OGH 14Os43/09v

OGH14Os43/09v29.4.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. April 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fuchs in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Schneider als Schriftführer in der Strafsache gegen Helmut E***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 122 Hv 31/07h des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten Helmut E***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 13. März 2009, AZ 19 Bs 71/09v (= ON 2064), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Helmut E***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Der Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Helmut E*****, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der B***** (nachfolgend B***** AG), wurde mit - zufolge angemeldeter Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung - nicht rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 4. Juli 2008, GZ 122 Hv 31/07h-1933, der Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB (Schaden zum Nachteil der B***** über 1,7 Mrd EUR) und des Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB (Schaden zum Nachteil der B***** ca 7,5 Mio EUR) sowie mehrerer Vergehen nach § 255 Abs 1 Z 1 AktienG und nach § 41 Z 1 PSG schuldig erkannt und unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB sowie unter Anrechnung der Übergabehaft und der Vorhaft zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von neuneinhalb Jahren verurteilt.

Mit ebenfalls nicht rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 21. Mai 2008, GZ 122 Hv 34/07z-52, wurde Helmut E***** des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB schuldig erkannt und zu einer zweieinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. Februar 2009, GZ 122 Hv 31/07h-2038, wurde die über Helmut E***** am 14. Februar 2007 verhängte und wiederholt fortgesetzte Untersuchungshaft wegen Fortbestehens des Haftgrunds der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO fortgesetzt.

Einer dagegen erhobenen Beschwerde des Genannten gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 13. März 2009, AZ 19 Bs 71/09v (ON 2064), nicht Folge und ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem vom Erstgericht angenommenen Haftgrund an.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde, die eine unrichtige Beurteilung und „Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 4 StPO analog/unvollständige Sammlung der Entscheidungsgrundlagen" in Betreff des Haftgrundes moniert, dessen Substituierbarkeit durch gelindere Mittel und Unverhältnismäßigkeit der Haft behauptet sowie ferner Ausgeschlossenheit des (nach § 32 Abs 3 StPO zuständigen) Haftrichters erster Instanz und zudem eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§ 9 StPO) reklamiert, ist nicht berechtigt.

Im Grundrechtsbeschwerdeverfahren kann die rechtliche Annahme von Fluchtgefahr als eine der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren vom Obersten Gerichtshof nur dahin überprüft werden, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen (vgl § 174 Abs 3 Z 4 StPO; worunter das Gesetz die deutliche Bezeichnung der den Ausspruch über das Vorliegen entscheidender Tatsachen - hier einer hohen Wahrscheinlichkeit von Flucht - tragenden Gründe versteht) abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (RIS-Justiz RS0118185, RS0117806). Denn § 173 Abs 2 StPO verlangt nur, dass die herangezogenen Haftgründe auf bestimmten Tatsachen beruhen, kennt als Vergleichsbasis des Willkürverbots mithin nur die in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen, weshalb auch eine bei dieser Prognose unterbliebene Erwähnung einzelner aus Sicht des Beschwerdeführers erörterungsbedürftiger Umstände nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden kann (RIS-Justiz RS0117806). Bestimmte Tatsachen können äußere und innere Umstände (wie Charaktereigenschaften und Wesenszüge) sein, die sich aus dem aktuellen Einzelfall ergeben müssen und nicht bloß allgemeine Erfahrungstatsachen darstellen dürfen (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 [aF] Rz 28; RIS-Justiz RS0117806).

Der vom Oberlandesgericht in seiner (demnach allein den Bezugspunkt der Grundrechtsbeschwerde bildenden; Ratz, Zur Bedeutung von Nichtigkeitsgründen im Grundrechtsbeschwerdeverfahren, ÖJZ 2005, 415 ff [416]) Entscheidung ins Treffen geführte gewichtige Umstand (vgl Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 [aF] Rz 32) der Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe (vgl das gesetzliche Indiz der Z 1 des § 173 Abs 2 StPO: „wegen Art und Ausmaß der ihm voraussichtlich bevorstehenden Strafe") im Zusammenhalt mit den - methodisch einwandfrei (RIS-Justiz RS0115236) durch identifizierende Wiederholung von Erwägungen früherer Beschwerdeentscheidungen - unter anderem weiters angeführten Tatsachen, dass der Angeklagte, der einen Bezug zum Ausland hat, im Verfahrensverlauf bereits Anstrengungen unternommen hat, sich dem von ihm nicht akzeptierten Strafverfahren und dem Zugriff der österreichischen Strafverfolgungsbehörden zu entziehen, und dass ferner die Annahme eines (für eine Flucht mit Gründung einer neuen Existenz an sicherem Ort sowie die Finanzierung des Unterhalts ausreichenden) Fluchtfonds in Anbetracht langjährigen beträchtlichen Einkommens des Angeklagten gerechtfertigt ist, lassen einen willkürfreien Schluss auf Fluchtgefahr zu. Frühere Versuche, sich der Strafverfolgung zu entziehen, konnten auch im nunmehrigen Verfahrensstadium in die Erwägungen einbezogen werden, weil die vom Oberlandesgericht thematisierte Sicherung der Strafvollstreckung gleichwertiger Zweck der Untersuchungshaft ist (Kirchbacher, Das neue Haftrecht, ÖJZ 2008/30, 268; Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vorbem zu §§ 173 bis 197 [aF] Rz 8).

