OGH 2Ob99/05f

OGH2Ob99/05f23.5.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Dr. Baumann, Hon. Prof. Dr. Danzl und Dr. Veith als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Nicole M*****, vertreten durch Peter M*****, ebendort, dieser vertreten durch Rechtsanwaltspartner Pennersdorfer, Hafner, Schobl, Fischer & Simoncic in St. Pölten, gegen die beklagten Parteien 1. Ing. Harald H*****, 2. W***** AG, *****, beide vertreten durch Dr. Günther und Dr. Thomas Romauch, Rechtsanwälte in Wien, wegen EUR 20.000 und Feststellung (Streitwert EUR 2.000), über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 30. November 2004, GZ 14 R 234/04s-11, womit das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten vom 7. Juli 2004, GZ 1 Cg 100/04s-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der 20-jährige Bruder der am 13. 12. 1986 geborenen Klägerin wurde am 7. 4. 2003 bei einem vom Erstbeklagten, dessen PKW zum Unfallszeitpunkt bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert war, verursachten und verschuldeten Verkehrsunfall getötet.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Zahlung von EUR 20.000 sA sowie die Feststellung deren Haftung und brachte dazu im Wesentlichen vor:

Der Erstbeklagte habe das Fahrzeug in alkoholisiertem Zustand (0,3 mg/l) Atemalkoholgehalt, mit überhöhter Geschwindigkeit gelenkt und sei dadurch mit dem rechten Räderpaar auf das Bankett und danach ins Schleudern geraten. Der PKW sei quer über die Fahrbahn auf den Fahrstreifen des Gegenverkehrs gerutscht und mit der Front des entgegenkommenden PKWs des Bruders der Klägerin zusammengestoßen. Der Erstbeklagte habe dadurch grob fahrlässig den Tod des Bruders der Klägerin herbeigeführt. Die Klägerin habe aufgrund der Todesnachricht einen schweren Schockschaden, der Krankheitswert erreiche, erlitten; sie sei mit ihrem verstorbenen Bruder eng verbunden gewesen, weshalb sie Anspruch auf Schmerzengeld von EUR 20.000 habe. Das Feststellungsbegehren sei berechtigt, weil Spätfolgen nicht ausgeschlossen werden könnten. Der Schmerzengeldanspruch bestehe auch dann, wenn sich herausstellen sollte, dass die seelischen Schmerzen keinen Krankheitswert erreichten, weil der Unfall vom Erstbeklagten grob fahrlässig herbeigeführt worden sei.

Die Beklagten wendeten ein, die Klägerin als Schwester des Verstorbenen sei nicht als begünstigte Angehörige anzusehen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ohne Durchführung eines Beweisverfahrens ab. Es führte aus, nach neuerer Rechtsprechung gebühre auch nahen Angehörigen eines Getöteten für den ihnen verursachten Schockschaden mit Krankheitswert ein Schmerzengeld, da sie als in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit als unmittelbar Geschädigte anzusehen seien. Der Angehörigenbegriff umfasse nur Personen, bei denen in der Rechtsordnung eine typische Verbindung mit der verstorbenen Person in einer Weise verankert sei, dass der Schockschaden als typische Folge der Verletzungshandlung gesehen werden könne. Geschwister des Verunfallten seien im Kreis der nahen Angehörigen - der eng zu sehen sei, um der Gefahr des Ausuferns von Ansprüchen zu begegnen - nicht erfasst. Die klagende Partei zähle daher nicht zum eng zu sehenden Kreis der nahen Angehörigen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Es gab die Lehre (Karner, Psychische Beeinträchtigungen, Schockschäden und Angehörigenschmerzengeld in der aktuellen Judikatur, Richterwoche 2002, 335; Danzl Schmerzgengeldansprüche für Angehörige der Opfer des Unglücks von Kaprun?, ZVR 2000, 402) und auch die Schweizerische Lehre zu Art 47 OR (Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 8 Rz 87; Berner Kommentar, Band VI, Rz 31 zu Art 47) wieder und betonte den Umstand, dass ein allzu großes Ausufern der Ersatzansprüche vermieden werden sollte, weshalb dies für eine besonders restriktive Definition des Angehörigenkreises, aus dem man die Geschwister schlechthin herausnehmen könne, spreche. Die Heranziehung der Lehre und Judikatur zum Schweizerischen Art 47 OR verbiete sich wegen der unterschiedlichen Rechtslage. Die erstmalige Anerkennung eines „Schockschadens für Geschwister" sei eine Angelegenheit der Rechtsfortbildung, die dem Gesetzgeber vorbehalten bleibe; in der Ablehnung des bloß durch das Anhören der Todesnachricht verursachten Schockschadens von Geschwistern sei kein Rechtsirrtum zu erblicken.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Entscheidung von einer Rechtsfrage des materiellen Rechts abhänge, der zur Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukomme und zu der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehle.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Maßgebliches Kriterium für die Erfassung der Schadenersatzansprüche von „Angehörigen" für Schockschäden ist, dass die Verletzungshandlung gegenüber dem „Angehörigen" typischerweise in hohem Maß geeignet erscheint, einen Schockschaden herbeizuführen. Der Angehörigenbegriff muss solche Personen erfassen, bei denen in der Rechtsordnung eine typische Verbindung mit der verstorbenen Person in einer Weise verankert ist, dass auch dem schädigenden Dritten gegenüber der Schockschaden als typische Folge seiner Verletzungshandlung gesehen werden kann (RIS-Justiz RS0116866).

