OGH 13Os167/07v (13Os168/07s)

OGH13Os167/07v (13Os168/07s)13.2.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. Februar 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pulker als Schriftführerin in der Strafsache gegen Soja L***** wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 17 U 397/05d des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. Februar 2006, GZ 17 U 397/05d-14, und die Zustellung dieses Beschlusses ohne Rechtsmittelbelehrung erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Nordmeyer, jedoch in Abwesenheit der Verurteilten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache AZ 17 U 397/05d des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien verletzten das Gesetz

1. die zwar nach Anhörung der Staatsanwaltschaft, nicht aber der Verurteilten, erfolgte Beschlussfassung am 3. Februar 2006 (ON 14) auf Angleichung des Urteils vom 12. Dezember 2005 (ON 7) in der Bestimmung des § 270 Abs 3 erster Satz StPO iVm § 447 StPO aF;

2. das Unterlassen einer auf Zustellung der Rechtsmittelbelehrung gerichteten Anordnung in der Verfügung vom 8. März 2006 (S 57) in der Bestimmung des § 3 StPO (idF vor BGBl I 2004/19) iVm § 270 Abs 3 zweiter Satz StPO, § 447 StPO aF.

Der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. Februar 2006, GZ 17 U 397/05d-14, wird aufgehoben.

Text

Gründe:

Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 12. Dezember 2005, GZ 17 U 397/05d-7, wurde Soja L***** des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach der gemäß § 458 Abs 3 StPO gekürzten Urteilsausfertigung wurde die Strafe gemäß § 43 Abs 1 StGB für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Zugleich wurde gemäß § 53 Abs 3 StGB iVm § 494a Abs 1 Z 2 (und Abs 6) StPO vom Widerruf der Soja L***** im Verfahren AZ 15 U 39/05x des Bezirksgerichts Josefstadt gewährten bedingten Strafsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

Mit Beschluss vom 3. Februar 2006 (ON 14) „änderte" das Bezirksgericht Innere Stadt Wien „die gekürzte Urteilsausfertigung vom 12. 12. 2005, Seite 39 bis 41, nach Durchsicht des handgeschriebenen Protokolls, aufgrund des Telefonats mit der Staatsanwaltschaft Wien vom 30. 1. 2006 gemäß § 271 Abs 1 StPO von Amts wegen" dahin, dass die Textpassage „Gemäß § 43 Abs 1 StGB wird die verhängte Strafe für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen." entfällt. Weiters änderte das Gericht den gemäß § 494a Abs 1 Z 2 (und Abs 6) StPO gefassten Beschluss dahin gehend, dass dieser nicht das Verfahren AZ 15 U 39/05x des Bezirksgerichts Josefstadt, sondern jenes zu AZ 15 U 951/98x des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien betreffe, in welchem die gewährte bedingte Strafnachsicht zu diesem Zeitpunkt im Übrigen bereits endgültig nachgesehen war (S 35). Zur Begründung bezog sich das Gericht auf eine „aufgrund von Widersprüchlichkeiten" in der Urteilsausfertigung eingeholte Mitteilung der Bezirksanwältin, die sich auf deren Erinnerung und Einsichtnahme in das Tagebuch gründete.

Der Verurteilten Soja L***** wurde dieser Beschluss am 13. März 2006 zugestellt, ohne dass eine auf den Anschluss einer Rechtsmittelbelehrung gerichtete Anordnung getroffen worden wäre (S 57). Am 15. Mai 2006 langte bei Gericht ein Schreiben ein, in dem Soja L***** behauptet, die bedingte Nachsicht der Freiheitsstrafe sei vom Richter verkündet und vom Dolmetscher wiederholt worden (ON 17). Nach der vom Gericht sodann beigeschafften Kopie des Sitzungsvermerks im Tagebuch der Staatsanwaltschaft (ON 19) wurde die Freiheitsstrafe unbedingt ausgesprochen und die Probezeit zu AZ 15 U 39/05x des Bezirksgerichts Josefstadt verlängert.

Eine von der Verteidigerin gegen das Urteil erhobene Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe wies das Landesgericht für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 5. Juni 2007, AZ 135 Bl 41/07s (ON 26), zurück.

In ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur Folgendes aus:

„1./ In analoger Anwendung der Bestimmungen über die Berichtigung eines fehlerhaft ausgefertigten Urteils (§ 270 Abs 3 StPO) kann auch eine vom mündlich verkündeten Urteil - an das das Gericht gebunden ist und das in derselben Instanz nicht geändert werden darf (Fabrizy StPO9 § 268 Rz 3) - abweichende Urteilsurschrift korrigiert ('angeglichen') werden (vgl Danek in WK-StPO § 270 Rz 56). Die Berichtigung (Angleichung) des Urteils ist nach dem Gesetzeswortlaut jederzeit möglich, somit auch nach Rechtskraft des Urteils; von der Rechtsprechung wird die Bestimmung einschränkend allerdings dahin ausgelegt, dass eine Berichtigung (Angleichung) nur solange zulässig ist, als sich noch keine Folgen an den Fehler geknüpft haben (Danek aaO Rz 51). Wenn daher ein Rechtsmittelgericht auf der Grundlage der ihm vorliegenden unrichtigen Ausfertigung über das Urteil entschieden hat oder auf Grund folgender, auf die unberichtigte Ausfertigung gestützter Entscheidungen anderer Gerichte oder Behörden bereits gutgläubig Rechte erworben wurden, ist eine Berichtigung (Angleichung) nicht mehr möglich (SSt 32/92). Unter Beachtung dieser Prämissen ist daher - wie hier - auch die Berichtigung (Angleichung) eines gemäß § 458 Abs 3 StPO gekürzt ausgefertigten (rechtskräftigen) Urteils zulässig.

Auf welche Art sich das Gericht allerdings Gewissheit über eine von einer Verfahrenspartei (hier: der Bezirksanwältin) behauptete Fehlerhaftigkeit der Urteilsausfertigung verschaffen soll, lässt das Gesetz offen. § 270 Abs 3 erster Satz sieht nur fakultativ vor, dass vor Beschlussfassung 'allenfalls' die Parteien anzuhören sind.

Im Lichte des Fairnessgebotes des Art 6 EMRK wird die fakultative Anhörung beider Parteien jedoch dann obligatorisch, wenn (wie ersichtlich im vorliegenden Fall) der Richter sich an einzelne der in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 und Abs 2 StPO erwähnten Punkte nicht erinnern kann und etwa auch die vom Schriftführer verfasste Mitschrift hierüber keine oder unzureichende Angaben enthält, sodass er die Berichtigung (Angleichung) nur mehr auf Aussagen (Aufzeichnungen) der Verfahrensparteien (und/oder anderer Personen wie zB eines Dolmetschers) zu stützen vermag.

Gemäß Art 6 Abs 1 EMRK ist zentraler Bestandteil des Fairnessgebotes der Grundsatz der Waffengleichheit, wonach jede Partei eine vernünftige Möglichkeit haben muss, ihren Fall einschließlich ihrer Beweise unter Bedingungen zu präsentieren, die sie in keine nachteilige Position gegenüber ihrem Gegner versetzt (ÖJZ 1996, MRK-E 16 [S 430]; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3, § 24, Rz 61). Es ist daher unfair, wenn die Anklagebehörde gegenüber dem Gericht ein Vorbringen erstattet, von dem die Verteidigung nichts weiß (neuerl. ÖJZ 1996, MRK-E 16) und allein dieses zur Grundlage seiner Entscheidung nimmt.

Aus Art 6 EMRK folgt auch eine Garantie auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Voraussetzung für deren effektive Ausübung ist es, dass die Parteien Kenntnis vom Akteninhalt, insbesondere von den von der gegnerischen Partei vorgebrachten Stellungnahmen und Beweismitteln haben (Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3, § 24, Rz 64).

Im konkreten Fall hat die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft - über Anfrage des Bezirksrichters, der offenkundig keine eigene Erinnerung an bzw keine ausreichenden Aufzeichnungen über den Urteilsspruch hatte (vgl. die Begründung ON 14) - Auskunft über ihre Erinnerung und über den Inhalt ihres Sitzungsvertreterprotokolls gegeben (AS 3 verso). Diese Auskunft kann - zumal die sodann ausgeschaltete bedingte Strafnachsicht betreffend - nicht als neutral angesehen werden, sodass die Verteidigungsrechte der Verurteilten und der Grundsatz der Waffengleichheit zu beachten gewesen wären. Die Auskunft der Staatsanwaltschaft wäre daher der Verurteilten zur Stellungnahme bekanntzugeben gewesen, um (allenfalls iVm einzuholenden Auskünften der Schriftführerin und des in der Hauptverhandlung anwesenden Dolmetschers) eine ausreichende Entscheidungsgrundlage dafür zu erhalten, ob das Vorbringen der Anklagebehörde eine Reaktion (iS einer Urteilsangleichung) verlangt oder nicht.

