European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2005:E77934
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision der beklagten Parteien wird nicht Folge gegeben.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 732,25 (darin enthalten EUR 122,04 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 1. September 2000 gegen 19.45 Uhr ereignete sich in der Gemeinde Seeham auf der Obertrumer Landesstraße bei Straßenkilometer 13,4 ein Verkehrsunfall, an welchem der Kläger als Radfahrer und der Erstbeklagte als Lenker eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Motorfahrrades beteiligt waren. Der Kläger und Stefan S* fuhren mit ihren Fahrrädern auf dem Geh‑ und Radweg von Seeham kommend Richtung Matzing. Etwa 200 m vor dem späteren Unfallsort trafen sie den Erstbeklagten, der sie mit seinem Motorfahrrad auf der Straße eingeholt hatte. Der Erstbeklagte blieb auf dem Radweg stehen. S* überredete den Erstbeklagten, ihn und den Kläger mit seinem Motorfahrrad zu ziehen. Der Erstbeklagte fuhr daraufhin in Kenntnis dessen, dass sich der Kläger und S* mit ihren Fahrrädern von ihm ziehen ließen und am Gepäckträger seines Motorfahrrades festhielten, mit diesem auf dem Geh‑ und Radweg von Seeham weiter in Richtung Matzing. Er fuhr dabei nicht schnell, sondern „gemütlich". Stefan S* hielt sich auf der linken Seite am Gepäcksträger des Motorfahrrades fest, der Kläger, der keinen Fahrradhelm trug, hielt sich mit einer Hand an der rechten Seite des Gepäckträgers fest; beide ließen sich mit ihren Fahrrädern ziehen. Auf Höhe des Straßenkilometers 13,4 der Obertrumer Landesstraße - der Kläger hielt sich immer noch am Gepäckträger fest - verlor der Kläger die Kontrolle über das Fahrrad und kam zu Sturz. Der Erstbeklagte bemerkte den Unfallshergang nicht, wurde jedoch durch S* auf den Sturz des Klägers aufmerksam gemacht. Im Unfallszeitpunkt betrug die Geschwindigkeit des Motorfahrrades ca 15 bis 20 km/h. Er Kläger erlitt bei diesem Unfall ein Schädelhirntrauma zweiten Grades (Gehirnprellung mit flüchtigen neurologischen Ausfällen), eine Rissquetschwunde am Hinterkopf links sowie diverse oberflächliche Hautabschürfungen an der linken Schulter und am linken Unterarm. Spätkomplikationen durch das erlittene Schädelhirntrauma sind nicht auszuschließen. Hätte der Kläger einen Fahrradhelm getragen, hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit keine der Kopfverletzungen erlitten.
Der Kläger begehrt - unter Anrechnung eines Mitverschuldens von einem Drittel - die Zahlung von EUR 13.197,72 (Schmerzengeld ungekürzt EUR 18.168,21 sowie den Ersatz diverser Sachschäden und unfallkausaler Folgeschäden). Der Erstbeklagte habe als Lenker des Motorfahrrades den Verkehrsunfall verschuldet, weil er dem zum Unfallszeitpunkt 13‑jährigen Kläger sowie Stefan S* ausdrücklich erlaubt habe, sich am Gepäckträger des Motorfahrrades festzuhalten. Der Kläger sei offensichtlich auf Grund einer für diesen Straßenbereich zu hohen Geschwindigkeit zu Sturz gekommen.
Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens mit der wesentlichen Begründung, der Kläger habe sich nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt des Sturzes nicht mehr am Motorfahrrad festgehalten. Das Lenken des Motorfahrrades sei nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall des Klägers gestanden. Der Erstbeklagte sei von Stefan S* überredet worden, diesen mit dem Motorfahrrad zu ziehen. Dem Kläger sei eine diesbezügliche Erlaubnis nicht erteilt worden. Sollte er sich dennoch am Motorfahrrad des Erstbeklagten festgehalten haben, habe er auf eigene Gefahr gehandelt. Da der Kläger knapp 14 Jahre alt gewesen sei, sei er jedenfalls in der Lage gewesen, die Gefahr selbst abzuwägen und eigenverantwortlich das Risiko einzugehen, sich ohne Erlaubnis des Erstbeklagten an dessen Motorfahrrad festzuhalten und sich ziehen zu lassen. Hätte der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalles einen Helm getragen, hätte er die Kopfverletzungen vermeiden können. Den Kläger treffe ein Mitverschulden von 80 %, weil er trotz erkennbarer Gefahrensituation keinen Fahrradhelm getragen habe und selbst ein rechtswidriges Verhalten durch das Anhängen am Motorfahrrad gesetzt habe. Der Kläger sei mit den eigenen rechtlich geschützten Werten sorglos umgegangen.
