Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die in der Stattgebung des Klagebegehrens für die Zeit ab 10. 7. 2008 als unangefochten unberührt bleiben, werden im Übrigen dahin abgeändert, dass sie insgesamt zu lauten haben:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zusätzlich zu dem bereits mit Urteil des Bezirksgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 7. 4. 2005, GZ 29 C 159/03g-25, zugesprochenen monatlichen Unterhaltsbetrag von 152,21 EUR für die Zeit vom 10. 7. bis zum 31. 7. 2008 weitere 319 EUR und für die Zeit ab 1. 8. 2008 weitere 450 EUR monatlich zu zahlen, und zwar die bereits fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen und die in Hinkunft fällig werdenden Beträge jeweils im Voraus am Monatsersten.
2. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei zuzüglich zu dem bereits mit Urteil des Bezirksgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 7. 4. 2005, GZ 29 C 59/03g-25, zugesprochenen monatlichen Unterhaltsbetrag von 152,21 EUR ab 1. 8. 2005 monatlich weitere 242,44 EUR, ab 1. 3. 2006 monatlich weitere 403,05 EUR, ab 1. 8. 2006 monatlich weitere 418,65 EUR sowie vom 1. 1. 2008 bis zum 10. 7. 2008 monatlich weitere 450 EUR zu zahlen, wird abgewiesen.“
Die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz werden gegeneinander aufgehoben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 445,82 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 74,30 EUR Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 11. 12. 1969 zwischen den Streitteilen geschlossene Ehe wurde aus dem überwiegenden Verschulden des Beklagten geschieden. Nachdem ein der Klägerin seinerzeit zuerkannter Unterhaltsanspruch mit einem Urteil des Erstgerichts vom 17. 10. 2001 zur Gänze für erloschen erklärt wurde, brachte sie am 24. 11. 2003 zu 29 C 159/03g des Erstgerichts eine Klage auf Unterhalt gegen den Beklagten ein. Mit Urteil des Erstgerichts vom 7. 4. 2005 wurde der Beklagte schuldig erkannt, der Klägerin ab Jänner 2002 bis 1. 1. 2003 Unterhalt in unterschiedlicher Höhe und ab 1. 1. 2003 monatliche Unterhaltsbeträge von 152,21 EUR zu zahlen. Mit einer weiteren, am 6. 7. 2006 beim Erstgericht zu 29 C 116/06p eingebrachten Klage begehrte die Klägerin zusätzlich zu dem ihr bereits zugesprochenen Unterhaltsbetrag von monatlich 152,21 EUR die Zahlung weiterer monatlicher Unterhaltsbeträge beginnend mit 1. 1. 2005. Diese Klage konnte dem Beklagten nicht zugestellt werden; ein Antrag auf Bestellung eines Abwesenheitskurators für den Beklagten wurde zurückgewiesen. Schließlich wurde die Klage mit Beschluss des Erstgerichts vom 18. 1. 2008 rechtskräftig zurückgewiesen, weil sie zur geschäftsordnungsgemäßen Behandlung ungeeignet sei.
Im vorliegenden, mit der am 10. 7. 2008 eingebrachten Klage eingeleiteten Verfahren begehrt die Klägerin letztlich ab 1. 8. 2005 - somit teilweise rückwirkend - zuzüglich zu dem ihr bereits zugesprochenen Unterhaltsbetrag von monatlich 152,21 EUR weitere monatliche Unterhaltszahlungen in folgender Höhe:
ab 1. 8. 2005 242,44 EUR
ab 1. 3. 2006 403,05 EUR
ab 1. 8. 2006 418,65 EUR
ab 1. 1. 2008 450,00 EUR.
Sie brachte dazu vor, dass sich ihr Einkommen bereits mit 1. 1. 2005 verringert habe. Sie habe im Verfahren 29 C 159/03g mangels näherer Informationen das Einkommen des Beklagten schätzen müssen. Nachträglich habe sich herausgestellt, dass der Beklagte über höhere Einkünfte verfüge.
