OGH 10ObS151/04k

OGH10ObS151/04k25.1.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Carl Hennrich (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Rudolf Schallhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Bekir E*****, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, Wienerbergstraße 15-19, 1103 Wien, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Gewährung von Anstaltspflege, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Mai 2004, GZ 8 Rs 193/03s-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 15. Mai 2003, GZ 3 Cgs 214/02k-11, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 25. 12. 1957 geborene Kläger Bekir E***** ist türkischer Staatsangehöriger und seit mehr als 10 Jahren Arbeitnehmer in Österreich. Sein am 5. 4. 1986 geborener Sohn Dede E***** hält sich seit August 2000 in Österreich auf. Am 28. 12. 2000 beantragte der Kläger die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis für seinen Sohn, der am 15. 3. 2001 an der Universitätsklinik für Neurochirurgie des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien stationär zur Behandlung aufgenommen werden sollte. Das Bundesministerium für Inneres erteilte Dede E***** die humanitäre Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von sechs Monaten. Das diesbezügliche Verständigungsschreiben vom 21. 3. 2001 enthält folgende Passagen:

"... Ich darf Sie jedoch darauf hinweisen, dass Ihrem Sohn Dede E***** dieser Aufenthaltstitel lediglich für die Dauer der im Bundesgebiet notwendigen Behandlung erteilt wurde und Ihr Sohn spätestens nach Ablauf der humanitären Aufenthaltserlaubnis aus dem österreichischen Bundesgebiet wieder ausreisen muss, sofern keine dringende Behandlung aus medizinischer Sicht mehr notwendig erscheint."

Dede E***** befand sich in der Zeit vom 3. 4. bis 30. 4. 2001 im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien in stationärer Behandlung. Am 17. 4. 2001 wurde eine Dekompressionsoperation durchgeführt. Am 16. 5. 2002 folgte eine Korrekturoperation der vorbestehenden Skoliose. Dede E***** hatte die Genehmigung der Operation und des damit verbundenen stationären Aufenthaltes beim zuständigen türkischen Krankenversicherungsträger nicht beantragt. Eine solche Genehmigung lag daher auch nicht vor.

Die Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hatte eine Gültigkeitsdauer vom 28. 3. 2001 bis 28. 9. 2001. In weiterer Folge erhielt Dede E***** eine Erstniederlassungsbewilligung vom 22. 1. 2002 bis 22. 1. 2003 und danach einen Befreiungsschein mit der Gültigkeit bis 30. 1. 2008.

Dede E***** leidet an einer massiven Verkrümmung der Wirbelsäule, in den letzten Jahren auch gelegentlich unter Atembeschwerden und Schmerzen im Brustkorb sowie Stauungen der Extremitäten links. Diese Erkrankung besteht seit seiner Kindheit. Veränderungen könnten im Lauf der Zeit zunehmen. Schmerzen können ebenso auftreten wie Behinderungen der Herz- und/oder Lungenfunktion. Diese Beschwerden treten in aller Regel langsam auf und nicht akut, sie sind eine Indikation für eine chirurgische Behandlung, die aber nicht im Sinn einer Akutoperation durchzuführen ist.

Die Operation am 17. 4. 2001 wurde vorbereitend für die spätere Wirbelsäulenoperation durchgeführt und nicht aufgrund akut auftretender Krankheitssymptome. Dede E***** war bereits im Jahr 2000 an der Neurochirurgischen Universitätsklinik vorgestellt worden. Die Operation wurde geplant, damit sich sein Zustand ungeachtet der geplanten Aufrichtung der Brustwirbelsäule nicht verschlechtere. Die Operation am 17. 4. 2001 und der dieser dienende stationäre Aufenthalt vom 3. 4. 2001 bis 30. 4. 2001 diente der prophylaktischen Korrektur der Entwicklungsstörung und des Wasserkopfs, um in weiterer Folge ohne Gefahr für das Gehirn die Aufrichtungsoperation an der Wirbelsäule vornehmen zu können. Der Zeitpunkt der Durchführung dieser Operation lag im Ermessen der behandelnden Ärzte und ergab sich (nicht?) aus den Beschwerden des Patienten.

