Spruch:
In der Strafsache gegen Bernhard H***** wegen § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB, AZ 3 U 152/08p des Bezirksgerichts Kitzbühel, verletzen das Gesetz
1./ das in der Hauptverhandlung vom 29. Oktober 2009 gefällte Zwischenerkenntnis, mit dem der vom Verteidiger gestellte Antrag auf Vernehmung des Zeugen Dirk de R***** abgewiesen wurde in § 3 Abs 1, Abs 2 zweiter Satz und § 55 Abs 1 und 2 StPO,
2./ das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 28. September 2010, AZ 21 Bl 554/09t (ON 81 der U-Akten), in § 468 Abs 1 Z 3 (iVm § 281 Abs 1 Z 4), § 475 Abs 1 StPO,
3./ das Protokoll über die Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck vom 28. September 2010, AZ 21 Bl 554/09t (ON 80 der U-Akten), in § 291 iVm § 271 Abs 1 Z 4, 6 und 7 StPO.
Die Urteile des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 29. Oktober 2009, GZ 3 U 152/08p-54, und des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 28. September 2010, AZ 21 Bl 554/09t (ON 81 der U-Akten), werden aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Kitzbühel zurückverwiesen.
Mit seinem Erneuerungsantrag wird Bernhard H***** auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 29. Oktober 2009, GZ 3 U 152/08p-54, wurde Bernhard H***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1, Abs 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von zwei Jahren bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat er am 13. August 2007 in 6364 Brixen als Lenker eines Fahrzeugs aufgrund mangelnder Vorsicht und Aufmerksamkeit im Straßenverkehr die Fußgängerin Helene S***** fahrlässig schwer am Körper verletzt, indem er diese beim Rückwärtsfahren niederstieß.
Den wesentlichen Urteilsfeststellungen zufolge befand sich Bernhard H***** mit seinem Fahrzeug auf einem Parkplatz, den Helene S***** als Fußgängerin querte. Als sich die Frau hinter dem Fahrzeug befand, setzte es der Angeklagte - die Genannte übersehend - langsam rückwärts in Bewegung. Günther F*****, ein Arbeitskollege des Angeklagten, bemerkte, dass dieser auf die Fußgängerin zufuhr, und betätigte die Hupe seines LKWs, woraufhin H***** sein Fahrzeug anhielt. Dieses kam allerdings erst nach der Berührung mit der Fußgängerin zum Stillstand. S***** erlitt durch die vom Fahrzeug herrührende Gewalteinwirkung gegen die Außenseite ihres linken Unterschenkels bzw ihres Kniegelenks ein Weichteiltrauma, einen Mehrfragmentbruch des Wadenbeins und - infolge Einknickens des Beines im Sinne einer vermehrten X-Beinstellung - einen Bruch des Schienbeinkopfs. Der Angeklagte hätte bei der - ihm möglichen und auch zumutbaren - Einhaltung der erforderlichen Aufmerksamkeit die sich in seinem Nahbereich befindliche Fußgängerin wahrnehmen und von der Fortsetzung des Rückwärtsfahrmanövers Abstand nehmen können, wodurch er den Unfall und damit die Verletzungen der Helene S***** verhindert hätte.
Die Urteilsannahme, wonach es zu einer - für die Verletzungsentstehung kausalen - Berührung zwischen dem vom Angeklagten gelenkten Fahrzeug und der Fußgängerin gekommen war, stützte das Erstgericht im Wesentlichen auf die Aussage der Helene S***** im Zusammenhalt mit einem kraftfahrzeugtechnischen Gutachten sowie auf die Ausführungen des medizinischen Sachverständigen. Der Angeklagte selbst konnte keine Angaben zum Unfallhergang machen, insbesondere konnte er weder bestätigen noch ausschließen, dass es zu einem Kontakt zwischen dem von ihm gelenkten Fahrzeug und dem Opfer kam.