Der Beklagte wandte gegen das Klagebegehren zusammengefasst ein, dass ein dreijähriger Unterhaltsrückstand rückwirkend nicht geltend gemacht werden könne. Die von der Klägerin geforderte Einrechnung eines fiktiven Rentenbetrags für eine ihm von der AUVA zugestandene Abfindung einer Rente habe nicht zu erfolgen. Die Angaben der Klägerin über ihr Einkommen seien nicht nachvollziehbar.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es stellte die beiderseitigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse detailliert fest, einschließlich jener Rentenbeträge, die der Beklagte im Fall der lebenslangen Auszahlung der von der AUVA abgefundenen Rente erhalten hätte. Rechtlich führte es aus, dass der Klägerin ein Unterhaltsanspruch von 40 % des Familieneinkommens abzüglich ihres eigenen Einkommens zustehe. Bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage sei die dem Beklagten abgefundene Unfallrente als fiktive monatliche Unfallrente einzubeziehen. Gemäß § 72 EheG könne die Klägerin auch für die Vergangenheit Unterhalt geltend machen. Sie habe zwar rückständigen Unterhalt nicht eingemahnt. Der Beklagte sei jedoch auf Dauer ortsabwesend gewesen. Deshalb habe weder eine Zustellung erfolgen können, noch sei eine Einmahnung möglich gewesen. Auch die als Mahnung zu wertende, am 6. 7. 2006 beim Erstgericht eingebrachte Unterhaltserhöhungsklage habe dem Beklagten nicht zugestellt werden können. Der Klägerin sei daher nicht vorzuwerfen, dass sie den Beklagten nicht gemahnt habe, sodass sie rückwirkend ab Gerichtsanhängigkeit für drei Jahre, daher ab 1. 8. 2005, den erhöhten Unterhalt begehren könne.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten, der das Ersturteil hinsichtlich des Zuspruchs rückständigen Unterhalts zur Gänze, im Übrigen aber nur teilweise bekämpfte, nicht Folge.
Für die Geltendmachung rückwirkenden Unterhalts sei gemäß § 72 EheG Verzug des unterhaltspflichtigen Ehegatten Anspruchsvoraussetzung. Dieser trete nicht automatisch bei Nichtzahlung nach der Scheidung ein. Die Klägerin habe die begehrte Unterhaltserhöhung nicht außergerichtlich gefordert, sie könne sie daher erst ab Rechtshängigkeit begehren. Unter Rechtshängigkeit sei Gerichtsanhängigkeit gemäß § 41 JN zu verstehen. Von der Rechtshängigkeit sei im vorliegenden Fall bereits mit der Einbringung der Klage im Vorverfahren 29 C 116/06p des Erstgerichts am 6. 7. 2006 auszugehen. Dass die Klage im Vorverfahren dem Beklagten nicht zugestellt werden konnte, sei unbeachtlich. Bereits in dieser Klage seien für die Vergangenheit dieselben Erhöhungsbeträge begehrt worden wie in der nun eingebrachten. Bei richtiger Auslegung des § 72 EheG könne auch ohne Verzug Unterhalt für die Zeit von einem Jahr vor Rechtshängigkeit gefordert werden, sodass der Klägerin Unterhalt in der begehrten Höhe ab 1. 8. 2005 zustehe. Der von der AUVA dem Beklagten gewährte Abfindungsbetrag sei nicht auf einen Zeitraum von zehn Jahren aufzuteilen. Der einseitige Verzicht des Beklagten auf Auszahlung dieser Abfindung dürfe unter Zugrundelegung des Anspannungsprinzips nicht zum Nachteil der Klägerin ausgelegt werden.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Frage, ob der Unterhalt nach § 72 EheG rückwirkend für die Zeit von einem Jahr vor Rechtshängigkeit oder erst ab Klageeinbringung gebühre, keine einheitliche höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die (als „außerordentliche“ und „ordentliche“ bezeichnete) Revision des Beklagten. Sein durch die Teilung des Rechtsmittels in einen „ordentlichen“ und einen „außerordentlichen“ Abschnitt in unübersichtlicher Weise gespaltener Revisionsantrag ist insgesamt dahin zu interpretieren, dass er die Abänderung der Urteile der Vorinstanzen im Sinne der Abweisung des Begehrens auf Unterhalts für die Zeit vor dem 10. 7. 2008 anstrebt. Hilfsweise beantragt er, die Urteile der Vorinstanzen im Umfang der Anfechtung aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die als einheitliches Rechtsmittel zu behandelnde Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu § 72 EheG abgewichen ist. Sie ist auch berechtigt.
