OGH 10ObS28/03w

OGH10ObS28/03w28.1.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Günther Schön (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Katarina K*****, vertreten durch Dr. Peter Pöch, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Oktober 2002, GZ 7 Rs 270/02f-46, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 8. Jänner 2002, GZ 13 Cgs 217/00x-36, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Eingangs ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der Beklagten amtswegig von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit 1. 1. 2003 alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I Nr 1/2002).

Die am 19. 8. 1944 geborene Klägerin hat nach Beendigung des allgemeinen Schulbesuchs in Jugoslawien eine Lehr- oder Berufsausbildung nicht absolviert und zuletzt überwiegend, nämlich von 1972 bis 1987, als Maschinenarbeiterin in einer Spinnerei gearbeitet, wobei sie [stehend] Spinnmaschinen händisch und mit den Füssen [zwei Maschinen gleichzeitig] zu bedienen hatte; in Österreich erwarb sie in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag [1. 12. 1999] 30 Beitragsmonate als Hilfsarbeiterin.

Infolge ihrer Leidenszustände kann die Klägerin nur mehr leichte sitzende Tätigkeiten bei normalen Arbeitszeiten und üblichen Pausen leisten. Ausgeschlossen sind alle Arbeiten, die mit wiederholt gehäuftem tiefen Bücken, Hocken, Knien und Steigen auf Leitern und Gerüsten verbunden sind. Arbeiten unter dauerndem besonderen Zeitdruck sind nicht möglich, ferner sind Arbeiten überwiegend in Zwangshaltung ausgeschlossen.

Mit Bescheid vom 10. 10. 2000 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 8. 11. 1999 auf Gewährung der Invaliditätspension ab. Gegen diesen Bescheid richtet sich Klage mit dem Begehren, die Beklagte zur Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag zu verurteilen. Aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen und Gesamtleiden sei die Klägerin nicht mehr fähig, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Im bekämpften Bescheid werde festgestellt, dass sie nur noch für ungelernte Arbeit/Hilfsarbeitertätigkeit geeignet sei; sie habe jedoch eine angelernte (Facharbeiter-)Tätigkeit ausgeübt, nämlich gleichzeitig zwei (Spinn-)Maschinen bedient (ON 1 und 32).

Die Beklagte beantragt die Klagsabweisung. Die Klägerin sei nur als Hilfsarbeiterin tätig gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Klägerin habe trotz Überschreiten der Altersgrenze von 57 Jahren nicht Anspruch auf vorzeitige Alterspension nach § 253d ASVG alt bzw § 255 Abs 4 ASVG, weil innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag lediglich 30 Beitragsmonate vorlägen. Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG liege nicht vor, weil ihr die [im Einzelnen festgestellten] Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbar seien. Ein Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG komme der Klägerin im Hinblick darauf, dass sie Hilfsarbeitertätigkeiten verrichtet habe, nicht zu.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es verneinte das Vorliegen einer von der Klägerin in der Unterlassung einer Klärung des Berufsschutzes erblickten Mangelhaftigkeit des Verfahrens, weil "keineswegs davon gesprochen werden" könne, dass [für] die festgestellten Tätigkeiten qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten [die] an Qualität und Umfang jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind, erforderlich gewesen wären. Aus der Arbeitgeberbestätigung, wonach die Klägerin als angelernte Spinnmaschinenarbeiterin [gearbeitet habe] und zwei Spinnmaschinen zu betreuen hatte, ergäben sich keine derartigen "Hinweise und Anhaltspunkte", weil es sich bei der Bedienung von Spinnmaschinen um Hilfsarbeitertätigkeiten handle, für welche die Klägerin angelernt worden sei (Seite 8 und 9 der Berufungsentscheidung). Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt. Zutreffend macht die Revisionswerberin geltend, dass die Frage ihres allfälligen Berufsschutzes als angelernte "Spinnmaschinenarbeiterin" nicht ausreichend geklärt wurde; fehlen doch Feststellungen über den genauen Inhalt ihrer Berufstätigkeit in den Beitragsmonaten im Beobachtungszeitraum und vor dem Beobachtungszeitraum, die zur Beantwortung der Rechtsfrage, ob ein angelernter Beruf iSd § 255 Abs 2 ASVG vorliegt, notwendig sind.

Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes, die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, eine unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn nach dem Inhalt des Prozessvorbringens hierüber keine ausreichende Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Versicherte nur als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen. Nur dann, wenn jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass ein Versicherter eine angelernte Tätigkeit ausgeübt hat, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die genaue Art der Tätigkeit (SSV-NF 14/36 mwN; RIS-Justiz RS0042477 [T5 und T12]; zuletzt: 10 ObS 159/02h und 10 ObS 254/02d).

Vom Fehlen jeglichen Anhaltspunktes kann hier jedoch nicht gesprochen werden; könnte der Klägerin doch Berufsschutz zukommen, wenn es sich bei der von ihr verrichteten Tätigkeit als Spinnmaschinenarbeiterin tatsächlich um eine solche handelte, die im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG qualifiziert war. Zur Beurteilung dieser Frage reichen die Feststellungen nicht aus. Die Tatsacheninstanzen haben nämlich nur festgestellt, dass die Klägerin "zuletzt überwiegend, nämlich von 1972 bis 1987, als Maschinenarbeiterin in einer Spinnerei gearbeitet hat, wobei sie Spinnmaschinen händisch und mit den Füssen zu bedienen hatte, und dabei in Österreich in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag [1. 12. 1999] 30 Beitragsmonate als Hilfsarbeiterin erwarb". Danach kann aber nicht beurteilt werden, ob und wann die Klägerin durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten erworben hat, die jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind, und ob sie eine derart qualifizierte Tätigkeit im maßgeblichen Beobachtungszeitraum des § 255 Abs 2 ASVG überwiegend ausübte (vgl 10 ObS 291/02w mwN).

Es wird daher im weiteren Verfahren erforderlich sein, geeignete Beweisaufnahmen über den Inhalt der Tätigkeit des Klägerin durchzuführen und die erforderlichen Feststellungen darüber zu treffen, welche Arbeiten sie genau verrichtete und welche Kenntnisse und Fähigkeiten hiefür erforderlich waren. Unter Gegenüberstellung mit den Anforderungen des entsprechenden Lehrberufs wird dann die Frage zu klären sein, ob die Klägerin, wie sie behauptet, überwiegend eine qualifizierte Tätigkeit verrichtete und ihr dementsprechend Berufsschutz zukommt (10 ObS 291/02w).

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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