In der Hauptverhandlung vom 18. Juni 2009 (ON 39) beantragte der Verteidiger die Vernehmung des Zeugen Dirk De R***** zum Beweis dafür, dass keine Kollision zwischen dem vom Angeklagten gelenkten Fahrzeug und Helene S***** stattgefunden hatte und sich diese ihre Verletzungen durch einen vom Angeklagten unbeeinflussten Sturz zugezogen hatte (ON 39 S 15). Diesen Beweisantrag hielt der Verteidiger in der Hauptverhandlung vom 10. September 2009 (ON 50), zu deren Beginn die Parteien auf eine Neudurchführung wegen Zeitablaufs gemäß § 276a StPO verzichteten (ON 50 S 3), ausdrücklich aufrecht (ON 50 S 4) und legte dazu ein Schreiben des Zeugen Dirk de R***** vor, in dem dieser unter anderem bestätigte, dass die Frau „mitten auf dem Weg eingeknickt“ sei, „weil sie versuchte, schnell aus dem Weg des VW zu kommen“, und er ganz sicher sei, dass es zu keiner Berührung zwischen dem Fahrzeug und der Fußgängerin gekommen wäre und der Wagen noch vor der Verletzten angehalten habe (ON 50 S 5). In der Hauptverhandlung vom 29. Oktober 2009 (ON 53) wurde vom Verteidiger erneut die Vernehmung dieses Zeugen „beantragt bzw aufrechterhalten“ zum Beweis dafür, dass es zu keiner Berührung zwischen dem Fahrzeug des Angeklagten und Helene S***** gekommen ist (ON 53 S 5).
Diesen Beweisantrag wies der Erstrichter mit der Begründung ab, dass es laut medizinischem Sachverständigen zu einer Berührung gekommen sein muss, um das Verletzungsbild erklären zu können; ferner könne die Beurteilung, ob eine Verletzung entstehen kann oder nicht, nicht durch einen Zeugen geklärt werden, sondern sei „eine medizinische Frage sowie Frage der Beweiswürdigung“ (ON 53 S 5).
In der Urteilsbegründung hielt das Erstgericht weiter fest, dass die Unfallschilderung des Zeugen de R***** „im Hinblick auf die unmissverständliche und klare gutachterliche Stellungnahme“ des medizinischen Sachverständigen „unbeachtlich“ sei. Denn der Sachverständige habe klargestellt, dass Ursache der Verletzungen der Helene S***** am linken Kniegelenk eine stumpf-mechanische Gewalteinwirkung gegen die linke seitliche Knieregion gewesen sein müsse, ein „einfaches Einknicken“ - wie vom Zeugen de R***** geschildert - mit Sicherheit nicht zu den diagnostizierten Verletzungen geführt hätte und die Angaben dieses Zeugen, wonach es zu keiner Berührung zwischen dem Fahrzeug und Helene S***** gekommen sei, daher mit dem objektivierten Verletzungsbild nicht in Einklang zu bringen seien. Nach Auffassung des Erstgerichts zeige zudem schon „eine lebensnahe Betrachtung, dass Helene S***** nicht einfach aus eigenen Stücken und ohne Grund zu Boden gefallen sein kann“.
Gegen das verurteilende Erkenntnis des Bezirksgerichts Kitzbühel erhob Bernhard H***** Berufung wegen Nichtigkeit aus den Gründen der Z 4 und 9 lit b des § 281 Abs 1 StPO iVm § 468 Abs 1 Z 3 und 4 StPO sowie wegen des Ausspruchs über die Schuld, die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche. Einen nichtigkeitsbegründenden Verfahrensmangel (Z 4) erblickte der Rechtsmittelwerber unter anderem in der Abweisung seines Antrags auf zeugenschaftliche Vernehmung des Dirk de R*****.
In der Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck am 28. September 2010 zum AZ 21 Bl 554/09t (ON 80 der U-Akten) trug der Verteidiger seine Berufung vor und beantragte erneut die Vernehmung des Zeugen Dirk de R***** (ON 80 S 3). Nach den Anträgen der Staatsanwaltschaft und des Privatbeteiligtenvertreters zog sich der Senat zur Beratung zurück. Nach seinem Wiedererscheinen verkündete der Vorsitzende „den Beschluss und das Urteil samt den wesentlichen Entscheidungsgründen“ (ON 80 S 3).
Der Urteilsspruch sowie der Spruch des vom Vorsitzenden mit dem Urteil verkündeten Beschlusses sind im Protokoll über die Berufungsverhandlung nicht enthalten.