1. Aus den Revisionsanträgen und den gesamten Ausführungen in der Revision ergibt sich, dass sich der Beklagte gegen den Zuspruch von Unterhalt für die Vergangenheit wendet. Ausdrücklich nicht angefochten wird der Zuspruch von laufendem, erhöhten Unterhalt ab 10. 7. 2008. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher, soweit sie der Klägerin den begehrten erhöhten Unterhalt ab 10. 7. 2008 zusprechen, unangefochten in Rechtskraft erwachsen. Auf die in der Revision - überdies nur kursorisch - berührte Frage der Berücksichtigung der dem Beklagten von der AUVA zuerkannten Rentenabfindung braucht daher nicht eingegangen zu werden.
2. Seit der Entscheidung des verstärkten Senats SZ 61/143 = 6 Ob 544/87 können Unterhaltsansprüche zwar grundsätzlich auch für die Vergangenheit gestellt werden (RIS-Justiz RS0034969). Durch diese Rechtsprechung wird aber § 72 EheG nicht berührt. Der unterhaltsberechtigte geschiedene Ehegatte kann daher für die Vergangenheit gemäß § 72 EheG Unterhalt „erst von der Zeit an fordern, in der der Unterhaltspflichtige in Verzug gekommen oder der Unterhaltsanspruch rechtshängig geworden ist“.
3. Der Begriff der „Rechtshängigkeit“ iSd § 72 EheG bezieht sich auf die konkret eingebrachte Unterhalts-(erhöhungs-)klage. Der ab „Rechtshängigkeit“ begehrte Unterhalt ist daher kein Unterhalt für die Vergangenheit (RIS-Justiz RS0033341). Anspruchsvoraussetzung für einen Unterhaltsanspruch für die Vergangenheit, also für die die Zeit vor Rechtshängigkeit, ist aber nach dem klaren Wortlaut des § 72 EheG Verzug des Unterhaltspflichtigen (3 Ob 78/05z; 6 Ob 113/03s; Stabentheiner in Rummel³ Rz 2 zu § 72 EheG; Koch in KBB³ Rz 2 zu § 72 EheG). Verzug des Unterhaltspflichtigen tritt nicht nur im Fall einer Festsetzung des Unterhalts durch Urteil oder Vereinbarung, sondern auch dann ein, wenn der Unterhaltsberechtigte, den ihm - vermeintlich - zustehenden Unterhalt betragsmäßig bestimmt einmahnt (Stabentheiner in Rummel³ aaO Rz 2; Hopf/Kathrein, Eherecht² § 72 Anm 2; Koch aaO Rz 1).
4. Die vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen, wonach „bei richtiger Auslegung des § 72 EheG auch ohne Verzug Unterhalt für die Zeit von einem Jahr vor Rechtsanhängigkeit gefordert werden kann“, sind überholt. Sie gehen auf die frühere Fassung des § 72 EheG zurück, die hier nicht mehr anwendbar ist. Seit der Aufhebung des damaligen § 72 2. Halbsatz EheG durch den VfGH (G 76/01 = BGBl I 2004/52) ist der vom Berufungsgericht in diesem Zusammenhang vertretenen Auffassung der Boden entzogen (näher etwa Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, EheG § 72 Rz 4 ff).
5. Die von der Klägerin bereits im Jahr 2006 eingebrachte, dem Kläger nie zugestellte und letztlich zurückgewiesene Klage kann im Sinne der oben dargestellten Rechtslage für das vorliegende Verfahren keine „Rechtshängigkeit“ begründen und auch nicht als Einmahnung des Unterhaltsanspruchs qualifiziert werden. Zwar sprach der Oberste Gerichtshof bereits aus, dass die Einbringung einer Klage des unterhaltsberechtigten geschiedenen Ehegatten gegen den Unterhaltsschuldner auf Auskunft und Rechnungslegung über die für die Unterhaltsbemessung maßgebenden Umstände Verzug nach § 72 EheG auslösen kann, weil der Unterhaltsschuldner nämlich von diesem Zeitpunkt an in gleicher Weise wie bei einer Mahnung damit rechnen muss, dass er auf rückständigen Unterhalt in Anspruch genommen wird (10 Ob 47/07w = SZ 2007/72). Verzug iSd § 72 EheG kann durch eine Klage aber nur ausgelöst werden, wenn sie dem Beklagten auch zugestellt wird. Die im Verfahren des Erstgerichts 29 C 116/06p eingebrachte und auf Zahlung höherer Unterhaltsbeträge ab 1. 1. 2005 gerichtete Klage konnte dem Beklagten aber nie zugestellt werden; sie wurde letztlich vor Eintritt der Streitanhängigkeit zurückgewiesen. Damit kann in dieser Klage aber keine einen Verzug des Unterhaltsschuldners bewirkende Mahnung iSd § 72 EheG gesehen werden.
