OGH 8Ob91/10f

OGH8Ob91/10f25.1.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden und durch den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner, sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. S***** T*****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger, Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirk 10, 1100 Wien, Van-der-Nüll-Gasse 20, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien, vom 29. Dezember 2009, GZ 45 R 570/09w-42, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 20. Juli 2009, GZ 40 P 19/08f-U-23 bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der Vater des minderjährigen Sohnes war aufgrund eines Scheidungsvergleichs vom 22. 9. 2004 verpflichtet, dem Sohn sowie dessen am 17. 10. 1991 geborener Schwester einen Unterhalt von je 189 EUR monatlich zu zahlen. Der Vater beantragte am 3. 3. 2009, beginnend ab 1. 2. 2009 diese Unterhaltsverpflichtung auf 30 EUR pro Monat und Kind herabzusetzen. Er beziehe nur Arbeitslosengeld und sei nur bedingt arbeitsfähig. Die Kinder sprachen sich gegen den Herabsetzungsantrag aus.

Das Erstgericht wies den Herabsetzungsantrag des Vaters für den Zeitraum 1. 2. 2009 bis 31. 5. 2009 ab; in diesem Umfang erwuchs sein Beschluss mangels Anfechtung in Rechtskraft. Im Übrigen gab das Erstgericht dem Herabsetzungsbegehren des Vaters ab 1. 6. 2009 hinsichtlich beider Kinder statt. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Der Sohn und seine Schwester befinden sich in Pflege und Erziehung der Mutter. Der Vater bezog von 1. 2. 2009 bis 8. 3. 2009 Arbeitslosengeld, war dann vom 9. 3. 2009 bis 31. 3. 2009 kurzfristig beschäftigt und erhielt vom 1. 4. 2009 bis 31. 5. 2009 neuerlich Arbeitslosengeld. Seit 1. 6. 2009 bezieht er einen Pensionsvorschuss von täglich 19,96 EUR zuzüglich zwei Familienzuschlägen. Der Vater legte mit seinem Antrag ein Gutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin vor, das diese im Zuge eines Verfahrens gemäß § 198 Abs 1 StGB am 26. 9. 2008 erstattet hatte. Danach ist der Vater für leichte, mittelschwere und halbzeitig schwere Arbeiten in allen Körperhaltungen (Sitzen, Gehen, Stehen) unter Einhaltung der üblichen Pausen als arbeitsfähig anzusehen. Auszuschließen sind Arbeiten in überwiegend gebückter oder hockender Stellung. Der Vater ist am linken Auge blind und leidet im Bereich der Lendenwirbelsäule unter wiederkehrenden Schmerzen. Unter Anspannung seiner Kräfte könnte der Vater ab 1. 1. 2009 ein monatliches Durchschnittseinkommen (inkl Sonderzahlungen) als Expedithelfer in Höhe von 1.169 EUR monatlich oder als Bürobote in Höhe von 1.207 EUR monatlich verdienen. Es treffen ihn keine weiteren Sorgepflichten.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass der Vater gemäß § 140 ABGB zur Leistung von Geldunterhalt verpflichtet sei. Ihm wäre die Erzielung eines (arithmetisch) durchschnittlichen Einkommens von 1.188 EUR ab 1. 1. 2009 möglich gewesen, sodass dieser Betrag für den Zeitraum 1. 2. 2009 bis 31. 5. 2009 als Bemessungsgrundlage heranzuziehen sei. Da die Anspannung nicht zur reinen Fiktion führen dürfe, sei ab 1. 6. 2009 nur mehr der vom Vater bezogene Pensionsvorschuss in Höhe von monatlich 608 EUR als Bemessungsgrundlage heranzuziehen. Der Vater, der in Lebensgemeinschaft lebe, sei ungeachtet seines geringen Einkommens in der Lage, den Betrag von 30 EUR monatlich je Kind zu leisten.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs beider Kinder nicht Folge. Die Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach im Fall des Bezugs eines Pensionsvorschusses eine Anspannung nicht in Betracht komme, entspreche der ständigen Rechtsprechung. Gemäß § 23 Abs 2 Z 1 AlVG sei für die Zahlung eines Pensionsvorschusses erforderlich, dass mit der Zuerkennung von Leistungen aus der Sozialversicherung zu rechnen sei. Von einem Unterhaltsschuldner könne daher nicht verlangt werden, dass er sich tatkräftig um die Wiedererlangung eines Arbeitsplatzes bemühe, wenn ein solches Verhalten für die beantragte Leistung aus der Pensionsversicherung geradezu kontraproduktiv wäre. Mangels Vermittelbarkeit eines Unterhaltsschuldners auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt während des Bezugs eines Pensionsvorschusses könne daher keine Anspannung erfolgen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig ist, weil zur Thematik abweichende Judikatur existiere.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Sohnes; die Tochter erhob kein Rechtsmittel.

