleiben müsste. Je komplizierter die Rechtslage und je schwieriger die Beurteilung einer primären Leistungspflicht daher ist, umso weniger wird wohl in aller Regel die unrichtige Beantwortung dieser Frage durch einen Leistungspflichtigen ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten darstellen.

Ausgehend von ihrer daher nicht zu teilenden Rechtsansicht haben sich die Vorinstanzen mit dem Vorbringen des Klägers, die Beklagte sei ihrer Verpflichtung zur Zahlung des Frachtentgelts im Sinn des Art 32 Abs 1 CMR vorsätzlich, ja geradezu arglistig nicht nachgekommen, nicht weiter auseinandergesetzt. Das Verfahren ist daher noch ergänzungsbedürftig. Das Erstgericht wird sich im aufgezeigten Sinn mit dieser Frage zu beschäftigen und allenfalls nach Verfahrensergänzung Feststellungen zu treffen haben, die eine verlässliche Beurteilung ermöglichen, warum eine Entrichtung des Frachtentgelts unterblieb. Sollte die Beklagte, wie vom Kläger behauptet, das Frachtentgelt vorsätzlich (sogar arglistig) oder mit vorsatzgleichem Verschulden nicht geleistet haben, wäre von einer dreijährigen Verjährungsfrist auszugehen und der Verjährungseinwand daher unberechtigt.

Der Ausspruch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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