Der erkennende Senat hat sich jüngst in seiner Entscheidung 2 Ob 90/05g mit der Frage, ob und inwieweit auch Geschwister zum Kreis der nahen Angehörigen zählten, die bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen Anspruch auf ein „Trauerschmerzengeld" hätten, ausführlich beschäftigt und die dazu vorliegende in- und ausländische Lehre und Judikatur wiedergegeben. Auf diese Entscheidung kann verwiesen werden. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass für die Zuerkennung von Trauerschmerzengeld die intensive Gefühlsgemeinschaft maßgeblich ist, wie sie zwischen den nächsten Angehörigen typischerweise besteht. Auch zwischen Geschwistern, die im gemeinsamen Haushalt leben, besteht typischerweise eine solche Gemeinschaft. Gegenteiliges hätte der Schädiger zu beweisen. Ohne Haushaltsgemeinschaft - etwa im Falle von erwachsenen Geschwistern, die an verschiedenen Ort mit ihren eigenen Familien leben und nur mehr bei gelegentlichen Familienfeiern zusammentreffen - reicht das familiäre Naheverhältnis zwischen Geschwistern für sich allein nicht aus, um einen Anspruch auf Trauerschmerzengeld zu begründen. Vielmehr wäre dann vom Geschädigten das Bestehen einer intensiven Gefühlsgemeinschaft, die jener innerhalb der Kernfamilie annähernd entspreche, zu beweisen.

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin einerseits behauptet, durch die Todesnachricht einen Krankheitswert erreichenden „Schockschaden" (vgl dazu Danzl/Gutiérrez-Lobos/Müller, Schmerzengeld8 [2003], 130 ff) erlitten zu haben, andererseits für den Fall, dass ihre seelischen Schmerzen keinen Krankheitswert erreichten, Anspruch auf „Trauerschmerzengeld" zu haben, weil der Unfall vom Erstbeklagten grob fahrlässig verschuldet worden sei (vgl dazu ZVR 2001/73). Auch das Bestehen einer engen Gefühlsgemeinschaft zwischen dem Getöteten und ihr wurde behauptet.

Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht den Sachverhalt mit den Parteien im aufgezeigten Sinn zu erörtern haben. Sollte sich herausstellen, dass die Klägerin tatsächlich einen Krankheitswert erreichenden „Schockschaden" erlitten hat, ist bereits eine intensive Gefühlsgemeinschaft, wie sie zwischen nächsten Angehörigen typischerweise besteht, jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Geschwister vor dem Unfall im gemeinsamen Haushalt lebten oder die gemeinsame Haushaltszugehörigkeit erst so kurze Zeit vor dem Unfall beendet wurde, dass eine Änderung in den Gefühlsbeziehungen seither noch nicht eingetreten sein konnte. In beiden Fällen wäre die Annahme einer intensiven Gefühlsgemeinschaft selbst dann nicht widerlegbar, wenn die Nahebeziehung zwischen der Klägerin und dem Unfallsopfer vor dem Unfall gerade gestört gewesen sein sollte (2 Ob 79/00g = SZ 74/24 = ZVR 2001/52 [Karner]; 2 Ob 141/04f = JBl 2004, 792 = ZVR 2004/86). Bestand jedoch schon längere Zeit keine Haushaltsgemeinschaft (mehr), obläge der Klägerin auch der Nachweis, dass zwischen ihr und dem Verstorbenen eine intensive Gefühlsgemeinschaft, die jener innerhalb der Kernfamilie annähernd entsprach, gegeben war. Es werden daher Feststellungen darüber zu treffen sein, ob der Getötete mit der Klägerin noch in gemeinsamer Hausgemeinschaft gelebt hat.

Sollten die seelischen Schmerzen allerdings Krankheitswert nicht erreicht haben, werden nach den in der Entscheidung 2 Ob 90/05g dargelegten Beweislastregeln Feststellungen über die Gefühlsbeziehungen zwischen dem Verstorbenen und der Klägerin und auch über den Unfallshergang zu treffen sein, um beurteilen zu können, ob der Unfall vom Erstbeklagten grob fahrlässig verschuldet wurde.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Stichworte