Spruch:
In der Strafsache gegen Driton A*****, AZ 32 U 41/09b des Bezirksgerichts Amstetten, verletzt das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 25. Jänner 2010, AZ 9 Bl 151/09v, das Gesetz in § 473 Abs 2 StPO.
Dieses Urteil wird aufgehoben und dem Landesgericht St. Pölten die neuerliche Entscheidung über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Bezirksgerichts Amstetten, AZ 32 U 41/09b, aufgetragen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 20. August 2009, GZ 32 U 41/09b-12, wurde Driton A***** von der Anklage (ON 7), „er sei am 6. April 2009 in W***** als Pkw-Lenker unter Außerachtlassung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit in die Vorrangstraße (B1) eingefahren und in weiterer Folge links zu einer Hauseinfahrt zugefahren, ohne sich zu vergewissern, ob das Ein- bzw Zufahren ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer erfolgen kann, wodurch es zum Zusammenstoß mit dem bevorrangten Motorradlenker Alois K***** kam, und habe dadurch den Genannten, der eine Gehirnerschütterung, eine Zerreißung der Schambeinfuge, eine Rissquetschwunde im Bereich des Kinns, eine Rissquetschwunde im Bereich des rechten Ellbogens mit Eröffnung des Schleimbeutels und eine Brustkorbprellung erlitt, schwer am Körper verletzt“ gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Der Bezirksrichter traf dazu folgende (zusammengefasst wiedergegebene) Urteilsfeststellungen:
Am 6. April 2009 ereignete sich auf der Bundesstraße 1 bei Straßenkilometer 143,878 im Gemeindegebiet von W***** ein Verkehrsunfall, an welchem der Angeklagte Driton A***** als Lenker des Personenkraftwagens BMW 3RE einerseits und Alois K***** als Lenker des Motorrads Honda CBR600F andererseits beteiligt waren. Der Angeklagte kam von der Landesstraße L84, welche durch das Vorrangzeichen „Vorrang geben“ gegenüber der B1 abgewertet ist, und bog bei der Kreuzung mit der B1 - ohne dabei den in Richtung Ö***** fahrenden Motorradlenker Alois K***** in dessen Vorrang zu verletzen - nach rechts (in Richtung Ö*****) ab.
Der Angeklagte hielt vorerst eine parallel zur B1 führende Fahrlinie am rechten Fahrstreifen befindlich ein. Er plante in weiterer Folge, auf den Parkplatz des Hauses B*****, nach links abzubiegen. In diesem Bereich ist die Sperrlinie über eine Wegstrecke von insgesamt ca 13 Metern (etwa acht Meter nach Beginn des Trichterbereichs der L84) unterbrochen und ermöglicht sohin das Linksabbiegen und Zufahren zum Objekt S*****; weiters befindet sich in Annäherung an den Kreuzungsbereich mit der L84 in Fahrtrichtung Ö***** (Fahrtrichtung des Alois K*****) auf der linken Seite des Fahrstreifens eine Sperrfläche, welche bis auf Höhe des Trichterbeginns der einmündenden L84 ausgeführt ist.
Der Angeklagte setzte ordnungsgemäß den Blinker nach links und blickte etwa 15 Meter vor der Kollisionsstelle (und etwa 2,7 Sekunden vor der Kollision) in den Rückspiegel wie auch in den linken Seitenspiegel; zu diesem Zeitpunkt befand sich der Motorradlenker K***** noch nicht in Überholstellung, jedoch im objektiven Sichtbereich des Angeklagten. Der Pkw-Blinker nach links leuchtete bis zur Kollision etwa drei Mal auf. Da sich für den Angeklagten keine objektiv auffällige bzw unklare Verkehrssituation ergab, sah dieser keinen Anlass, von einem Linksabbiegemanöver Abstand zu nehmen. Der Angeklagte rechnete auch aufgrund der Verkehrssituation bzw der Bodenmarkierungen (Sperrlinie und -fläche) nicht mit einem Überholen durch andere Verkehrsteilnehmer und musste aufgrund der örtlichen Situation auch nicht damit rechnen. Er sah sohin von einem zweiten Blick in den Seiten- bzw Rückspiegel unmittelbar vor dem Linksabbiegemanöver ab und begann dieses.