2./ Die hier analog anzuwendende Bestimmung des § 270 Abs 3 StPO (§ 458 Abs 5 StPO) räumt ua dem zur Ergreifung der Nichtigkeitsbeschwerde (im Verfahren vor dem Bezirksgericht: der Berufung wegen Nichtigkeit und wegen des Ausspruchs über die Schuld, §§ 464, 447 StPO) Berechtigten eine Beschwerdemöglichkeit gegen den Beschluss, mit welchem die Urteilsurschrift angeglichen wurde, ein.

Nach § 3 StPO ist das Gericht verpflichtet, den Beschuldigten, auch wo es nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, über seine prozessualen Rechte zu belehren.

Im vorliegenden Fall wurde die Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung betreffend den (nicht in die Muttersprache der Verurteilten übersetzten) Beschluss, mit welchem die Urschrift der gekürzten Urteilsausfertigung angeglichen wurde (ON 14), vom Bezirksrichter nicht verfügt und ist die Beigebung einer derartigen Belehrung auch weder aus dem Abfertigungsvermerk noch aus der Aufschrift des Rückscheins (jeweils AS 57) ersichtlich.

Beide Gesetzesverletzungen gereichen der Verurteilten zum Nachteil. Mit der demgemäß gebotenen Aufhebung des Berichtigungsbeschlusses ON 14 (zwecks gesetzmäßiger Vornahme der allenfalls gebotenen Urteilsangleichung) wird auch die verfehlte (ersichtlich nicht der mündlichen Beschlussfassung entsprechende) Angleichung des gemäß § 53 Abs 3 StGB iVm § 494a Abs 1 Z 2 (und Abs 6) StPO gefassten Beschlusses zum Wegfall gebracht."

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Für die Angleichung der (hier nach § 458 Abs 3 StPO gekürzten) schriftlichen Ausfertigung an das mündlich verkündete Urteil ist die Bestimmung des § 270 Abs 3 StPO analog heranzuziehen (RIS-Justiz RS0098973, RS0098979). Nach § 270 Abs 3 erster Satz StPO hat der Vorsitzende das Urteil allenfalls nach Anhörung der Parteien (idF BGBl I 2007/93: der Beteiligten) zu berichtigen. Eine Verpflichtung des Vorsitzenden, Parteien vor einer Urteilsangleichung zu hören, ist daraus nicht ableitbar.

Wohl aber trägt die Vorschrift dem der StPO immanenten Prinzip des beiderseitigen Gehörs Rechnung. Solcherart ist es dem Vorsitzenden zwar durchaus gestattet, Urteile auch ohne Anhörung zu berichtigen oder anzugleichen, es ist ihm jedoch gesetzlich verwehrt, lediglich eine von mehreren Parteien zu hören.

Indem der Einzelrichter des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vor der Urteilsangleichung die Staatsanwaltschaft, nicht jedoch auch die Verurteilte angehört hat, hat er gegen § 270 Abs 3 erster Satz StPO iVm § 447 StPO aF verstoßen.

§ 3 StPO (idF vor BGBl I 2004/19) verpflichtet alle im Strafverfahren tätigen Behörden, den Beschuldigten, auch wo es nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, über seine Rechte zu belehren. Dieser Belehrungspflicht ist das Bezirksgericht Innere Stadt Wien anlässlich der nicht auch eine Rechtsmittelbelehrung erfassenden Zustellverfügung vom 8. März 2006 (S 57) nicht nachgekommen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die unterbliebene Anhörung und die unterlassene Rechtsmittelbelehrung der Verurteilten zum Nachteil gereichen, war die Feststellung der Gesetzesverletzung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen und der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. Februar 2006, GZ 17 U 397/05d-14, aufzuheben. Zufolge dadurch bedingten Entfalls der Bindungswirkung kann erforderlichenfalls neuerlich nach § 270 Abs 3 erster Satz StPO vorgegangen werden.

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