Das Erstgericht verpflichtete ausgehend von den eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Feststellungen die Beklagten zur Zahlung von EUR 4.846,60 sA und stellte die Haftung der Beklagten für künftige Schäden aus dem Verkehrsunfall in Umfang von 50 % fest, wobei die Haftung der Zweitbeklagten mit der im Haftpflichtversicherungsvertrag genannten Höchstversicherungssumme begrenzt wurde. Das Leistungsbegehren sowie das Feststellungsmehrbegehren wurden abgewiesen.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, sowohl der Kläger als auch der Erstbeklagte hätten den Vorschriften der §§ 68 Abs 3 lit b und 69 Abs 2 erster Satz StVO zuwidergehandelt, wonach es verboten sei, sich mit einem Fahrrad durch Festhalten mit der Hand an ein anderes Fahrzeug anzuhängen, um sich ziehen zu lassen; dieses Verbot gelte sinngemäß auch für Motorfahrräder. Es handle sich dabei um Schutzvorschriften im Sinne des § 1311 ABGB, die nicht nur dem Schutz der übrigen Straßenbenützer, sondern auch der eigenen Sicherheit des Rad‑ bzw Motorfahrradfahrers dienten. Die Beteiligten seien nach § 1304 ABGB entsprechend den von ihnen eingebrachten Schadensfaktoren gleich zu behandeln. Das Nichttragen eines Fahrradhelmes durch den Kläger sei nicht rechtswidrig, da keine Verpflichtung für Radfahrer bestehe, einen Fahrradhelm zu tragen. Das Mitverschulden des Geschädigten an der Herbeiführung seines eigenen Schadens setze jedoch nicht Rechtswidrigkeit seines Verhaltens voraus, sondern eine Sorglosigkeit gegenüber eigenen Gütern. Von einem fast 14‑jährigen könne die Einhaltung der grundlegenden Verkehrsvorschriften gefordert werden. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren und Beachtung der höheren Einsichtsfähigkeit des rund 2 ½ Jahre älteren Erstbeklagten erscheine eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1 angemessen. Unter Berücksichtigung des angemessenen Schmerzengeldes von EUR 9.000,‑- ergebe sich eine (ungekürzte) Forderung von EUR 9.693,14, wovon 50 % dem Kläger zuzusprechen seien.
Das von allen Parteien angerufene Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise, der der Beklagten nicht Folge und verpflichtete die Beklagten zur Zahlung von EUR 7.208,75 sA; es gab dem Feststellungsbegehren im Umfang von zwei Dritteln statt. Die weiteren Mehrbegehren wurden abgewiesen. Das Berufungsgericht sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und erörterte - zusammengefasst - rechtlich, der Kläger habe die Schutznorm des § 68 Abs 3 lit b StVO dadurch verletzt, dass er sich vom Motorfahrrad des Erstbeklagten ziehen ließ. Der Erstbeklagte habe gegen die Schutznorm des § 68 Abs 3 lit d, die gemäß § 69 Abs 2 StVO für das Lenken von Motorfahrrädern sinngemäß anzuwenden sei, dadurch verletzt, dass er zugelassen habe, dass sich der Kläger an dem Gepäcksträger seines Motorfahrrades angehalten habe. Bei Abwägung der Verschuldenskomponenten sei die doch höhere Einsichtsfähigkeit des Erstbeklagten gegenüber dem Unfallszeitpunkt noch nicht 14‑Jahre alten Kläger zu berücksichtigen, weshalb eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Erstbeklagten gerechtfertigt sei.
Eine gesetzliche Vorschrift, die das Tragen eines Radhelmes verpflichte, bestehe nicht. Als verschuldensbegründendes Verhalten komme nach Maßstab des § 1297 ABGB eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten in Frage. Zu prüfen sei, ob der Geschädigte jene Sorgfalt außer Acht gelassen habe, die der maßstabsgerechte Durchschnittsmensch in der konkreten Lage zur Vermeidung eines Schadens anzuwenden pflege. Bei Unterlassung von Schutzmaßnahmen zur eigenen Sicherheit sei der Vorwurf des Mitverschuldens dann begründet, wenn sich bereits ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise darin gebildet habe, dass jeder Einsichtige und Vernünftige solche Schutzmaßnahmen anzuwenden pflege. Karner (in Karner, Ersatz ideellen Schadens bei Körperverletzung, 56) äußere sich dahingehend, dass eine Mitverantwortung des Geschädigten zumindest bei Fahrten auf stark frequentierten Straßen in Betracht kommen müsse. Dem Kläger könne das Nichttragen eines Radhelmes nicht vorgeworfen werden, weil es nicht allgemein üblich sei, beim Befahren von Radwegen mit dem Fahrrad einen Radhelm zu tragen. Daran ändere sich auch nichts, dass sich im konkreten Fall der Kläger am Motorfahrrad des Erstbeklagten angehängt habe, weil die Fahrgeschwindigkeit lediglich 15 bis 20 km/h betragen habe.
