OGH 12Os51/08d

OGH12Os51/08d19.6.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Juni 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Mayrhofer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. Lässig und Dr. T. Solé als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Puttinger als Schriftführer, in der Strafsache gegen Rene L***** und eine andere Angeklagte wegen des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB, AZ 3 U 29/07p des Bezirksgerichts Reutte, über die von der Generalprokuratur gegen das Abwesenheitsurteil dieses Gerichts vom 27. Februar 2007 (ON 10) und verschiedene Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache gegen Rene L***** und Elke S*****, AZ 3 U 29/07p des Bezirksgerichts Reutte, verletzen das Gesetz

(1) die in der am 27. Februar 2007 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 9) vorgenommene Verlesung polizeilicher und gerichtlicher Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und (Mit-)Beschuldigten in der Bestimmung des § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 Abs 5 StPO sowie

(2) die Unterlassung der Zustellung des Protokolls über die Hauptverhandlung an die Beschuldigten in der Bestimmung des § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 458 Abs 5 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Reutte vom 27. Februar 2007 (S 46, ON 10) wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung sowie Entscheidung über den vom öffentlichen Ankläger erhobenen Antrag auf Bestrafung der Beschuldigten Rene L***** und Elke S***** wegen des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB (ON 5) an das Bezirksgericht Reutte verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Antrag vom 5. Jänner 2007 begehrte die Staatsanwaltschaft Innsbruck zum AZ 3 U 29/07p des Bezirksgerichts Reutte die Bestrafung Rene L*****s und Elke S*****s wegen des Vergehens der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB (ON 5).

Die Ladung zu der für den 27. Februar 2007 anberaumten Hauptverhandlung wurde für Rene L***** am 19. Februar 2007 hinterlegt, von Elke S***** am 14. Februar 2007 persönlich übernommen (ON 6). Da die Beschuldigten der Vorladung nicht Folge geleistet hatten, führte das Bezirksgericht die Hauptverhandlung gemäß § 459 StPO aF in deren Abwesenheit durch (ON 9). Dabei wurde „gemäß § 252 Abs 1 Z 4 StPO im Einvernehmen mit der Bezirksanwältin" der wesentliche Akteninhalt verlesen (S 45). Dieser umfasste ua polizeiliche und gerichtliche Protokolle über Vernehmungen von Zeugen und (Mit-)Beschuldigten (S 11 bis 26, ON 3, ON 4). Nach Durchführung der Verlesungen wurde - ebenfalls in Abwesenheit der Beschuldigten - das (hinsichtlich beider kondemnierende) Urteil verkündet (US 46). Am 5. März 2007 verfügte das Bezirksgericht die Zustellung je einer Urteilsausfertigung an die Beschuldigten (S 54), die Zustellung einer Ausfertigung des Verhandlungsprotokolls wurde nicht angeordnet.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht das dargestellte Vorgehen mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Nach der - gemäß § 458 Abs 5 StPO auch vor dem Bezirksgericht geltenden - Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen (ua) Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz genannten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis Z 4 StPO) verlesen werden. Da hier keiner dieser Ausnahmetatbestände vorlag, war die Verlesung der genannten Protokolle über die polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen unzulässig. Insbesonders kann aus dem Nichterscheinen der Beschuldigten zur Hauptverhandlung deren Einverständnis iS des § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103).

Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beschuldigten, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen. Dieser Bestimmung wurde ebenfalls nicht entsprochen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die Gesetzesverletzungen zum Nachteil der Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.

Die vom solcherart kassierten Abwesenheitsurteil rechtslogisch abhängigen Entscheidungen und Verfügungen, wie insbesondere der im Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 8. November 2007, AZ 7 Bs 438/07f, enthaltene Ausspruch, dass die mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 30. Juli 2007, GZ 36 Hv 69/07k-60, über Rene L***** verhängte Sanktion eine Zusatzstrafe (§§ 31 Abs 1, 40 StGB) zum Urteil des Bezirksgericht Reutte vom 27. Februar 2007, GZ 3 U 29/07p-10, darstellt, gelten aufgrund der Urteilsaufhebung gleichermaßen als beseitigt (12 Os 99/07m; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 28). Das Bezirksgericht Reutte wird die erforderlichen Verständigungen vorzunehmen haben.

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