OGH 14Os75/11b

OGH14Os75/11b6.7.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. Juli 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Varga als Schriftführer in der Strafsache gegen Ruth N***** wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach §§ 15 StGB, 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, Abs 3 SMG und einer weiteren strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 8. Februar 2011, GZ 065 Hv 127/10m-26, den gemeinsam mit diesem Urteil ergangenen Beschluss auf Widerruf bedingter Strafnachsicht und einen weiteren Vorgang nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Sperker, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 065 Hv 127/10m des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzen

1. die Unterlassung der (rechtzeitigen) Verbindung mit dem gegen Ruth N***** gleichzeitig beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien anhängigen Verfahren AZ 18 U 301/09z § 37 Abs 3 StPO;

2. das Urteil vom 8. Februar 2011 (ON 26) § 27 Abs 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall, Abs 3 SMG, § 270 Abs 4 Z 1 StPO;

3. der gemeinsam mit diesem Urteil gefasste Beschluss, insoweit als aus Anlass der Verurteilung gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO die im Verfahren AZ 18 U 301/09z des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen wurde, § 55 Abs 1 StGB und § 495 Abs 2 StPO.

Das bezeichnete Urteil und der unter einem nach § 494a Abs 1 Z 2 und 4 StPO gefasste Beschluss werden aufgehoben und es wird die Sache - mit Ausnahme der Entscheidung über den Widerruf der der Angeklagten mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 18. Oktober 2010, GZ 18 U 301/09z-31, gewährten bedingten Strafnachsicht - zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien zurückverwiesen.

Text

Gründe:

In dem gegen Ruth N***** wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 15 StGB, § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, Abs 3 SMG und einer weiteren strafbaren Handlung beim Landesgericht für Strafsachen Wien zum AZ 065 Hv 127/10m anhängigen Verfahren schrieb die Einzelrichterin am 15. September 2010 die Hauptverhandlung für den 2. November 2010 aus. Dem gemeinsam mit dem zugrunde liegenden Strafantrag am 14. September 2010 eingebrachten Antrag der Staatsanwaltschaft auf Beischaffung des die selbe Angeklagte betreffenden Aktes AZ 18 U 301/09z des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien zum Zwecke der Verbindung mit dem gegenständlichen Verfahren (§ 37 Abs 3 StPO; S 3 in ON 1) entsprach sie nicht (ON 2 S 7).

Während die Hauptverhandlung vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien zufolge unbekannten Aufenthalts der Ruth N***** vorerst nicht durchgeführt werden konnte, wurde die Genannte mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 18. Oktober 2010, GZ 18 U 301/09z-31, wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit psychotropen Stoffen nach § 30 Abs 1 achter Fall SMG (1) und des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 zweiter Fall, Abs 2 SMG (2) zu einer für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt.

Im Verfahren des Landesgerichts für Strafsachen Wien, AZ 065 Hv 127/10m, wurde sie - mit in gekürzter Form (§ 270 Abs 4 StPO) ausgefertigtem Urteil - erst am 8. Februar 2011 (ON 26) der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 15 StGB, § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, Abs 3 SMG (I) und des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG (II) schuldig erkannt und hiefür unter Bedachtnahme auf das eben angesprochene Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Mit unter einem gefassten - nicht als solchen bezeichnetem - Beschluss ordnete die Einzelrichterin „gemäß § 55 Abs 1 StGB iVm § 494a Abs 1 Z 4 StPO“ den Widerruf der mit dem Bedachtnahmeurteil gewährten bedingten Strafnachsicht an und sah gleichzeitig in Ansehung einer früheren Verurteilung (AZ 63 Hv 167/06m des Landesgerichts für Strafsachen Wien) von einer solchen Maßnahme ab.

Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat Ruth N***** am 6. September 2010 in Wien vorschriftswidrig Suchtgift

I./ gewerbsmäßig anderen zu überlassen versucht (§ 15 StGB), und zwar fünf Kapseln Substitol „á 220 mg“ an einen verdeckten Ermittler zu einem Preis von 75 Euro;

II./ erworben und besessen, und zwar zwei weitere Kapseln Substitol „á 200 mg“.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, wurde in diesem Verfahren das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

Zur Unterlassung der Verfahrensverbindung:

Werden - wie hier - gegen einen Angeklagten nacheinander mehrere Anklagen (oder Strafanträge) erhoben (subjektive Konnexität), sind die Verfahren von dem nach § 37 Abs 2 StPO zuständigen Gericht zu verbinden, wenn zum Zeitpunkt der späteren Anklage (des späteren Strafantrags) bereits ein Hauptverfahren gegen den Angeklagten (aufgrund früher rechtswirksam gewordener Anklage oder abgeschlossener Vorprüfung eines Strafantrags [§§ 485 Abs 1 Z 1 bis 3, 450, 451 Abs 2 StPO]) anhängig ist (vgl zum Ganzen Oshidari, WK-StPO § 37 Rz 7 f). Das Landesgericht für Strafsachen Wien als Gericht höherer Ordnung hätte daher in Entsprechung des Antrags der Staatsanwaltschaft den Akt AZ 18 U 301/09z des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien beizuschaffen und die Verfahren sofort - also vor dem Zeitpunkt der rechtskräftigen Beendigung jenes vor dem Bezirksgericht Innere Stadt Wien - zu verbinden gehabt.

Zum Urteil:

Nach § 270 Abs 4 Z 1 StPO hat eine - unter den in § 270 Abs 4 StPO genannten, hier vorgelegenen Voraussetzungen zulässige - gekürzte Urteilsausfertigung die in § 270 Abs 2 StPO genannten Angaben mit Ausnahme der Entscheidungsgründe (also auch die Inhaltserfordernisse nach § 260 StPO) zu enthalten. Im Urteilstenor, der bei Fehlen der Entscheidungsgründe, demnach im Fall einer nach § 270 Abs 4 StPO gekürzten Urteilsausfertigung, diese als Bezugspunkt für die materiellrechtliche Beurteilung ersetzt (vgl zu § 458 Abs 3 StPO idF vor BGBl I 2009/52: Ratz, WK-StPO § 292 Rz 6; 13 Os 52/09k [13 Os 53/09g]; zur auch nach Inkrafttreten des Budgetbegleitgesetzes 2009 BGBl I 2009/52 unveränderten Rechtslage siehe 12 Os 49/10p [12 Os 50/10k, 12 Os 51/10g, 12 Os 52/10d]; vgl auch 11 Os 7/10d [8/10a]) ist sohin auszusprechen, welcher Tat der Angeklagte schuldig befunden worden ist, und zwar unter ausdrücklicher Bezeichnung der einen bestimmten Strafsatz bedingenden Tatumstände, worunter nichts anderes zu verstehen ist als die für die Subsumtion entscheidenden Tatsachen (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO).

Im Hinblick auf die konstitutive und taxative Enumeration der Suchtgifte und psychotropen Stoffe in Suchtgiftverordnung und Psychotropenverordnung (BGBl II 1997/374 und 375 in der jeweils geltenden Fassung - vgl die Regelungsverweise in den Legaldefinitionen der Suchtgifte in § 2 Abs 1, 2 und 3 SMG sowie der psychotropen Stoffe in § 3 Abs 1 und 2 SMG) bezieht sich strafrechtlich relevantes Verhalten nach dem Suchtmittelgesetz (hier laut den Schuldsprüchen: § 15 StGB, § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, Abs 3 SMG und § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG) immer nur auf in Suchtgiftverordnung oder Psychotropenverordnung konkret erfasste Wirkstoffe. Es sind daher stets konkrete Urteilsfeststellungen zur - solcherart entscheidenden - Tatsache der Beschaffenheit, nämlich der Wirkstoffart (und -menge) der jeweils tatverfangenen Substanzen erforderlich. Die - hier vorliegende - bloße Bezeichnung mit Marken- oder Handelsnamen sowie die bloße Nennung der Anzahl und Bezeichnung von (allenfalls ein Suchtgift oder einen psychotropen Stoff enthaltenden) Tabletten genügt den aufgezeigten Feststellungserfordernissen damit nicht (RIS-Justiz RS0114428; Litzka/Matzka/Zeder SMG² § 1 Rz 11 bis 14 mwN). Dass „Substitol 200 mg“ allenfalls gerichtsnotorisch nach seiner Produktbeschreibung „200 mg Morphinsulfat entsprechend 150 mg Morphin“ (siehe insoweit Anhang I.1.b SV, „Morphin“) enthält, vermag daran übrigens nichts zu ändern, weil es in Betreff notorischer Tatsachen zwar keiner Beweisaufnahme, wohl aber deren Feststellung bedarf (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 600).