Der sich im Nachfolgeverkehr befindliche Motorradlenker Alois K***** machte nicht von der sich ihm bietenden Gelegenheit Gebrauch, mit einer sehr leichten Betriebsbremsung hinter dem auf die B1 eingebogenen Pkw des Angeklagten kollisionsfrei zu verbleiben, sondern entschloss sich - unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt - zu einem Überholmanöver, welches er jedenfalls kürzer als 2,7 Sekunden vor der Kollision begann. Er übersah in diesem Zusammenhang, dass der Angeklagte den linken Blinker betätigt und dieser dadurch seine Absicht bekundet hatte, nach links zu dem Objekt S***** zuzufahren. Hätte der Angeklagte unmittelbar vor dem Linkseinlenken einen neuerlichen Spiegelblick durchgeführt bzw auf den allfälligen herannahenden Nachfolgeverkehr geachtet, hätte er das herannahende Motorrad bereits in Überholstellung und mit deutlichem Geschwindigkeitsüberschuss wahrnehmen und den Unfall durch vorläufige Abstandnahme vom Linkseinlenken verhindern können.
Der Motorradlenker Alois K***** prallte mit etwa 50 km/h frontal gegen den linken hinteren Türbereich des Angeklagten-Pkws und im Zuge der Auslaufbewegung noch gegen den linken hinteren Seitenwandbereich.
Durch die Kollision mit dem Auto des Angeklagten erlitt der Motorradlenker Alois K***** die im (Frei-) Spruch genannten schweren Verletzungen.
Nach Ansicht des Bezirksgerichts war dem Angeklagten (schon) „keinerlei objektive Sorgfaltswidrigkeit nachweisbar“ und diesem der Verkehrsunfall daher strafrechtlich nicht vorzuwerfen, weshalb es einen Freispruch gemäß § 259 Z 3 StPO fällte.
Konstatierungen zur subjektiven Seite des inkriminierten Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB wurden vom Bezirksrichter demgemäß nicht getroffen.
Gegen diesen Freispruch richtete sich die - allein auf § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO gestützte, eine Verurteilung wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB anstrebende - Berufung wegen Nichtigkeit der Staatsanwaltschaft St. Pölten (ON 17). Die angemeldete (ON 14) Berufung wegen Schuld blieb unausgeführt.
Dabei wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass es fallaktuell für den Nachfolgeverkehr schwer erkennbar gewesen sei, wohin der Angeklagte tatsächlich abbiegen wollte, weil es sich nach den erstrichterlichen Feststellungen „lediglich um eine kurz nach dem Kreuzungsbereich unterbrochene Sperrlinie“ handelte, „die aus der Distanz des herannahenden Verletzten nicht erkennbar ist“. Im Falle einer solcherart unklaren Verkehrslage, bei der die folgenden Verkehrsteilnehmer nicht ausreichend erkennen können, dass und wo nach links abgebogen werden soll, sei nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0079255 [T3], RS0073681 [T2]) die Notwendigkeit zu bejahen, sich unmittelbar vor dem Abbiegen noch einmal davon zu vergewissern, dass dies ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer geschehen kann. Ausgehend von den erstrichterlichen Feststellungen wäre der Angeklagte dazu verpflichtet gewesen, unmittelbar vor dem Linksabbiegevorgang einen weiteren Blick in den Rückspiegel zu setzen, wodurch er den Nachfolgeverkehr erkennen, von seinem Linksabbiegemanöver Abstand nehmen und so die Verletzung des Opfers verhindern hätte können.
Nach Durchführung der mündlichen Berufungsverhandlung, bei der die Schuldberufung weder begründet noch zurückgezogen und das Beweisverfahren weder wiederholt noch ergänzt wurde (vgl das Protokoll über die Berufungsverhandlung ON 21), gab das Landesgericht St. Pölten als Berufungsgericht der Berufung der Staatsanwaltschaft St. Pölten wegen Nichtigkeit mit Urteil vom 25. Jänner 2010, AZ 9 Bl 151/09v (= ON 22), Folge, hob das angefochtene (freisprechende) Urteil auf, erkannte Driton A***** - auf Grundlage der erstgerichtlichen Feststellungen (s so ausdrücklich auf US 14 im Berufungsurteil) - des Vergehens der „fahrlässig schweren“ Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe. Über die Berufung wegen Schuld wurde nicht erkannt.