Der Vater beteiligte sich nicht am Revisionsrekursverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und in seinem - im Abänderungsantrag mit enthaltenen (RIS-Justiz RS0041774) - Aufhebungsantrag auch berechtigt.

1. Den Unterhaltspflichtigen trifft gemäß § 140 Abs 1 ABGB die Obliegenheit, im Interesse seiner Kinder alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einzusetzen. Unterlässt er dies, so wird er nach dem Anspannungsgrundsatz so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS-Justiz RS0047686; Gitschthaler, Die Anspannungstheorie im Unterhaltsrecht - 20 Jahre später, ÖJZ 1996, 553 [554]). Maßstab hiefür ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen rechtschaffenen Familienvaters (4 Ob 181/98s; Hopf in KBB² § 140 Rz 16). Der Anspannungsgrundsatz wird dort herangezogen, wo schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte versäumt wird (RIS-Justiz RS0047495), sodass der angemessene Unterhalt des Berechtigten nicht mehr gewährleistet ist (RIS-Justiz RS0047511 [T2]). Das Verschulden kann in vorsätzlicher Unterhaltsflucht bestehen; es genügt aber auch (leicht) fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer zumutbarer Einkommensbemühungen (RIS-Justiz RS0047495 [T2]).

2. So indiziert beispielsweise der Bezug von Sozialhilfe im Allgemeinen, dass der Unterhaltspflichtige nicht in der Lage ist, einen Arbeitsplatz zu finden (Gitschthaler aaO 558). Dies muss jedoch nicht so sein: es ist durchaus möglich, dass auch bei rechtmäßigem Bezug der Sozialhilfe die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen bestehen bleiben (4 Ob 2068/96p zu § 7 Abs 1 Z 1 UVG). Die realen Erwerbschancen eines Unterhaltspflichtigen sind wie die Anwendung des Anspannungsgrundsatzes immer nach den konkreten Umständen des Einzelfalls auszuloten (RIS-Justiz RS0113751).

2.1 Diese Maßstäbe sind auch im Fall des Bezugs von Vorschüssen auf Leistungen der Pensionsversicherung gemäß § 23 AlVG (Pensionsvorschuss) anzuwenden. Auch hier ist im Einzelfall zu beurteilen, ob dem Unterhaltspflichtigen die Unterlassung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ungeachtet der Beantragung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit und der damit verbundenen Gewährung von Pensionsvorschuss vorwerfbar ist.

