OGH 10ObS134/06p

OGH10ObS134/06p12.9.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johannes Denk (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alice K*****, vertreten durch Dr. Josef Lindlbauer, Rechtsanwalt in Enns, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1200 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Mai 2006, GZ 7 Rs 53/06z-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 20. Jänner 2006, GZ 8 Cgs 88/05w-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. 3. 2005 gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte fest, dass die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag, dem 1. 7. 2004, als Hilfsarbeiterin beschäftigt gewesen und aufgrund ihres - im Einzelnen festgestellten - gesundheitlichen Zustands in der Lage sei, leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten im Verlauf einer normalen Arbeitszeit unter den üblichen Pausen auszuführen. Ausgenommen seien Arbeiten unter ständiger Kälte und Nässe sowie unter Einwirkung bronchialschleimhautreizender Dämpfe, Gase oder Staub. Rechtlich folgerte das Erstgericht, die Klägerin könne aufgrund des festgestellten medizinischen Leistungskalküls eine Reihe von Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ausüben, sodass Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG nicht vorliege.

In ihrer dagegen erhobenen Berufung machte die Klägerin unter anderem geltend, das Erstgericht habe sie als unvertretene Partei nicht angeleitet und auch nicht von Amts wegen geprüft, ob sie einen angelernten Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG ausgeübt habe. Tatsächlich sei ihre in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend ausgeübte, näher beschriebene Tätigkeit einer Endkontrolleurin in der Leiterplattenerzeugung die Ausübung eines angelernten Berufs gewesen. Diese Tätigkeit könne sie aufgrund ihres eingeschränkten Leistungskalküls nicht mehr verrichten.

Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts. Es verneinte das Vorliegen der behaupteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Die Klägerin habe in der Klage selbst angegeben, dass sie 12 Jahre berufstätig gewesen sei und als Hilfsarbeiterin in einer Elektrofirma gearbeitet habe. Sie habe nicht ausgeführt, inwieweit sie Fähigkeiten und Kenntnisse hätte erworben haben können, die einem Lehrberuf nahe kämen. Deshalb sei das Erstgericht nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin zu einem Vorbringen anzuleiten, inwieweit sie doch einen erlernten Beruf ausgeübt habe. Aus dem Vorbringen in der Berufung lasse sich nicht ableiten, sie habe Fähigkeiten und Kenntnisse erworben, die die Annahme eines angelernten Berufs erlaubten.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig, weil das Berufungsgericht aufgrund einer unzutreffenden Rechtsansicht den in der Berufung geltend gemachten Verfahrensmangel erster Instanz verneinte. Sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt. Die beklagte Partei erstattete die ihr freigestellte Revisionsbeantwortung nicht.

Zutreffend macht die Revisionswerberin geltend, dass die Frage ihres allfälligen Berufsschutzes als angelernte „Endkontrolleurin in der Leiterplattenerzeugung" nicht ausreichend geklärt wurde; fehlen doch Feststellungen über den genauen Inhalt ihrer Berufstätigkeit in den Beitragsmonaten im Beobachtungszeitraum (und vor dem Beobachtungszeitraum), die zur Beantwortung der Rechtsfrage, ob ein angelernter Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG vorliegt, notwendig sind. Alle entscheidungsrelevanten Tatsachen, für die sich im Verfahren zumindest Anhaltspunkte ergeben haben, sind im sozialgerichtlichen Verfahren von Amts wegen zu erheben (10 ObS 254/02d uva). In diesem Sinn ist die Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, in allen Fällen, in denen bei Bestehen eines solchen die Verweisbarkeit fraglich wäre, von Amts wegen zu prüfen, insbesondere dann, wenn nach dem Inhalt des Prozessvorbringens hierüber keine Klarheit besteht (SSV-NF 3/136; 10 ObS 254/02d uva; RIS-Justiz RS0084428). Nur dann, wenn jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass ein Versicherter eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt hat, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die genaue Art der Tätigkeit (SSV-NF 14/36; 10 ObS 254/02d; 10 ObS 28/03d ua).

Vom Fehlen jeglichen Anhaltspunkts kann hier entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts jedoch nicht gesprochen werden. Die Klägerin gab in ihrer von einem Richter aufgenommenen Protokollarklage an, 12 Jahre als „HA in einer Elektronikfirma" berufstätig gewesen und seit drei Jahren ohne Beschäftigung zu sein. Der Ausdruck „HA" wurde vom Erstgericht nicht erörtert und offenbar als Abkürzung für Hilfsarbeiter verstanden. Die Beklagte behauptete in der Klagebeantwortung, die Klägerin sei als Endkontrolleurin berufstätig gewesen, und meinte, Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG liege nicht vor. Gegenüber den medizinischen Sachverständigen gab die Klägerin an, in der „Endkontrolle bei Leiterplatten für PC" tätig gewesen zu sein bzw „seit 1990 in der Endkontrolle in einem Leiterplattenwerk bis 2002" gearbeitet zu haben. Mangels Kenntnis der von der Klägerin ausgeübten Tätigkeit einer Endkontrolleurin in einem Leiterplattenwerk lässt sich nicht sagen, ob ihr nicht doch Berufsschutz zukommen kann, weil die von ihr verrichtete Tätigkeit iSd § 255 Abs 2 ASVG qualifiziert war.

Im weiteren Verfahren sind daher geeignete Beweisaufnahmen über den Inhalt der Tätigkeit der Klägerin durchzuführen und die erforderlichen Feststellungen darüber zu treffen, welche Arbeiten sie genau verrichtete und welche Kenntnisse und Fähigkeiten hiefür erforderlichen waren. Unter Gegenüberstellung mit den Anforderungen des entsprechenden Lehrberufs wird dann die Frage zu klären sein, ob die Klägerin - wie sie behauptet - überwiegend eine qualifizierte Tätigkeit verrichtete und ihr dementsprechend Berufsschutz zukommt (10 ObS 28/03w ua).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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