In den Urteilsgründen sprach das Berufungsgericht im Wesentlichen aus, dass die „kurze Unterbrechung der Sperrlinie“ (vgl dazu US 3 f des Urteils des Bezirksgerichts Amstetten) für einen Nachfolgeverkehr „nicht eindeutig sichtbar ist, sondern sich erst in starker Annäherung an die spätere Unfallstelle [sinngemäß wohl zu ergänzen:] als erkennbar erweist“, weshalb „insoweit eine unklare Verkehrssituation“ vorlag, die den Angeklagten zu einem zweiten Blick in den Rückspiegel unmittelbar vor Beginn des Linksabbiegemanövers verpflichtet hätte. Zudem hätte der Angeklagte berücksichtigen müssen, „dass er sein Linksabbiegemanöver unmittelbar nach einem Rechtsabbiegemanöver geplant hatte, sodass ihm hätte bewusst sein müssen, dass es für einen Nachfolgeverkehr unklar ist, ob er wirklich links abbiegen will oder es lediglich zu einer - quasi unbeabsichtigten - fehlerhaften Blinkeranzeige dadurch gekommen ist, dass der Blinkerhebel nach Rückstellung aus der Rechtsabbiegestellung nach links ‚übersteuert' wurde“.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 25. Jänner 2010 mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Das Berufungsgericht, das sich nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung des § 290 Abs 1 erster Satz StPO auf die in Beschwerde gezogenen Punkte zu beschränken hat, ist bei Erledigung einer Nichtigkeitsberufung nur insoweit zu eigenen Feststellungen über schulderhebliche Tatsachen befugt, als sich diese als begründet erwiesen hat, das erstgerichtliche Urteil also aufzuheben ist. Die Beweisaufnahme dient dann dem Ziel, anstelle einer Rückverweisung an die erste Instanz eine Entscheidung des Berufungsgerichts in der Sache selbst zu ermöglichen. Die das Beweisverfahren vor dem Berufungsgericht regelnde Bestimmung des § 473 Abs 1 und 2 StPO bezieht sich demnach neben Erkenntnissen über eine Schuldberufung auf solche, die aufgrund einer erfolgreichen Berufung wegen Nichtigkeit (oder in amtswegiger Wahrnehmung eines Nichtigkeitsgrundes) - also dem Erkenntnis über das Vorliegen des Nichtigkeitsgrundes logisch nachgeordnet - in der Sache selbst getroffen werden (RIS-Justiz RS0117419).
Gemäß § 473 Abs 2 StPO hat das Landesgericht die in erster Instanz aufgenommenen Protokolle seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Hegt es aber Bedenken gegen die Richtigkeit der erstgerichtlichen Feststellungen, sind der Angeklagte, Zeugen und Sachverständige erneut abzuhören, weil das Berufungsgericht grundsätzlich an den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt gebunden ist. Auch vom Erstgericht unterlassene (erhebliche) Feststellungen darf es nur dann selbst treffen, wenn es alle für die Sachverhaltsbeurteilung in Betracht kommenden Beweise (noch einmal) aufnimmt (RIS-Justiz RS0101775, RS0101766).
Die dem Berufungsurteil zugrunde gelegte Annahme, wonach „diese kurze Unterbrechung der Sperrlinie für einen Nachfolgeverkehr nicht eindeutig sichtbar ist, sondern sich erst in starker Annäherung an die spätere Unfallstelle als erkennbar erweist“ (US 11), stellt bloß eine hypothetische Interpretation der dies nicht zum Ausdruck bringenden Feststellungen des Erstrichters über die objektiven Verhältnisse an der Unfallstelle dar.
Ebenso verhält es sich mit dem Ausspruch des Berufungsgerichts, wonach dem Angeklagten hätte bewusst sein müssen, dass sein Linksabbiegemanöver für den Nachfolgeverkehr aufgrund des zuvor erfolgten Rechtsabbiegemanövers wegen möglicher „Übersteuerung“ des Blinkerhebels eine unklare Verkehrssituation darstellt.
Von denjenigen des Erstgerichts abweichende (s insb die wenn auch dislozierte Konstatierung des Bezirksrichters ON 12 S 13 zweiter Absatz) Feststellungen durfte das Berufungsgericht aber nicht treffen, weil es keine Beweiswiederholung und/oder -ergänzung durchführte, sodass das Urteil des Landesgerichts St. Pölten das Gesetz in der Bestimmung des § 473 Abs 2 StPO verletzt.
Demzufolge sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), das dem Angeklagten zum Nachteil gereichende Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 25. Jänner 2010 aufzuheben. Das Landesgericht St. Pölten wird somit über die Berufung (ON 14 und ON 17) der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 20. August 2009, GZ 32 U 41/09b-12, erneut zu entscheiden haben.
Einer förmlichen Aufhebung der auf dem Urteil des Berufungsgerichts beruhenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen bedarf es nicht (RIS-Justiz RS0100444).
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