Die Berufung des Klägers sei aber insofern berechtigt, weil ein Schmerzengeld von EUR 10.000,‑- angemessen erscheine.
Das Berufungsgericht sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, änderte diesen Ausspruch aber über Antrag gemäß § 508 ZPO dahin ab, im Sinne einer Zulassung der ordentlichen Revision ab. In der Begründung seines Zulassungsausspruches führte es aus, Fragen der Verschuldensteilung seien zwar grundsätzlich nicht revisibel, doch habe sich der Oberste Gerichtshof bei der Frage, inwieweit das Nichttragen eines Radhelmes durch einen unmündigen Radfahrer diesem als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten anzulasten sei, noch nicht auseinandergesetzt. Im Übrigen liege auch eine höchstgerichtliche Entscheidung zur Frage des Verhältnisses eines Verstoßes gegen § 68 Abs 3 lit b StVO durch einen unmündigen Radfahrer zu einem Verstoß gegen § 68 Abs 3 lit d iVm § 69 Abs 2 StVO durch einen mündigen mj Motorradfahrer nicht vor.
In der Revision der Beklagten wird ‑ zusammengefasst - geltend gemacht, den Kläger treffe das überwiegende Verschulden, weil er sich bewusst der Gefahr, die durch das Anhängen an das Motorfahrrad ausgeht, ausgesetzt und überdies keinen Sturzhelm getragen habe. Letztlich wird auch die Ausmessung des Schmerzengeldes bekämpft.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung darüber, ob das Nichttragen eines Fahrradhelmes als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten zu werten ist, nicht besteht. Sie ist aber nicht berechtigt.
Die Vorinstanzen haben dem Erstbeklagten zutreffend eine Schutzgesetzverletzung angelastet, sein Fehlverhalten ist allerdings unter § 68 Abs 3 lit b iVm lit d zu subsumieren; beide für Radfahrer angeordnete Vorschriften sind gemäß § 68 Abs 2 sinngemäß auch auf die Lenker von Motorfahrrädern anzuwenden.
Nach § 68 Abs 3 lit b StVO ist es verboten, sich mit einem Fahrrad an ein anderes Fahrzeug anzuhängen, um sich ziehen zu lassen. Lit d dieser Gesetzesstelle verbietet, beim Radfahren andere Fahrzeuge oder Kleinfahrzeuge mitzuführen. Der Kläger, dem die Gefahr des Gezogenwerdens von einem anderen Fahrzeug bewusst war, hat demnach gegen die Bestimmung des § 68 Abs 3 lit b StVO verstoßen. Ist es aber Radfahrern (Lenkern von Motorfahrrädern) verboten, sich an ein anderes Fahrzeug anzuhängen, um sich ziehen zu lassen und dürfen sie beim Fahren andere Fahrzeuge oder Kleinfahrzeuge nicht mitführen, dann ist es nach diesen Vorschriften einem Fahrzeuglenker auch verboten, Radfahrer und Lenker von Motorfahrrädern an ihrem Fahrzeug anhängen zu lassen, um diese zu ziehen. Damit trifft beide Lenker auch ein Verschulden. Die in § 68 StVO angeführter Verpflichtungen dienen nach ständiger Rechtsprechung nicht nur dem Schutz der übrigen Straßenbenützer, sondern auch dem Interesse der Sicherheit der Radfahrer (RIS‑Justiz RS0027587).
Ebenfalls zutreffend haben die Vorinstanzen bereits darauf verwiesen, dass eine gesetzliche Verpflichtung zum Tragen eines Fahrradhelmes, trotz des unbestrittenen Nutzens solcher Helme nicht besteht (vgl dazu Furian/Gruber, Der Radhelm - eine wirksame Maßnahme gegen Kopfverletzungen bei Radunfällen, ZVR 1997, 173; Karner, Der Ersatz ideeller Schäden bei Körperverletzung, 56; Danzl, Das Schmerzengeld8 73 FN 74).
Dem Kläger wäre daher nur dann eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten vorzuwerfen, wenn er Schutzmaßnahmen unterlassen hätte, die nach dem allgemeinen Bewusstsein der beteiligten Kreise von jedem Einsichtigen und Vernünftigen anzuwenden gewesen wären (RIS‑Justiz RS0026828). Dass sich bereits ein allgemeines Bewusstsein gebildet habe, auf Radwegen Fahrradhelme zu tragen, ist nicht hervorgekommen (siehe die von Furian/Gruber aaO ermittelte geringe Helmtragequote in Österreich). Die Nichtbenützung des Fahrradhelmes kann daher dem Kläger nicht als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten vorgeworfen werden.
Gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldensteilung bzw Schmerzengeldbemessung bestehen keine Bedenken.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)