Spruch:
Der Revision wird im Sinne einer Abänderung dahin Folge gegeben, dass das erstinstanzliche Urteil einschließlich des als unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Punktes 2. wiederhergestellt wird. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit EUR 987,78 (darin enthalten EUR 41,62 USt und EUR 530 Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 7. 8. 2004 ereignete sich auf der Gemeindestraße zwischen Aigen und Lantschern ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker seines Motorrades und der Erstbeklagte als Lenker eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Vans beteiligt werden. Die Gemeindestraße verläuft im Unfallsbereich geradlinig in Ost-West-Richtung und geht Richtung Osten in eine unübersichtliche Linkskurve über. Es besteht eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 40 km/h. Der Erstbeklagte hatte das Beklagtenfahrzeug auf einer geschotterten Zufahrt zu einem Rohbau mit dem Heck zur Gemeindestraße abgestellt. Er fuhr im Rückwärtsgang, mit dem Heck Richtung Westen, auf die Gemeindestraße, um dann Richtung Osten weiterzufahren. Der Kläger befuhr die Gemeindestraße in westlicher Richtung mit einer Geschwindigkeit von 61 km/h. Der Erstbeklagte fuhr nach dem Reversieren 5,8 Sekunden vor der Kollision vom nördlichen Fahrbahnrand aus an und legte in der Folge fahrbahnparallel am nördlichen (für den Gegenverkehr bestimmten) Fahrstreifen 18 m Wegstrecke zurück, bevor er ein Auslenkmanöver nach rechts zum südlichen Fahrbahnrand ausführte. Zum Zeitpunkt des Losfahrens aus der Stillstandsposition nach Abschluss des Reversiermanövers befand sich der Unfallsgegner noch weit außerhalb des für den Erstbeklagten gegebenen Sichtbereiches. Als dem Kläger das gegnerische Fahrzeug 15,7 m vor der Unfallsstelle am nördlichen Fahrbahnrand (auf dem „falschen" Fahrstreifen) entgegenkam, reagierte der Kläger bei einer Geschwindigkeit von 61 km/h unverzüglich mit einer Bremsung. Der Erstbeklagte reagierte auf das entgegenkommende Motorrad 8,5 m und 1,1 Sekunden vor der Kollision mit einer Bremsung und einem Auslenken nach rechts. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das gegnerische Motorrad noch 10,4 m vor der Kollisionsstelle. Bei Einhaltung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h hätte der Kläger das Motorrad mit einer leichten Betriebsbremsung ohne Sturzgefahr kollisionsfrei zum Stillstand gebracht. Hätte der Erstbeklagte, der zum Unfallszeitpunkt eine Alkoholisierung von zumindest 0,9 Promille aufwies, seine Fahrlinie nach Beendigung der Rückwärtsfahrt unverzüglich nach rechts verlagert, hätte er den südlichen Fahrbahnrand bereits erreicht, als das Motorrad in seinen Sichtbereich gelangte.
Der Kläger begehrt zuletzt einen - im Revisionsverfahren der Höhe nach nicht mehr strittigen - Schadenersatzbetrag von EUR 8.438 und brachte zum Verschulden des gegnerischen Lenkers vor, dass der alkoholisierte Erstbeklagte vor dem Haus Nr 114 in die Gemeindestraße eingefahren sei, ohne den im Vorrang befindlichen Kläger zu bemerken (AS 3). Ergänzend wurde vorgebracht, der Unfall habe sich deshalb ereignet, weil der Erstbeklagte das ordnungsgemäße heranfahrende Motorrad übersehen habe (AS 18).