Mit Bescheid vom 26. 11. 2002 lehnte die beklagte Wiener Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Gewährung von Anstaltspflege für seinen Sohn im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien in der Zeit vom 3. 4. bis 30. 4. 2001 unter Berufung auf Artikel 11 Abs 1 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit ab. Dede E***** sei eigens zur Durchführung der Behandlung im Allgemeinen Krankenhaus nach Österreich eingereist. Es handle sich nicht um eine während eines vorübergehenden Aufenthalts im anderen Staat sofort notwendige Leistung. Der Eingriff hätte auch in der Türkei in einem geeigneten Zentrum durchgeführt werden können.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Ein Leistungsanspruch zugunsten des Dede E***** als Angehöriger (§ 123 ASVG) scheitere am Fehlen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. Werde nur ausnahmsweise wegen einer beabsichtigten Krankenbehandlung für die Dauer derselben ein Aufenthalt genommen, liege kein gewöhnlicher Aufenthalt vor. An dieser Beurteilung ändere der Umstand nichts, dass sich Dede E***** nach Ablauf der nur zum Zwecke der Operation erteilten humanitären Aufenthaltserlaubnis weiter in Österreich aufgehalten habe. Auch aus dem Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 28. 10. 1999, BGBl III Nr 219/2000, sei der geltend gemachte Anspruch mangels Erfüllung einer der in Art 11 dieses Abkommens genannten Voraussetzungen nicht ableitbar. Dede E***** habe weder zur Zeit seines stationären Aufenthalts im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien in Österreich gewohnt, noch habe sein Zustand während des Aufenthalts in Österreich unverzügliche Leistungen (im Sinne einer Akutoperation) erfordert. Selbst wenn aber die Operation als unverzügliche Leistung anzusehen wäre, bestünde kein Anspruch auf Sachleistung, weil sich der Dede E***** zum Zweck der Inanspruchnahme der ärztlichen Betreuung nach Österreich begeben habe. Schließlich habe er auch keine Genehmigung des zuständigen türkischen Sozialversicherungsträgers erhalten, sich zum Zweck einer durchzuführenden ärztlichen Behandlung in das Gebiet der Republik Österreich zu begeben. Es treffe wohl zu, dass der in Art 3 Abs 1 des Beschlusses ARB Nr 3/80 verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit unmittelbare Wirkung entfalte, doch behandle die Genehmigungspflicht in Art 11 des Abkommens österreichische und türkische Staatsbürger gleich. Sie beruhe auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien, die im Vorhinein bekannt seien. Der Kläger habe nicht vorgebracht, dass eine gleichwertige Behandlung der Leiden seines Sohnes in der Türkei nicht möglich gewesen wäre. Lediglich im Falle einer ungerechtfertigten Verweigerung der Genehmigung der Durchführung der Operation und der damit verbundenen Krankenbehandlung in Österreich durch den türkischen Sozialversicherungsträger hätte die vom Kläger behauptete Gemeinschaftsrechtswidrigkeit vorliegen können.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Ersturteil auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es verneinte eine primäre Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, übernahm des erstinstanzlichen Feststellungen als Ergebnis einer zutreffenden Beweiswürdigung und führte in rechtlicher Hinsicht zusammengefasst Folgendes aus:

Der Kläger sei bei der beklagten Partei krankenversichert. Nach §§ 122 Abs 1 und 123 Abs 1 ASVG habe der Versicherte Anspruch auf die Leistungen der Krankenversicherung für sich und seine Angehörigen, zu denen unter anderem die Kinder zählten. Als Voraussetzung des Anspruchs eines Versicherten für Angehörige nenne § 123 Abs 1 ASVG deren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (Z 1) sowie den Umstand, dass sie weder nach dem ASVG noch nach einer anderen gesetzlichen Vorschrift krankenversichert seien (Z 2).

Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in § 123 Abs 1 Z 1 ASVG sei iSd Definition des § 66 Abs 2 JN zu verstehen. Für die Qualifikation des Aufenthalts als "gewöhnlich" seien demnach seine Dauer und Beständigkeit sowie andere Umstände persönlicher oder beruflicher Art zu berücksichtigen, die dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen. Auf ein besonderes voluntatives Element ("Verbleibeabsicht") komme es ebenso wenig an, wie auf rechtliche Aspekte, etwa die Erlaubtheit des Aufenthalts (insbesondere nach fremdenpolizeilichen Vorschriften), oder die Motivation für den Aufenthalt. Demgemäß bestimme sich der gewöhnliche Aufenthalt ausschließlich nach tatsächlichen Umständen. Entscheidend sei, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehung mache. Die Dauer des Aufenthalts sei für sich allein zwar noch kein ausschlaggebendes Moment, doch sei im Allgemeinen nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten anzunehmen, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliege. Insbesondere bei Minderjährigen dürfe das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt einen längeren Zeitraum gedauert habe und der Minderjährige sozial integriert sei.

Nach den Feststellungen halte sich Dede E***** seit August 2000 bei seinem Vater in Österreich auf. Im Zeitpunkt der in Rede stehenden Anstaltspflege habe die Dauer seines Aufenthalts somit bereits mehr als sieben Monate gedauert. Aus welchen Motiven (Einreise zum Zwecke der Inanspruchnahme der Krankenbehandlungen?) sich Dede E***** während dieser Zeit in Österreich befunden habe, sei ebenso wenig relevant wie die Erlaubtheit seines Aufenthalts und die Begründung, mit welcher ihm die humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 10 Abs 4 FrG erteilt worden sei. Die Tatsache, dass diese Aufenthaltserlaubnis mit sechs Monaten (ab 28. 3. 2001) befristet gewesen sei, bedeute (wie die nachfolgende Entwicklung dokumentiere) nicht schon von vornherein, dass der Aufenthalt mit ihrem Zeitablauf beendet sein würde.

Im Übrigen indiziere der von der beklagten Partei mangels substanziierten Bestreitens des Klagsvorbringens als zugestanden (§ 267 ZPO) anzusehende regelmäßige Schulbesuch nicht nur eine dauerhafte Beziehung zwischen der Person und dem Ort ihres Aufenthaltes, sondern auch ihre soziale Integration. Damit würden zur bloßen Aufenthaltsdauer noch weitere, für das Vorliegen des gewöhnlichen Aufenthalts charakteristische Aspekte hinzutreten, sodass ein solcher zugunsten des Dede E***** in Österreich bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Anstaltspflege begründet gewesen sei. Da Dede E***** in Österreich auch nicht anderweitig krankenversichert gewesen sei, komme ihm als Angehöriger seines versicherten Vaters schon nach § 123 ASVG Versicherungsschutz zu. Auf die im Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit, BGBl III Nr 219/2000, in Art 11 normierten Voraussetzungen, auf deren Nichteinhaltung sich die beklagte Partei berufen habe, komme es bei dieser Sachlage nicht an. Ebenso wenig sei auf die im Mittelpunkt der Berufung stehenden europarechtlichen Erwägungen einzugehen, weil sich die darin aufgeworfene Gleichbehandlungsfrage hier gar nicht stelle.

Die Sozialrechtssache sei allerdings noch nicht spruchreif. Nach herrschender Auffassung bestehe kein durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Gewährung von Sachleistungen in der Krankenversicherung. Dennoch sei hier das Klagebegehren auf Gewährung von Anstaltspflege für einen Zeitraum gerichtet, der bei Einbringung der Klage schon verstrichen gewesen sei. Gemäß § 117 Z 2 ASVG umfassten die Leistungen der Krankenversicherung neben der Krankenpflege und der medizinischen Hauskrankenpflege auch die Anstaltspflege. Die von der Krankenanstalt zu erbringenden Teilleistungen der Anstaltspflege seien die Kosten der Unterkunft, der ärztlichen Untersuchung und Behandlung, der Beistellung von allen erforderlichen Heilmitteln, Arzneien usw, sowie der Pflege und der Verköstigung. Der Erkrankte sei, wenn Anstaltspflege gemäß § 144 ASVG gewährt werde, in eine landesfondsfinanzierte Krankenanstalt einzuweisen (§ 145 Abs 1 ASVG). Sofern nicht Gefahr im Verzug sei (§ 145 Abs 2 ASVG), bedürfe es somit grundsätzlich einer Einweisung durch den Sozialversicherungsträger, die durch die Ausstellung eines "Kostenverpflichtungsscheines" (§ 38 Abs 1 KrankenO) oder eines vom Vertragsarzt ausgestellten Einweisungsscheines erfolge. Für die Beziehung der Versicherungsanstalt zu den landesfondsfinanzierten Krankenanstalten seien die Bestimmungen des § 148 ASVG maßgeblich, nach dessen Z 2 und 3 die den Krankenanstalten gemäß § 27b KAG gebührenden Zahlungen zur Gänze von den Landesfonds zu entrichten seien.