Nach der schriftlichen Urteilsausfertigung (ON 81 der U-Akten) gab das Landesgericht Innsbruck der Berufung des Angeklagten keine Folge, wobei es in der Urteilsbegründung bei Erörterung des auf den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 4 StPO gestützten Beschwerdevorbringens hervorhob, dass die Vernehmung des Zeugen Dirk de R***** in erster Instanz aus den vom Erstgericht angeführten Gründen zutreffend unterlassen worden sei (ON 81 S 7 f).
Die Generalprokuratur führt gemäß § 23 Abs 1 StPO überzeugend aus, dass einige der dargestellten Vorgänge und das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht mit dem Gesetz nicht in Einklang stehen.
Rechtliche Beurteilung
1. Gemäß § 55 Abs 1 StPO, der das in Art 6 Abs 3 lit d MRK verfassungsmäßig verankerte Beweisantragsrecht einer strafrechtlich verfolgten Person auf einfachgesetzlicher Ebene umsetzt, ist der Beschuldigte berechtigt, die Aufnahme von Beweisen zu beantragen, wobei Beweisthema, Beweismittel und notwendige Informationen zur Durchführung der Beweisaufnahme zu bezeichnen sind sowie - soweit dies nicht offensichtlich ist - begründet werden muss, weswegen das Beweismittel geeignet sein könnte, das Beweisthema zu klären. § 55 Abs 2 StPO nennt die Gründe für das zulässige Unterbleiben einer Beweisaufnahme.
Unzulässig ist bei der Abweisung eines Beweisantrags eine vorgreifende Beweiswürdigung, also die Ablehnung mit der Begründung, dass das Gericht vom Gegenteil des genannten Beweisthemas bereits überzeugt sei, oder deswegen, weil das behauptete Resultat der Beweisaufnahme von vornherein als unglaubwürdig anzusehen sei (Danek, WK-StPO § 238 Rz 11). Das Gericht ist demnach nicht berechtigt, einen Beweisantrag über eine rechtserhebliche Tatsache nur deshalb abzuweisen, weil es aufgrund anderer Beweise schon zur Annahme des gegenteiligen Sachverhalts gelangt ist (Fabrizy, StPO10 § 55 Rz 16).
Auch mit Blick auf den in § 3 Abs 1, Abs 2 zweiter Satz StPO normierten prinzipiellen Verfahrensgrundsatz der materiellen Wahrheitsforschung, demzufolge das Gericht mit diesem Ziel alle Tatsachen, die für die Beurteilung der Tat von Bedeutung sind, aufzuklären und die zur Belastung und zur Verteidigung des Beschuldigten dienenden Umstände mit gleicher Sorgfalt zu ermitteln hat, dürfen Beweismittel, die der Wahrheitsermittlung in entscheidungswesentlichen Punkten dienlich sein können, nicht ungenützt bleiben. Erst wenn von einem solchen Beweismittel Gebrauch gemacht wurde, ist das Gericht in der Lage, sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen, ob und inwieweit ihm ein Beweiswert zukommt; es geht daher nicht an, einen Entlastungsbeweis mit der Begründung abzulehnen, dass das Gericht die Sachlage aufgrund der vorliegenden Belastungsbeweise für ausreichend geklärt halte (vgl RIS-Justiz RS0096368; RS0096582, RS0096434 und RS0105873).
Dass vorliegend das Thema des vom Verteidiger - formell einwandfrei - gestellten Beweisantrags, nämlich dass es zu keiner Berührung zwischen dem vom Angeklagten gelenkten Fahrzeug und der Fußgängerin gekommen sei, für die Schuldfrage von Bedeutung ist, liegt auf der Hand (zu einer Haftung selbst ohne Kontakt vgl allerdings jüngst 2 Ob 138/09x mwN).
Das Erstgericht hielt die Vernehmung des zum angeführten Beweisthema beantragten (Entlastungs-)Zeugen allein deshalb für entbehrlich, weil es aufgrund der Ausführungen des medizinischen Sachverständigen schon vom gegenteiligen Sachverhalt überzeugt war und die bereits vorliegenden (belastenden) Beweisergebnisse für ausreichend hielt, um darauf einen Schuldspruch zu gründen. Dies jedoch ist eine unzulässige vorgreifende Beweiswürdigung.
