OGH 10ObS7/06m

OGH10ObS7/06m24.1.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Helmut Brandl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Georg Eberl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Renate N*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Mag. Mathias Kapferer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt des Österreichischen Bergbaues, 8010 Graz, Lessingstraße 20, wegen Pflegegeld, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. November 2005, GZ 25 Rs 78/05i-39, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Die Bestimmungen des BPGG und der EinstV gehen grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes, d. h. von der aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe aus (§ 4 Abs 1 BPGG). Im Rahmen dieser funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegegeldanspruches der Klägerin wurde auch der durch ihre geistige Behinderung bedingte Pflegebedarf berücksichtigt und es wurde vom Erstgericht aufgrund der funktionsbezogenen Einstufung unbestritten ein Pflegebedarf der Klägerin von insgesamt 79 Stunden monatlich (= Pflegegeldstufe 2) ermittelt. Dass der Klägerin aufgrund der funktionsbezogenen Einstufung das von ihr nunmehr begehrte Pflegegeld der Stufe 4 nicht gebührt, wird auch in den Revisionsausführungen nicht in Zweifel gezogen.

Neben der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes sieht § 4a BPGG für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf auch diagnosebezogene Mindesteinstufungen vor. Bei diesen Gruppen handelt es sich um die schwerbehinderten Menschen, die zur selbstständigen Lebensführung auf den aktiven Gebrauch eines Rollstuhls (Abs 1 bis 3) angewiesen sind, die hochgradig Sehbehinderten (Abs 4), die Blinden (Abs 5) und die Taubblinden (Abs 6). Dadurch soll auch bei Personen, die nicht pflegebedürftig im klassischen Sinn sind, an Hand einer medizinisch eindeutigen Diagnose und den damit verbundenen Funktionsausfällen ohne eine konkrete Prüfung des individuellen (funktionsbezogenen) Pflegeaufwands der weitgehend gleichartige Pflegebedarf dieser Personen in Form einer Mindesteinstufung berücksichtigt werden. Als Abgrenzungskriterien werden dabei die Ausfallserscheinungen bei bestimmten Krankheits- und Behinderungsmustern herangezogen und es werden die im Regelfall typischen Pflegemaßnahmen, die grundsätzlich auch bei der funktionellen Beurteilung des Pflegebedarfes relevant sind, dem Mobilitätsbedarf dieser Gruppen entsprechend berücksichtigt. Da es sich bei der funktionsbezogenen Einstufung und der diagnosebezogenen Mindesteinstufung um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten handelt, ist eine Addition der bei der funktionellen Betrachtung ermittelten Stundenwerte mit den der Mindesteinstufung zugrundeliegenden Zeitwerten nicht zulässig. Die Möglichkeit einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung schließt nach § 4a Abs 7 BPGG aber nicht aus, dass ein höheres Pflegegeld zu leisten ist, wenn nach der funktionsbezogenen Einstufung die Voraussetzungen für eine höhere Einstufung vorliegen (vgl EB zur RV 1186 BlgNr 20. GP 12 f; SSV-NF 14/53, 14/55 ua; RIS-Justiz RS0111678, RS0113680).

Wie der Oberste Gerichtshof ebenfalls bereits ausgesprochen hat, kann die vom Gesetzgeber vorgesehene Einstufungsvariante der diagnosebezogenen Mindesteinstufung nicht als unsachlich angesehen werden, weil durch den dafür erforderlichen Zusammenhang zwischen einer bestimmten medizinischen Diagnose und einer bestimmten (körperlichen) Funktionseinschränkung gewährleistet ist, dass die Angehörigen von Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf auch gleich behandelt werden. Die diagnosebezogenen Einstufungen sollen somit aus Gründen der Vereinfachung sowie auch der Gleichbehandlung gleichgelagerter Fälle typisierend die funktionsbezogene Ermittlung des Pflegebedarfs substituieren (SSV-NF 16/43).

Im vorliegenden Fall ist die Klägerin unbestritten aufgrund einer infantilen Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen, weshalb gemäß § 4a Abs 1 BPGG mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen ist. Nach Maßgabe allfälliger zusätzlicher Behinderungen und eines damit verbundenen erhöhten weitgehend gleichartigen Pflegebedarfes gebührt auch eine höhere Pflegegeldstufe. So ist bei Vorliegen einer Stuhl- oder Harninkontinez bzw einer Blasen- oder Mastdarmlähmung mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 4 und bei einem deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 5 anzunehmen (§ 4a Abs 2 und 3 BPGG). Bei der Klägerin liegen diese für eine diagnosebezogene Mindesteinstufung in die Stufe 4 oder 5 genannten Voraussetzungen unstrittig nicht vor. Soweit sie in ihren Revisionsausführungen geltend macht, es müsste bei ihrer diagnosebezogenen Mindesteinstufung zusätzlich zu ihrer Behinderung als „aktive Rollstuhlfahrerin" in analoger Anwendung der Bestimmung des § 4a Abs 2 und 3 BPGG auch ihr durch ihre geistige Behinderung bedingter Pflege- und Betreuungsbedarf berücksichtigt werden, ist im Sinne der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates darauf hinzuweisen, dass ein aufgrund geistiger Behinderung bestehender pflegegeldrelevanter Aufwand bei der in erster Linie maßgeblichen funktionsbezogenen Einstufung zum Tragen kommt und nach dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers eine strikte Trennung zwischen den beiden Einstufungsvarianten zu beachten ist, weshalb auch eine Addition der bei einer funktionellen Beurteilung ermittelten Stundenwerte mit den einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung zugrundeliegenden Zeitwerten ausgeschlossen ist (SSV-NF 16/43 ua). Im Übrigen bestünde für die von der Klägerin gewünschte Analogiebildung nach Ansicht des erkennenden Senates auch keine sachliche Rechtfertigung, da ein aus geistigen Behinderungen resultierender Pflegebedarf nur im jeweiligen Einzelfall und nicht typisierend für eine bestimmte Gruppe von behinderten Menschen (hier:

für Menschen, die aufgrund bestimmter medizinischer Diagnosen zur selbständigen Lebensführung auf den aktiven Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind) beurteilt werden kann. Da sich bereits das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung auf diese in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätze gestützt hat, war die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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