Im vorliegenden Fall deute die Fassung des Klagebegehrens darauf hin, dass die beklagte Partei die Sachleistung der Anstaltspflege für Dede E***** von vornherein verweigert habe. In der Klagserzählung werde im Gegensatz dazu jedoch ausgeführt, dass Dede E***** Anstaltspflege erhalten habe. Dieser Widerspruch sei deshalb von Bedeutung, weil etwa die Einweisung durch einen Wahlarzt zu einem "gespaltenen Krankenhausaufnahmevertrag" führen würde, bei dem der Rechtsträger des Krankenhauses nur die sogenannte "Hotelleistung" übernehme, während der Patient die ärztlichen Leistungen mit einem bestimmten, in der betreffenden Krankenanstalt als Belegarzt tätigen Mediziner vereinbare. Diese wären nicht durch die LKF-Gebührenersätze und sonstigen Zahlungen des Landsfonds abgegolten, sondern verschafften dem Versicherten einen Kostenersatzanspruch gemäß § 131 Abs 1 ASVG.

Begehre der Versicherte Kostenerstattung, setze dies nach herrschender Auffassung die vorherige Entrichtung der Kosten voraus. Das Klagebegehren könne zwar auch in diesem Fall auf Leistung "im gesetzlichen Ausmaß" gerichtet sein; dies enthebe das Gericht aber nicht von der Verpflichtung, ein derartiges Begehren in einen ziffernmäßig bestimmten, exekutionsfähigen Titel zu kleiden. Andererseits wäre auch ein Klagebegehren auf Übernahme von Kosten durch den Krankenversicherungsträger als zulässig anzusehen. Werde ein solches Begehren nur dem Grunde nach bestritten, sei auch nur ein urteilsmäßiger Ausspruch über den Anspruchsgrund erforderlich. Werde hingegen das Begehren auch der Höhe nach bestritten, sei im Fall des Fehlens entsprechender gesetzlicher satzungs- oder richtlinienmäßig festgelegter Kostensätze die Höhe dieser Beträge festzustellen.

Diese Fragen seien im erstinstanzlichen Verfahren bisher nicht erörtert worden. Das auf die Gewährung der Anstaltspflege gerichtete Klagebegehren lasse auch unter Einbeziehung des gesamten Prozessvorbringens nicht erkennen, ob es als solches auf Kostenerstattung oder Kostenübernahme zu verstehen sei. Im fortgesetzten Verfahren werde das Erstgericht daher auf eine diesbezügliche Klarstellung durch den Kläger zu dringen und ihn zu einer entsprechenden Formulierung des Klagebegehrens anzuleiten haben. Sollte die Anspruchshöhe bestritten sein, seien auch dazu ergänzende Feststellungen zu treffen.

Der Rekurs sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der in § 123 Abs 1 Z 1 ASVG normierten Anspruchsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland noch nicht bestehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der beklagten Partei aus den Rekursgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, den Beschluss des Berufungsgerichts dahin abzuändern, dass die Berufung der klagenden Partei abgewiesen werde, in eventu, den Beschluss aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die klagende Partei beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs der beklagten Partei nicht Folge zu geben.

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens macht die beklagte Partei geltend, dass es für die Annahme des Berufungsgerichts, Dede E***** habe durchgehend und ausschließlich in Österreich die Schule besucht, keine ausreichenden Anhaltspunkte gebe. Im Rahmen der Rechtsrüge wird noch ausgeführt, dass eine substanziierte Bestreitung des klägerischen Vorbringens, Dede E***** habe in Österreich die Schule besucht, unterbleiben habe können, da der bloße Ablauf einer gewissen Zeitspanne nicht die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nach sich ziehen könne, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass Dede E***** schulpflichtig gewesen sei und daher selbst bei nur kurzem Aufenthalt zum Schulbesuch verpflichtet gewesen sei. Insgesamt sei eine dauerhafte Beziehung zwischen Dede E***** und dem Aufenthalt in Österreich zu verneinen.

