OGH 9ObA169/05a

OGH9ObA169/05a25.1.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht In Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Carl Hennrich und ADir. Reg.Rat Winfried Kmenta als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Johann R*****, Arbeiter, *****, vertreten durch Dr. Gerhard Hiebler und Dr. Gert Grebenjak, Rechtsanwälte in Leoben, gegen die beklagte Partei V***** AG, *****, vertreten durch Dr. Heimo Jilek, Rechtsanwalt in Leoben, wegen EUR 43.405,54 sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. September 2005, GZ 7 Ra 71/05y-25, womit das Urteil des Landesgericht Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 7. März 2005, GZ 23 Cga 95/04v-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark den pauschalierten Aufwandersatz für das Berufungsverfahren in der Höhe von EUR 340 binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 3.896,90 (darin EUR 295,65 USt und EUR 2.123 Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war vom 9. 10. 1972 bis 17. 5. 2004 bei der beklagten Partei als Arbeiter im Bereich der Radiatorenreparatur und -herstellung beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch Entlassung.

Der Kläger begehrte - der Höhe nach außer Streit stehend - den Zuspruch von EUR 43.405,54 brutto sA (für anteilige Sonderzahlungen, Abfertigung, Kündigungsentschädigung sowie Urlaubsersatzleistung unter Abzug eines Eigenverdienstes). Er brachte vor, dass er keinen Entlassungsgrund gesetzt habe, insbesondere nicht eigenmächtig einen Urlaub angetreten, nicht die Herausgabe von Werkzeug verweigert und auch seinen Arbeitsplatz niemals unbefugt verlassen habe. Aus Nachlässigkeit sei es einmal zu Fehlern bei der Arbeit gekommen. Auch am 13. 5. 2004 habe er seinen Arbeitsplatz nicht ohne Grund verlassen, vielmehr habe er an starken Kopfschmerzen gelitten und sich daher ein Schmerzmittel holen wollen. Die Entlassung sei überdies verspätet erfolgt, weil sich der gegenständliche Vorfall am 13. 5. 2004 ereignet habe, das Entlassungsschreiben vom 17. 5. 2004 dem Kläger aber erst am 18. 5. 2004 zugegangen sei.

Die Beklagte bestritt das Klagebegehren dem Grund nach. Der Kläger habe eigenmächtig für 24. und 25. 2. 2004 Urlaubstage eingetragen, ohne eine entsprechende Vereinbarung zu treffen. Auf Grund seiner unerlaubten Abwesenheit sei er verwarnt und von seinem bisherigen Arbeitsplatz (Weißwarenreparatur) zur Tropfenputzmaschine versetzt worden. Anlässlich dieser Versetzung habe er sich geweigert, das für die frühere Tätigkeit vorgesehene Werkzeug seinem Nachfolger auszuhändigen. Am 29. 3. 2004 habe der Kläger während seiner Nachtschicht seinen Arbeitsplatz unbefugt verlassen, dadurch sei bei insgesamt 450 Heizkörpern das notwendige Entfernen von Tropfen sowie das Öffnen von Stopfen unterblieben. Dies habe von anderen Arbeitern nachgeholt werden müssen. Auf Grund dieses Vorfalls sei der Kläger zunächst mündlich unter Androhung der Entlassung und anschließend schriftlich verwarnt worden. In der Nachtschicht vom 12. auf den 13. 5. 2004 habe der Kläger ca. 45 Minuten vor Schichtende seinen Arbeitsplatz und das Betriebsgelände unerlaubt verlassen.

Die Entlassung sei nicht verfristet, weil der Vorfall erst am 17. 5. 2004 dem für Entlassungen zuständigen Vorstandsmitglied zur Kenntnis gelangt sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es traf folgende wesentlichen Feststellungen: Der Kläger verrichtete über mehrere Jahre hindurch Dienst in der „Weißwarenreparatur", wo er eine einwandfreie Arbeitsleistung erbrachte. Diese Tätigkeit erlaubte eine relativ eigenständige Arbeitseinteilung. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger im letzten Jahr vor seiner Entlassung die Arbeit bei der Weißwarenreparatur unzureichend ausgeführt oder aber des öfteren seinen Arbeitsplatz verlassen habe. Im Fall von Zuweisung anderer Arbeiten entfernte sich der Kläger zwar des öfteren von dieser Arbeit und wurde deshalb von einem Vorgesetzten auch zur Rede gestellt, doch können Umstände, Häufigkeit, Dauer und Art dieser Abwesenheiten nicht festgestellt werden.