Sollte im erneuerten Verfahren festgestellt werden, dass die verfahrensgegenständlichen Tabletten Suchtgift enthalten, wird das Landesgericht bei neuerlicher ausschließlicher Erweisbarkeit von Tathandlungen des Erwerbens und Besitzens (§ 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG) sowie gewerbsmäßigen Überlassens (§ 27 Abs 1 Z 1 achter Fall und Abs 3 SMG) gegebenenfalls auch die privilegierenden Bestimmungen der Abs 2 und 5 des § 27 SMG (ob die Angeklagte diese Taten ausschließlich zum persönlichen Gebrauch [§ 27 Abs 2 SMG] oder um sich für ihren persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen [§ 27 Abs 3 iVm § 27 Abs 5 SMG] begangen hat) und die Diversionsbestimmungen der §§ 35, 37 SMG zu beachten haben (vgl zu den Erfordernissen von Feststellungen zu Ausnahmesätzen bei gekürzter Urteilsausfertigung erneut 12 Os 49/10p [12 Os 50/10k, 12 Os 51/10g, 12 Os 52/10d]; 15 Os 152/10g [15 Os 153/10d]).

Zum Widerrufsbeschluss:

Nach § 55 Abs 1 StGB ist die bedingte Nachsicht einer Strafe zu widerrufen, wenn eine nachträgliche Verurteilung gemäß § 31 StGB erfolgt und eine bedingte Nachsicht bei gemeinsamer Aburteilung nicht gewährt worden wäre.

Die Bestimmung des § 494a Abs 1 StPO, die das Landesgericht für Strafsachen Wien in seiner den Widerruf der mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 18. Oktober 2010, GZ 18 U 301/09z-31, gewährten bedingten Strafnachsicht betreffenden Entscheidung vom 8. Februar 2010 zu Grunde legte, stellt ausdrücklich auf die Verurteilung wegen einer „vor Ablauf der Probezeit … nach einer bedingten Nachsicht“ begangenen strafbaren Handlung ab, während § 31 StGB nur für Taten gilt, die (wie die hier vorliegenden) vor dem früheren Urteil begangen wurden. Die Zuständigkeit zur Entscheidung über den Widerruf bei nachträglicher Verurteilung (§ 55 StGB) richtet sich daher nach § 495 Abs 2 StPO (RIS-Justiz RS0111521; Jerabek in WK² § 55 Rz 5). Demnach obliegt die Beschlussfassung über einen Widerruf im Fall einer nachträglichen Verurteilung jenem Gericht, dessen Urteil eine bedingte Nachsicht enthält und - was nur für den hier nicht gegebenen Fall Bedeutung hat, dass nicht nur eines der im Zusammenhang des § 31 StGB stehenden Urteile eine bedingte Nachsicht enthält - zuletzt rechtskräftig wurde (§ 495 Abs 2 StPO). Daher war vorliegend zur Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht das Bezirksgericht Innere Stadt Wien im Verfahren AZ 18 U 301/09z berufen.

Da sich die Gesetzesverletzungen - abgesehen von der durch die Anwendung der §§ 31, 40 StGB grundsätzlich ausgeglichenen Unterlassung der Verfahrensverbindung - zum Nachteil der Verurteilten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), deren Feststellung konkrete Wirkung zuzuerkennen, das Urteil sowie den - von der Rechtskraft des Urteils abhängigen - nach § 494a Abs 1 Z 2 und 4 StPO gefassten Beschluss aufzuheben und die Sache im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien zurückzuverweisen. Im Fall eines erneuten Schuldspruchs wird das Bezirksgericht Innere Stadt Wien im Verfahren AZ 18 U 301/09z über einen allfälligen Widerruf gemäß § 55 StGB zu entscheiden haben.

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