6. Dass die Klägerin den Beklagten auch sonst vor der Rechtshängigkeit der hier zu beurteilenden Klage nicht außergerichtlich gemahnt hat, ist unstrittig. Die Voraussetzungen für den Zuspruch von Unterhalt für die Zeit vor Rechtshängigkeit der vorliegenden Klage liegen daher nicht vor.
7. In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen im Sinne der Abweisung des Begehrens auf Zuspruch von Unterhalt für die Zeit vor Rechtshängigkeit der hier zu beurteilenden Klage abzuändern. Ob „Rechtshängigkeit“ erst mit Streitanhängigkeit iSd § 232 ZPO eintritt (6 Ob 2190/96v; Koch aaO Rz 22; Schwind, Eherecht² 292) oder bereits mit Gerichtsanhängigkeit (Stabentheiner aaO Rz 3; Zankl in Schwimann² § 72 EheG Rz 6; Hopf/Kathrein aaO Anm 2; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, § 72 Rz 2), kann hier auf sich beruhen, weil der Beklagte in seiner Revision nur den Zuspruch von Unterhalt für die Zeit vor dem 10. 7. 2008 - also vor Gerichtsanhängigkeit der Klage - bekämpft hat.
8. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz beruht auf § 43 Abs 1 ZPO. Die Klägerin ist hier mit dem gesamten für die Vergangenheit (für drei Jahre vor Klageerhebung) geltend gemachten Unterhaltsanspruch unterlegen. Der von der Klägerin begehrte Unterhaltsrückstand beträgt im Durchschnitt monatlich 386,65 EUR und erreicht im Verfahren erster Instanz damit nahezu den Betrag der ab 1. 8. 2008 begehrten zusätzlichen Unterhaltszahlung in Höhe von monatlich 450 EUR. Angesichts des damit (auch vor dem Hintergrund einer Kapitalisierung der Unterhaltsbeträge gemäß § 58 JN) weitgehend gleichwertigen Obsiegens beider Teile ist es angebracht, die Verfahrenskosten der Parteien gegeneinander aufzuheben. Barauslagen haben die Parteien im Verfahren erster Instanz nicht verzeichnet.
Im Berufungsverfahren hat der Beklagte die Entscheidung des Erstgerichts über die Zuerkennung laufenden erhöhten Unterhalts für den Zeitraum bis 31. 10. 2008 nur in Höhe von monatlich 344,21 EUR und für den Zeitraum ab 1. 11. 2008 nur in Höhe von monatlich 341,27 EUR (erfolglos) angefochten. Demgegenüber beträgt der durchschnittliche monatliche Betrag an begehrtem Unterhalt für die Vergangenheit 386,65 EUR. Damit ergibt sich aber auch für das Berufungsverfahren ein weitgehend gleichwertiger Prozesserfolg, sodass auch für das Verfahren zweiter Instanz Kostenaufhebung einzutreten hat. Auch im Berufungsverfahren haben die Streitteile keine Barauslagen verzeichnet.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Streitgegenstand im Revisionsverfahren war nur mehr das Begehren auf Leistung erhöhter Unterhaltsbeträge für die Vergangenheit. Der Beklagte hat daher im Revisionsverfahren zur Gänze obsiegt, sodass ihm die Klägerin die Kosten der Revision zu ersetzen hat (allerdings nicht wie verzeichnet für „zwei Revisionen“). Ausgehend vom für die Vergangenheit im Monatsdurchschnitt begehrten Unterhaltsbetrag von 386,65 EUR errechnet sich der Jahresbetrag nach § 9 Abs 3 RATG mit 4.586,64 EUR. Auf dieser Grundlage waren dem Beklagten Kosten zuzuerkennen. Da ihm Verfahrenshilfe bewilligt wurde, waren ihm die begehrten Pauschalgebühren nicht zuzuerkennen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)