Wünsche betreffend Kurzurlaube mussten entweder einem Vorarbeiter oder aber dem Schichtmeister bekanntgegeben werden, wobei die letztgenannten Personen miteinander Rücksprache hielten. In Zweifelsfällen entschied der Schichtmeister. Um die Urlaube einzelner Mitarbeiter koordinieren zu können, wurden die genehmigten Urlaube im Kalender sowohl des Vorarbeiters als auch des Schichtmeisters eingetragen. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt trug der Kläger eigenmächtig zwei Urlaubstage für den 24. und 25. 2. 2004 im Kalender des Vorarbeiters ein, ohne mit diesem oder dem Schichtmeister eine Urlaubsvereinbarung getroffen zu haben. Der Kläger erschien an diesen beiden Tagen auch tatsächlich nicht zur Arbeit. Nach seiner Rückkehr wurde er von seinem Vorgesetzten zur Rede gestellt. Dabei verwies er auf eine angebliche Zustimmung, welche aber nicht erteilt worden war. Als Sanktion dafür wurde der Kläger vom Betriebsleiter zur Arbeit an die sogenannte „Tropfputzmaschine" versetzt. Die dort zu verrichtende Arbeit ist insofern unangenehmer, als die Arbeit taktgebunden und überdies im Dreischichtbetrieb auszuführen ist. Auf die Dauer seiner Versetzung angesprochen erteilte der Betriebsleiter dem Kläger keine befriedigende Antwort. Obwohl der Kläger den ihm zur Verfügung gestellten Schweißschirm für die neue Arbeit nicht benötigte, nahm er ihn dennoch an seinen neuen Arbeitsplatz mit. Ein Vorgesetzter wies ihn daraufhin, dass er dieses Werkzeug zurückzugeben habe. Der Kläger war zwar zunächst nicht bereit, weil der Schirm seinen Namen trage, über Vorhalt, dass der Schweißschirm aber im Eigentum der Beklagten stehe, händigte er diesen an seinen Vorgesetzten aus.

Die neue Arbeit des Klägers bestand darin, gestrichene Heizkörper von einer allenfalls noch vorhandenen, abtropfenden Beschichtung zu reinigen und überdies je nach Art des Heizkörpers ein oder zwei Pfropfen an den Heizkörpern zu lockern. Dadurch sollte verhindert werden, dass sich Flüssigkeit im Heizkörperinneren befand, weil dies bei der anschließenden Trocknung im Brennofen zu Beschädigungen der Heizkörper führen kann. Am 29. 3. 2004 war der Kläger zur Nachtschicht eingesetzt, wobei nicht festgestellt werden kann, dass er seinen Arbeitsplatz ohne vorgesehene Ablösung verließ. Der Kläger hätte in der Schicht 300 Heizkörper zu bearbeiten gehabt. Diese Arbeit erbrachte er insofern mangelhaft, als er bei 200 Heizkörpern die Pfropfen nicht ausreichend lockerte und bei ca 150 Heizkörpern die Tropfen nicht entfernte. Diese Arbeiten mussten dann von anderen Beschäftigten in der Nachfolgeabteilung erledigt werden. Unter Bezugnahme auf „in jüngster Zeit vorgekommene Ereignisse (Urlaubseintragung, Verweigerung der Abgabe von Arbeitsmitteln)" und mit der Ankündigung weitreichender Konsequenzen bei einem weiteren Fehlverhalten wurde der Kläger am 30. 3. 2004 schriftlich verwarnt. Nach Einschaltung des Betriebrats kam es zu einem Gespräch zwischen dem Kläger, dem Betriebsratsvorsitzenden und dem Betriebsleiter. Dabei räumte der Kläger ein, möglicherweise einige Heizkörper nicht genug geputzt zu haben, hinsichtlich der nicht ausreichend geöffnete Pfropfen äußerte der Kläger aber die Vermutung, dass eine andere Person die Pfropfen wieder festgedreht haben müsste, ohne dies aber näher zu konkretisieren. Das Gespräch endete mit einer mündlichen Verwarnung des Klägers und der Androhnung der Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Falle eines weiteren Fehlverhaltens. In der Nacht vom 12. 5. auf 13. 5. 2004 hatte der Kläger Nachtschicht. Um 3. 15 Uhr des 13. 5. 2004 konnte der Kläger keine Arbeiten mehr verrichten, weil die Heizkörper-Speicher des Trockenofens bereits voll waren. Ohne jemanden zu verständigen, verließ der Kläger das Betriebsgelände, fuhr zu seiner Wohnung, kehrte aber wieder in die Betriebsstätte zurück, wo er spätestens um 3. 45 Uhr wieder eintraf und vom nächsten Schichtdienst abgelöst wurde. Durch die Abwesenheit des Klägers kam es zu keinem Nachteil oder Schaden für die Beklagte, insbesondere zu keinem Produktionsausfall.

Ein anderer Mitarbeiter der Beklagten hatte den Kläger in der Nähe seines Wohnhauses gesehen und dies den Vorgesetzten des Klägers mitgeteilt. Die Überprüfung einer Videoaufzeichnung ergab den Zeitpunkt, zu dem der Kläger den Betrieb verlassen hatte. Zu Entlassungen sind im Betrieb der Beklagten nur der Betriebsleiter und die Vorstandsmitglieder befugt. Diese befanden sich am 13. 5. und die Tage danach wegen eines Seminars nicht im Betrieb. Ein am 17. 5. 2004 zurückgekehrtes Vorstandsmitglied wurde informiert und veranlasste noch am selben Tag die Entlassung des Klägers.