Der Oberste Gerichtshof sprach zum UVG aus, dass aus dem bloßen Umstand, dass der Unterhaltspflichtige einen Pensionsvorschuss bezieht, noch nicht abgeleitet werden kann, dass es ihm nicht mehr möglich sei, ein Arbeitseinkommen zu erzielen, das eine gesetzliche Unterhaltspflicht begründen würde (10 Ob 72/10a mwH zu §§ 20, 7 Abs 1 Z 1 UVG in der durch das FamRÄG 2009 BGBl I 2009/75 geänderten Rechtslage; vgl auch 10 Ob 63/09a zu § 7 Abs 1 Z 1 UVG aF). In der Entscheidung 10 Ob 72/10a führte der Oberste Gerichtshof aus, dass es trotz des Bezugs etwa eines Pensionsvorschusses durchaus möglich sei, dass die Voraussetzungen für eine Anspannung des unterhaltspflichtigen Vaters weiterhin vorliegen. Den Unterhaltspflichtigen treffe nämlich die Obliegenheit, im Interesse seiner Kinder alle seine Fähigkeiten und Kräfte zur Erlangung eines entsprechenden Einkommens einzusetzen. Nur dann, wenn ihm trotz entsprechender Anstrengung aus Gründen, wie etwa einer Krankheit oder schlechter Arbeitsmarktlage, eine Erwerbstätigkeit nicht möglich wäre, könnten die Unterhaltsvorschüsse trotz Fortbestehens des (höheren) Titels eingestellt oder herabgesetzt werden.

3. Mangels ausreichender Sachverhaltsgrundlagen kann allerdings im konkreten Fall derzeit noch nicht beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für eine Anspannung des unterhaltspflichtigen Vaters auch im hier noch strittigen Zeitraum ab 1. 6. 2009 vorlagen. Nach dem Vorbringen der Kinder wurde der Vater im Strafverfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht verurteilt. Aus dem in diesem Verfahren erstatteten (von ihm selbst vorgelegten) Gutachten ergibt sich eine zwar eingeschränkte, aber grundsätzlich vorhandene Arbeitsfähigkeit. Der Vater hat gegenüber der Gutachterin selbst angegeben, dass er seit dem Jahr 2000 bis zum Zeitpunkt der Gutachtenserstattung überwiegend gearbeitet habe und nach wie vor 30 Wochenstunden arbeite; er sei insgesamt nur rund ½ Jahr arbeitslos gewesen. Nach den Feststellungen ist der Vater noch bis 31. 3. 2009 einer (kurzfristigen) Beschäftigung nachgegangen. Nach seinem am 3. 3. 2009 gestellten Antrag auf Unterhaltsherabsetzung bis zum 31. 5. 2009 befand er sich zu keinem Zeitpunkt in einem Krankenstand. Auch am 26. 5. 2009, als der Vater dem Erstgericht mitteilte, dass er einen Antrag auf Zuerkennung einer Invaliditätspension gestellt habe, gab er an, bedingt arbeitsfähig zu sein. Er sei laufend auf Arbeitssuche, habe aber bis jetzt noch keinen Arbeitsplatz gefunden. Ihm sei ein Kuraufenthalt (als Maßnahme der Gesundheitsvorsorge gemäß § 307d ASVG) bewilligt worden.

3.1 Um daher beurteilen zu können, ob der Vater auch über den 1. 6. 2009 hinaus anzuspannen ist, muss geprüft werden, ob dem Vater unterhaltsrechtlich vorzuwerfen ist, dass er auch über diesen Zeitpunkt hinaus keine medizinisch mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Dies kann, wie bereits ausgeführt, nicht allein aufgrund der Tatsache verneint werden, dass dem Vater ein Pensionsvorschuss gewährt wurde. Andererseits genügt es auch nicht, auf das Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin zurückzugreifen, wie es die berufskundliche Sachverständige getan hat: denn dieses wurde am 26. 9. 2008 erstattet, sodass sich in der bis zum 1. 6. 2009 verstrichenen Zeit der Gesundheitszustand des Vaters verschlechtert haben kann. Dies wurde allerdings im Verfahren erster Instanz bisher nicht erörtert.

3.2 Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu beurteilen haben, ob dem Vater die Erzielung eines die Höhe des Pensionsvorschusses übersteigenden Erwerbseinkommens über den 1. 6. 2009 hinaus auch medizinisch möglich und zumutbar war. Ist dies der Fall und ist dem Vater die Unterlassung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, wie sie beispielsweise im berufskundlichen Gutachten genannt wird, vorwerfbar, so wird er auch bei rechtmäßigem Bezug des Pensionsvorschusses im konkreten Fall über den 1. 6. 2009 hinaus anzuspannen sein.

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