Die Beklagten wendeten im Wesentlichen das Alleinverschulden des Klägers ein, der aufgrund einer für die Sicht- und Fahrbahnverhältnisse überhöhten Geschwindigkeit „kurventangential abgetragen" worden sei und wegen eines klaren Fahrfehlers trotz einer Durchfahrtslücke von zumindest 2 m bis 3 m gegen das Beklagtenfahrzeug gestoßen sei. Eine Vorrangverletzung bestritten die Beklagten mit der Behauptung, zum Zeitpunkt des Einfahrens in die bevorrangte Straße sei das Motorrad des Klägers nicht sichtbar gewesen.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren ausgehend von einer Verschuldensteilung von 1 : 3 zu Lasten der Beklagten mit EUR 5.700 sA statt und wies das Mehrbegehren von EUR 2.738 sA ab. In der rechtlichen Beurteilung lastete es dem Erstbeklagten einen eklatanten Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot des § 7 StVO sowie die Alkoholisierung an und berücksichtigte auf Seite des Klägers die absolute Geschwindigkeitsüberschreitung.
Das von den Beklagten angerufene Berufungsgericht änderte das erstinstanzliche Urteil im Sinn einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens ab. Es billigte zwar grundsätzlich die Rechtsauffassung des Erstgerichtes zur krassen Verletzung des Rechtsfahrgebotes und die Verschuldensteilung, erachtete aber die dem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot zugrunde gelegten Feststellungen als nicht durch das auf eine Vorrangverletzung beschränkte Tatsachenvorbringen des Klägers gedeckt und damit als unzulässig. Die behauptete Vorrangverletzung liege mangels Sichtbarkeit des Motorrades zum Zeitpunkt des neuerlichen Anfahrens (nach Ende der Rückwärtsfahrt) nicht vor.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision aufgrund fehlender höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage zu, ob die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruches aus einem Verkehrsunfall ein vom Kläger nicht einmal andeutungsweise vorgetragenes Tatsachenvorbringen - hier den Vorwurf einer falschen Fahrlinie - decke.
Der Kläger bekämpft in seiner wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Revision das Urteil des Berufungsgerichtes mit dem Abänderungsantrag, das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und berechtigt, weil eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Berufungsgerichtes zur Relevanz der „überschießenden Feststellungen" vorliegt. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Berücksichtigung „überschießender Beweisergebnisse" bei der rechtlichen Beurteilung voraus, dass diese im Parteienvorbringen Deckung finden, sich also im Rahmen des geltend gemachten Klagsgrundes oder der erhobenen Einwendungen halten (RIS-Justiz RS0040318; RS0036933 [T2, T5]; RS0037964 [T1 und T2]; RS0037972 [T1, T6, T7 und T9]; Rechberger in Fasching Komm² Vor § 266 ZPO Rz 79).
Sogenannte „überschießende Feststellungen", die in den Prozessbehauptungen der Parteien keinerlei Deckung finden, sind hingegen bedeutungslos und unbeachtlich (RIS-Justiz RS0037972 [T6, T7, T9 und T14], SZ 74/22 mwN; Schragel in Fasching Komm² § 178 Rz 6); werden sie dennoch der Entscheidung zugrunde gelegt, wird damit nach der jüngeren Judikatur des Obersten Gerichtshofes nicht gegen Verfahrensvorschriften verstoßen, sondern die Sache unrichtig rechtlich beurteilt, was auch ohne Verfahrensrüge wahrzunehmen ist (4
Ob 102/02g = SZ 2002/72 mwN; 4 Ob 238/96v = RIS-Justiz RS0036933 [T9]
= RS0037972 [T11]; vgl RIS-Justiz RS0112213).
