OGH 15Os16/05z (15Os17/05x)

OGH15Os16/05z (15Os17/05x)3.3.2005

Der Oberste Gerichtshof hat am 3. März 2005 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker, Dr. Zehetner, Dr. Danek und Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kain als Schriftführerin, in den Strafsachen gegen Kristijan B***** wegen des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 1 Z l StGB, AZ 9 Hv 158/02 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz, sowie wegen der Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall, Abs 3 erster Fall SMG, AZ 8 Hv 108/04b des Landesgerichtes für Strafsachen Graz, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 23. September 2002, GZ 9 Hv 158/02k-4, und vom 7. Juli 2004, GZ 8 Hv 108/04b-49, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Aicher, jedoch in Abwesenheit des Verteidigers und des Verurteilten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Es verletzen

1./ der - ohne Einsichtnahme in den Vorakt zustandegekommene - Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 23. September 2002, GZ 9 Hv 158/02k-4, womit vom Widerruf der zu GZ 2 U 603/98m-13 des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz beschlossenen bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert wurde, § 494a Abs 3 StPO, §§ 56 und 53 Abs 3 StGB sowie den aus dem XX. Hauptstück der StPO abzuleitenden Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen;

2./ der Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 7. Juli 2004, GZ 8 Hv 108/04b-49, soweit damit die in den Verfahren AZ 2 U 603/98m und 6 U 65/00d des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz beschlossenen bedingten Strafnachsichten widerrufen wurden, § 53 Abs 1 StGB sowie hinsichtlich des zweitgenannten Verfahrens den aus dem XX. Hauptstück der StPO abzuleitenden Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen.

Die bezeichneten Beschlüsse und Beschlussteile werden aufgehoben und der jenen zu 2./ zu Grunde liegende Antrag der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Das Bezirksgericht für Strafsachen Graz verhängte über Kristijan B***ogdan mit Urteil vom 19. Februar 1999, GZ 2 U 603/98m-13, rechtskräftig seit 23. Februar 1999, wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB und der versuchten Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB eine für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehene Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 90 S, welche mit Beschluss dieses Gerichts vom 19. September 2002 (S 91) gemäß § 43 Abs 2 StGB endgültig nachgesehen wurde. Ob und wann dieser Beschluss dem öffentlichen Ankläger zugestellt wurde und in Rechtskraft erwuchs, geht aus den Akten nicht hervor. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 23. September 2002, GZ 9 Hv 158/02k-4, wurde Kristijan B***** des (innerhalb der vorgenannten Probezeit begangenen) Vergehens des schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 1 Z l StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Gleichzeitig erging - ohne vorherige Einsichtnahme in den bezüglichen Akt und ungeachtet dessen, dass die Probezeit bereits am 23. Februar 2002 abgelaufen, das neue Verfahren aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht anhängig war (S 1 verso) - der in Rechtskraft erwachsene Beschluss, dass vom Widerruf der im Verfahren AZ 2 U 603/98m des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert werde (S 89).

In Hinblick auf diese Verurteilung wurde in dem hiezu im Verhältnis des § 31 StGB stehenden Verfahren AZ 6 U 65/00d des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz die mit Urteil vom l. Oktober 2002 über Kristijan B***** wegen § 27 Abs 1 erster, zweiter und dritter Fall SMG verhängte - für eine Probezeit von drei Jahren bedingte nachgesehene - Freiheitsstrafe mit Beschluss vom 24. September 2003, GZ 6 U 65/00d-25, gemäß § 31a Abs 1 StGB dadurch (rechtskräftig) nachträglich gemildert, dass gemäß § 40 StGB von der Verhängung einer Zusatzstrafe abgesehen wurde.