Das - einen rite gestellten, der Klärung einer rechtserheblichen Tatsache und der Wahrheitsfindung dienenden Beweisantrag abweisende - Zwischenerkenntnis des Bezirksgerichts Kitzbühel verletzt demnach das Gesetz in den Bestimmungen der § 55 Abs 1, Abs 2 sowie § 3 Abs 1, Abs 2 zweiter Satz StPO.
2. Eine Missachtung von in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträgen (§ 238 StPO), die den Kriterien des § 55 Abs 1, Abs 2 StPO entsprechen, stellt eine Verletzung von Verteidigungsrechten dar, und kann - auch im Verfahren vor dem Bezirksgericht (§ 468 Abs 1 Z 3 StPO) - zum Gegenstand einer Urteilsanfechtung aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO gemacht werden.
Zutreffend hat der Angeklagte in seiner Berufung die in erster Instanz durch die unzulässige Abweisung des Beweisantrags bewirkte Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte unter diesem Aspekt geltend gemacht.
Indem das Landesgericht Innsbruck als Berufungsgericht der Berufung des Angeklagten trotz Vorliegens dieses Nichtigkeitsgrundes nicht Folge gab, verletzte es das Gesetz in den Bestimmungen der § 468 Abs 1 Z 3 iVm § 281 Abs 1 Z 4, § 475 Abs 1 StPO.
3. Auf die Protokollführung in der Berufungsverhandlung über Rechtsmittel gegen Urteile der Bezirksgerichte ist § 291 StPO iVm § 271 StPO analog anzuwenden (RIS-Justiz RS0125853).
Gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO hat das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll den Spruch des Urteils zu enthalten. Dieser gesetzlichen Anforderung wird das Protokoll über die Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck (ON 80 der U-Akten) nicht gerecht.
Ferner sind gemäß § 271 Abs 1 Z 4 StPO alle wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens sowie gemäß Abs 1 Z 6 leg cit alle Anträge der Beteiligten des Verfahrens und die darüber getroffenen Entscheidungen zu protokollieren. Zwar enthält das Protokoll über die Berufungsverhandlung die Vorträge der Beteiligten sowie den vom Verteidiger im Rahmen der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld gestellten Beweisantrag (vgl Danek, WK-StPO § 271 Rz 17, 19), nicht aber den Spruch des - offenbar dazu - vom Vorsitzenden gemeinsam mit dem Urteil verkündeten Beschlusses, dessen Inhalt im Ergebnis allerdings der S 11 des Berufungsurteils entnommen werden kann.
Das Protokoll über die Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck vom 28. September 2009, AZ 21 Bl 554/09f (ON 80), verletzt demnach das Gesetz in den Bestimmungen des § 291 iVm § 271 Abs 1 Z 4, 6 und 7 StPO.
Es bleibt jedoch anzumerken, dass eine gesonderte Entscheidung über die Abweisung eines im Berufungsverfahren gestellten Beweisantrags im Rahmen der Berufungsverhandlung gar nicht erforderlich ist, wenn das - durch ordentliche Rechtsmittel (also etwa eine Verfahrensrüge nach § 281 Abs 1 Z 4 StPO, die an die prozessleitende Verfügung nach § 238 StPO anknüpft) nicht anfechtbare (§§ 479, 489 Abs 1 StPO) - Berufungsurteil dazu Ausführungen enthält (15 Os 72/07p, EvBl 2007/153, 831 = SSt 2007/57; RIS-Justiz RS0098111).
Die im Zusammenhang mit der abgelehnten Vernehmung des Tatzeugen aufgezeigten Gesetzesverletzungen können sich zum Nachteil des Verurteilten H***** ausgewirkt haben.
Der Oberste Gerichtshof sah sich gemäß § 292 letzter Satz StPO zu den aus dem Spruch ersichtlichen Aufhebungen und Aufträgen veranlasst.
Der Verurteilte war mit seinem eine Verletzung von Art 6 Abs 3 lit d MRK monierenden und dieses Ergebnis anstrebenden Erneuerungsantrag (§ 363a StPO per analogiam) darauf zu verweisen.
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