Ob in diesem Sinn „überschießende Feststellungen" zu berücksichtigen sind, stellt zwar grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls dar (RIS-Justiz RS0042828; RS0040318 [T3]; RS0037972 [T15]); im konkreten Fall ist aber eine auffallende, dem Berufungsgericht unterlaufene Fehlbeurteilung vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmen. Grundsätzlich hat jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (RIS-Justiz RS0037797), der Kläger somit alle anspruchsbegründenden (RIS-Justiz RS0039936), der Beklagte hingegen die rechtsverhindernden, rechtsvernichtenden oder rechtshemmenden Tatsachen (RIS-Justiz RS0039936 [T5]). In einem Verkehrsunfallprozess hat daher der Kläger vor allem seine Schäden, die Halter- bzw die Lenkereigenschaft des Beklagten (Fucik/Hartl/Schlosser, Handbuch des Verkehrsunfalles VI 52) und - soferne das Klagebegehren nicht ausschließlich auf die Gefährdungshaftung des EKHG gestützt wird und die spezielle Beweislastregelung des § 9 EKHG zum Tragen kommt - auch alle Tatumstände zu behaupten und zu beweisen, aus denen ein die Haftung für die Unfallsfolgen begründendes Verschulden des Gegners abgeleitet wird; jede in diese Richtung verbleibende Unklarheit geht dabei zu Lasten desjenigen, der ein Verschulden des Gegners behauptet (RIS-Justiz RS0022783; RS0022560; Fucik/Hartl/Schlosser, aaO). Diese vom Kläger vorzutragenden „rechtserzeugenden Tatsachen" definieren im Sinn der herrschenden Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstand den Klagegrund, aus dem das Klagebegehren bzw der Urteilsantrag als Rechtsfolge abgeleitet werden kann (vgl SZ 60/288; Rechberger aaO vor § 226 ZPO Rz 23, 29; Rechberger/Frauenberger in Rechberger ZPO² Vor § 226 ZPO Rz 15). Maßgebend für die Beurteilung des Gerichtes sind daher ausschließlich der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt und die hiebei angegebenen Tatsachen, die nicht nur im Inhalt der Klage bestehen, sondern auch aus dem ergänzenden Vorbringen (RIS-Justiz RS0037794).
Bei einem Prozess wegen eines Verkehrsunfalles liegt die beweistechnische Besonderheit darin, dass in einer wohl überwiegenden Zahl der Fälle - wie auch hier - die genaue Rekonstruktion des Unfallgeschehens durch einen gerichtlichen, kfz-technischen Sachverständigen erfolgt, dessen auf den Aussagen der Unfallbeteiligten und den sonstigen Beweisergebnissen (wie zB Lokalaugenschein, Fotos der Fahrzeuge) beruhendes Gutachten eine wesentliche Entscheidungshilfe darstellt. Dies zeigt exemplarisch dieser Fall, wo das Erstgericht im Rahmen der Beweiswürdigung von einer zweifelsfreien Rekonstruktion des Unfallsablaufes durch den Sachverständigen nach der vorgenommenen fotogrammetrischen Auswertung ausging und dadurch die Aussage des Erstbeklagten, er sei nach dem Reversiermanöver bereits am südlichen Farhbahnrand fahrbahnparallel in Richtung Osten gefahren, eindeutig als widerlegt sah (Seite 7 in ON 31). Lassen sich aber die maßgeblichen Positionen der unfallbeteiligten Fahrzeuge erst durch das kfz-technische Sachverständigengutachten exakt ermitteln, wäre die Forderung an den Kläger, sein Tatsachenvorbringen entweder dem Sachverständigengutachten detailgetreu anzupassen oder bereits zuvor sämtliche Eventualitäten des möglichen Unfallgeschehens umfangreich darzulegen, überzogen. Die Ausführungen des Berufungsgerichtes lassen außer Acht, dass ein zwischen dem bereits in der Klage behaupteten Einfahren in eine „bevorrangte" Verkehrsfläche, das in der Weiterfahrt auf dem für den Gegenverkehr bestimmten Fahrstreifen fortgesetzt wurde, und der Kollision bestehender Zusammenhang hier gegeben ist, weil das Einordnen in den Fließverkehr erst dann als beendet anzusehen ist, wenn das nach § 19 Abs 6 StVO im Nachrang befindliche Fahrzeug zur Gänze auf der für die angestrebte Bewegungsrichtung bestimmten Fahrbahnhälfte in diese Richtung fährt (RIS-Justiz RS0074457; vgl 8 Ob 178/71 = ZVR 1973/25). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes sind somit die zur Fahrlinie des Beklagtenfahrzeuges getroffenen Feststellungen durch das Klagsvorbringen gedeckt.
Gegen die Verschuldensteilung bestehen wegen der schulderschwerenden Alkoholisierung (RIS-Justiz RS0027078; RS0027068 [T1]) des Erstbeklagten keine Bedenken.
Aus diesen Erwägungen war der Revision Folge zu geben und das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.
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