Zur Frage gelinderer Mittel und der Verhältnismäßigkeit der Haft ist angesichts der in der Grundrechtsbeschwerde reklamierten Judikatur des EGMR anzumerken, dass der Angeklagte in erster Instanz bereits verurteilt wurde, sodass die Untersuchungshaft nach der Rechtsprechung des EGMR ihre Rechtfertigung in Art 5 Abs 1 lit a EMRK findet (Grabenwarter EMRK3 § 21 Rz 11 mwN). Der Schutzbereich des Art 5 Abs 3 zweiter Satz EMRK erstreckt sich aber nur auf die Haftgründe

des Art 5 Abs 1 lit c EMRK (Jus-Extra OGH-St 3723 = EvBl 2005/91 S

395 = SSt 2004/86).

Verhältnismäßigkeit der Haft und ihre Substituierbarkeit durch gelindere Mittel sind aber nach § 177 Abs 2 StPO (vgl Art 5 Abs 1 und 2 PersFrG) zu überprüfen:

Das Oberlandesgericht hat angeführt, weshalb eine Sicherheitsleistung nach § 180 Abs 1 StPO von dritter Seite auch in Verbindung mit weiteren gelinderen Mitteln (§ 173 Abs 5 StPO) ungeeignet ist, den Haftzweck zu erreichen, und sich dabei unter anderem auf die in erster Instanz verhängte Freiheitsstrafe in der Dauer von neuneinhalb Jahren, die aus den mutmaßlichen Malversationen erhellende massiv gegen Treu und Glauben gerichtete Einstellung des Angeklagten und darauf bezogen, dass dessen Skrupellosigkeit und Unverfrorenheit in der Verfolgung eigener Interessen durch bestimmte Umstände (BS 39) indiziert ist. Dabei unberücksichtigt gebliebene (aktenmäßig belegte) Tatumstände werden in der Beschwerde nicht deutlich und bestimmt bezeichnet (vgl Ratz, Zur Bedeutung von Nichtigkeitsgründen und Grundrechtsbeschwerdeverfahren, ÖJZ 2005, 415 ff [419]). Unverhältnismäßigkeit der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts etwas mehr als zwei Jahre andauernden Untersuchungshaft ist angesichts der Höhe der in erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe nicht gegeben.

Analoges Heranziehen der Z 1 des § 281 Abs 1 StPO kommt im Grundrechtsbeschwerdeverfahren nicht in Betracht (vgl Ratz, Zur Bedeutung von Nichtigkeitsgründen im Grundrechtsbeschwerdeverfahren, ÖJZ 2005, 415 ff [417]), wobei davon abgesehen eine Ausgeschlossenheit des über die Fortsetzung der Haft erkennenden Richters zufolge angeblicher Schuldvermutungen schon deshalb ausscheidet, weil die Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 EMRK) hinsichtlich der für die Annahme des Haftgrundes herangezogenen bestimmten Tatsachen nicht gilt (RIS-Justiz RS0121606). Soweit die Beschwerde eine Verletzung des Beschleunigungsgebots - im Übrigen ohne konkreten Vorwurf von Säumigkeit im Sinn der §§ 9, 177 Abs 1 StPO, sondern mit unbeachtlichen Prognosen über die Dauer des Rechtsmittelverfahrens - behauptet, scheitert sie am Unterlassen einer entsprechenden Bekämpfung in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Beschluss und daher an der Erschöpfung des Instanzenzugs (RIS-Justiz RS0114487).

Helmut E***** wurde demnach im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb die Grundrechtsbeschwerde in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur (erneut; vgl zuletzt 14 Os 68/08f, 14 Os 70/08p vom 2. Juni 2008) ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.

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