Wegen der im Zeitraum von 1998 bis Herbst 2003 begangenen Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall, Abs 3 erster Fall SMG und der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG wurde der Genannte mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 7. Juli 2004, GZ 8 Hv 108/04b-49, zu einer 30-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Zugleich fasste das Gericht den ebenso rechtskräftigen Beschluss, dass gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO (unter anderem) die in den erwähnten Verfahren AZ 2 U 603/98 und 6 U 65/00d des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz gewährten bedingten Strafnachsichten widerrufen werden. Die Entscheidung erging, obwohl die oben beschriebene endgültige Strafnachsicht sowie die Eliminierung des Strafausspruches durch nachträgliche Strafmilderung für das Gericht aus den - in der Hauptverhandlung verlesenen (S 18/II) - Akten ersichtlich gewesen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde nach § 33 StPO im Ergebnis zutreffend aufzeigt, stehen 1./ der Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 23. September 2002, GZ 9 Hv 158/02k-4 einschließlich des Vorgangs unterbliebener Einsichtnahme in die Bezugsakten, wie auch 2./ Teile des Widerrufsbeschlusses vom 7. Juli 2004, GZ 8 Hv 108/04b-49, mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Gemäß § 494a Abs 3 StPO ist eine der Voraussetzungen für jede Entscheidung nach § 494a Abs 1 StPO, dass das Gericht zuvor Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung nimmt. Hievon kann nur dann abgesehen werden, wenn im Einzelfall eine statt dessen vorzunehmende Einsicht in eine Abschrift des früheren Urteils eine ausreichende Entscheidungsgrundlage darstellt. Dem Einzelrichter im Verfahren AZ 9 Hv 158/02k blieb die zu AZ 2 U 603/98m des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz inzwischen ausgesprochene endgültige Strafnachsicht deshalb verborgen, weil er es unterließ, vor Beschlussfassung in den Akt über die frühere Verurteilung Einsicht zu nehmen, obwohl im Hinblick auf den bereits sieben Monate zurückliegenden Ablauf der Probezeit die durchaus naheliegende Möglichkeit einer zwischenzeitig beschlossenen endgültigen Strafnachsicht bestand.

Begriffliche Voraussetzung für den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht nach § 53 Abs 1 StGB sowie die Verlängerung einer Probezeit nach § 53 Abs 3 StGB ist, dass diese bedingte Strafnachsicht noch aufrecht und die Strafe nicht bereits nach § 43 Abs 2 StGB endgültig nachgesehen oder der Gegenstand der Entscheidung nach § 53 StGB auf sonstige Weise (hier: im Wege des § 31 a Abs 1 StGB) beseitigt worden ist.

Weiters kann das Gericht gemäß § 56 StGB die in § 53 StGB vorgesehenen Verfügungen nur in der Probezeit, wegen einer während dieser Zeit begangenen strafbaren Handlung jedoch auch innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Probezeit oder nach Beendigung eines bei deren Ablauf gegen den Rechtsbrecher anhängigen Strafverfahrens treffen. Die Verlängerung der Probezeit erst sieben Monate nach Ablauf derselben, ohne dass ein neues Verfahren zum Zeitpunkt dieses Ablaufs bereits anhängig gewesen wäre, ist demnach unzulässig (vgl 15 Os 36/04, 11 Os 40/04).

Die - zwar zum Zeitpunkt der ersten Beschlussfassung jedenfalls nicht rechtskräftige - Entscheidung über die endgültige Strafnachsicht entfaltete zudem seit der Übergabe an die Gerichtskanzlei eine Bindungs-(Sperr)Wirkung (Jerabek in WK2 § 43 Rz 27 und WK-StPO § 494a Rz 13). Daher durfte weder das erkennende noch ein anderes Gericht ohne vorangegangene prozessordnungsgemäße Kassation dieses Beschlusses über dessen Entscheidungsgegenstand neuerlich absprechen. Das Landesgericht für Strafsachen Graz hat daher mit seinem zu 1./ genannten Beschluss nicht nur gegen § 494 Abs 3 StPO und in materiellrechtlicher Hinsicht gegen §§ 56 und 53 Abs 3 StGB, mit seinem zu 2./ bezeichneten Beschluss wiederum gegen § 53 Abs 1 StGB verstoßen, sondern (im letztgenannten Beschluss im Umfang des zu AZ 2 U 603/98 des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz ausgesprochenen Widerrufs; in Relation zur Entscheidung nach § 31a Abs 1 StPO liegt hingegen nicht derselbe Entscheidungsgegenstand vor) auch eine ihm nicht zustehende Entscheidungskompetenz in Anspruch genommen. Die Beschlüsse konnten die vom Bezirksgericht für Strafsachen Graz bereits ausgesprochene endgültige Strafnachsicht aus dem Rechtsbestand nicht beseitigen oder sonst für den Verurteilten Rechtsfolgen nach sich ziehen, sodass sowohl die Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre, als auch der ausgesprochene Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu AZ 2 U 603/98 des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz wirkungslos geblieben sind, aber aus Gründen der Rechtssicherheit zu beseitigen waren. Der den Angeklagten benachteiligende Widerruf der - infolge nachträglicher Milderung - nicht mehr dem Rechtsbestand angehörigen bedingten Strafnachsicht zu AZ 6 U 65/00d des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz war ebenfalls zu eliminieren. Der der Entscheidung zu 2./ zu Grunde liegende Antrag war zurückzuweisen.

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