Das Erstgericht vertrat die Auffassung, dass der Kläger keinen Entlassungsgrund im Sinn des § 82 lit f erster und zweiter Fall GewO 1859 gesetzt habe. Die Entlassung sei daher unberechtigt erfolgt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten statt und wies das Klagebegehren ab. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass die festgestellten Verstöße des Klägers als beharrliche Pflichtenvernachlässigung nach § 82 lit f zweiter Fall GewO 1859 zu beurteilen seien. Die Entlassung sei daher zu Recht erfolgt. Diese sei auch nicht verfristet, zumal bei juristischen Personen wie der Beklagten regelmäßig ein gewisser Zeitraum für die Entscheidungsfindung durch die zuständigen Organe zuzugestehen sei.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision des Klägers ist zulässig und berechtigt.

Der erste Tatbestand des § 82 lit f GewO 1859 (unbefugtes Verlassen der Arbeit) erfasst jedes pflichtwidrige und schuldhafte Nichteinhalten der pflichtgemäßen Arbeitszeit (Kuderna, Entlassungsrecht2 137). Erheblich ist ein solches Versäumnis, wenn es nach der Dauer der versäumten Arbeitszeit, nach Maßgabe der Dringlichkeit der zu verrichtenden Arbeit oder auf Grund des Ausmaßes des infolge des Versäumnisses nicht erzielten Arbeitserfolges oder der sonstigen dadurch eingetretenen betrieblichen Nachteile besondere Bedeutung besitzt. Entscheidend ist daher, dass die Dienstleistung in einer den Umständen nach erheblichen Zeit unterlassen wird. Dabei kommt es nicht auf die absolute Dauer der Arbeitsversäumnis an, sondern auf die Bedeutung der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers gerade während dieser Zeit (RIS-Justiz RS0029495, insbesondere [T22]). Der Entlassungsgrund des unbefugten Verlassens der Arbeit kann auch dann gegeben sein, wenn der Arbeitnehmer sich zwar nur für jeweils kürzere Zeiträume von seiner Arbeitsstelle entfernt, aber daraus auf einen Hang zu diesen Unregelmäßigkeiten zu schließen ist. Die sehr vagen - und keinem konkreten Vorbringen der Beklagten entsprechenden - Feststellungen über länger zurückliegende Vorfälle betreffend Entfernung vom Arbeitsplatz lassen weder Zeitpunkte, noch Dauer und Begleitumstände erkennen. Sie sind daher insoweit von keiner relevanten Bedeutung (9 ObA 2/99f).

Für die Annahme der Erheblichkeit derartige Versäumnisse bedarf es aber immer auch der Voraussetzung, dass der Anlassfall eine gewisse Mindestintensität aufweist, um die Verbindung mit früheren Verstößen herstellen zu können. Eine solche Mindestintensität weist aber der Anlassfall nicht auf: Nach den Feststellungen entfernte sich zwar der Kläger für die Dauer von ca 30 Minuten von seinem Arbeitsplatz, doch hätte er während dieser Zeit keine der ihm aufgetragenen Arbeiten verrichten, sondern nur mehr anwesend sein können. Dass eine ausnahmsweise Heranziehung zu anderen Arbeiten möglich gewesen wäre, ist nicht hervorgekommen. Zu Recht wurde daher das Vorliegen des ersten Tatbestandes des § 82 lit f GewO 1859 verneint. Während dieser Tatbestand das Nichteinhalten der pflichtgemäßen Arbeitszeit sanktioniert (Kuderna aaO mwN), umfasst der zweite Tatbestand des § 82 lit f GewO 1859 (beharrliche Pflichtenvernachlässigung) jegliche sonstige Vernachlässigung der aus dem Arbeitsvertrag geschuldeten Pflichten (Kuderna aaO 138). Die Entlassungstatbestände des § 82 lit f GewO sind im Sinn des § 27 Z 4 AngG, dh entsprechend dem dort genannten ersten oder zweiten Tatbestand auszulegen (Kuderna aaO §§ 137, 138). Zu den letztgenannten Entlassungsgründen hat der Oberste Gerichtshof bereits judiziert, dass diese zueinander im Verhältnis der Spezialität stehen (9 ObA 2/99f). Soweit daher das Berufungsgericht - der Berufung folgend - das zum Anlass der Entlassung genommene Fehlverhalten des Klägers als Ausdruck beharrlicher Pflichtenvernachlässigung sieht, liegt darin ein Abweichen vom vorgenannten Spezialitätsgrundsatz. Dazu kommt, dass dieses Verhalten zum kurzfristigen Verweigern der Rückgabe eines Werkzeugs und der Nachlässigkeit bei der Arbeit während einer einzigen Schicht nicht gleichartig ist (vgl RIS-Justiz RS0060849). Zusammenfassend ergibt sich daher, dass der Kläger - zumindest im Anlassfall - keinen Entlassungsgrund gesetzt hat.

Es erübrigt sich daher, auf den vom Kläger erhobenen Verfristungseinwand einzugehen.

Die Kostenentscheidung gründet sich hinsichtlich des Berufungsverfahrens nach § 58a Abs 1 ASGG, hinsichtlich des Revisionsverfahrens nach § 41 iVm § 50 ZPO.

Stichworte