Das Berufungsgericht hat das Zugeständnis eines (dauerhaften) Schulbesuchs von Dede E***** in Wien auf das Fehlen einer substanziierten Bestreitung durch die beklagte Partei gestützt, die zum einen selbst Urkunden vorgelegt habe, in denen auf den Schulbesuch Bezug genommen werde, und zum anderen die Behauptung des Schulbesuches leicht widerlegen hätte können, „etwa durch Anfrage bei der Schulbehörde".

Die Rechtsprechung lässt den Schluss von einer unterbliebenen Bestreitung auf ein schlüssiges Geständnis (§ 267 ZPO) im Allgemeinen nur dann zu, wenn dafür im Einzelfall gewichtige Indizien sprechen (SZ 66/59 = RIS-Justiz RS0039927 [T3]). Ob die Voraussetzungen vorliegen, ist vor dem Obersten Gerichtshof überprüfbar (RIS-Justiz RS0040078 [T2] und [T5], RS0040119 [T4]).

Rechtliche Beurteilung

Ein Verhalten der beklagten Partei im Prozess, aufgrund dessen ein (auf längere Zeit angelegter) Schulbesuch von Dede E***** in Wien als zugestanden anzusehen wäre, liegt im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichts nicht vor. In der Klage wird auf den Schulbesuch lediglich durch einen Verweis auf den Antrag des Klägers an den Bundesminister für Inneres vom 28. 12. 2000 auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis Bezug genommen. In diesem Schriftstück heißt es, dass Dede E***** mit Visum-C nach Österreich eingereist sei und ab September die Schule in Wien besuche. Daraus geht aber keineswegs eindeutig hervor, ob es sich dabei um Prozessvorbringen hinsichtlich des Schulbesuchs oder nur um den Hinweis darauf handelt, dass ein Antrag an den Bundesminister für Inneres gestellt wurde.

Die Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich des anspruchsbegründenden Umstands eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland (§ 123 Abs 1 Z 1 ASVG) trifft den Kläger. Die beklagte Partei ist vorerst nicht verhalten, ein Vorbringen zu erstatten, dass und weshalb anspruchsbegründende Voraussetzungen nicht gegeben sind. Trifft die beklagte Partei aber in einem bestimmten Bereich keine Behauptungslast, kann - zumindest solange nicht die erwähnten besonderen Umstände vorliegen, die den Schluss auf ein Zugeständnis zulassen - aus der Tatsache einer „unsubstanziierten" Bestreitung nicht ein Zugeständnis eines (im Übrigen gar nicht eindeutigen) Vorbringens der klagenden Partei zum Schulbesuch des Dede E***** abgeleitet werden.

Da der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht hat, dass Dede E***** zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Anstaltspflege in Österreich gewohnt habe und nach wie vor hier wohne (Seite 1 in ON 10 = AS 63), ist es iSd § 87 Abs 1 ASGG erforderlich, im fortgesetzten Verfahren Beweise auch zum etwaigen Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland (§ 123 Abs 1 Z 1 ASVG) aufzunehmen.

Diesbezüglich hat das Berufungsgericht die Rechtslage zutreffend dargestellt. Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts im Inland" ist entsprechend der Definition in § 66 Abs 2 JN zu verstehen (Binder in Tomandl, SV-System 15. ErgLfg Rz 2.2.1.3 mwN). Bei der Beurteilung, ob ein Aufenthalt als gewöhnlicher Aufenthalt anzusehen ist, sind seine Dauer und Beständigkeit sowie andere Umstände persönlicher und beruflicher Art zu berücksichtigen, die dauerhafte (und nicht bloß vorübergehende) Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen (SSV-NF 3/117; RIS-Justiz RS0085478; Simotta in Fasching I2 § 66 JN Rz 24 mwN). Im Allgemeinen kann bei einer Aufenthaltsdauer von ungefähr sechs Monaten von einem gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen werden (3 Ob 552/88 = RZ 1989/90; RIS-Justiz RS0074198). Erlaubtheit und Freiwilligkeit des Aufenthalts sind nicht von Belang (§ 66 Abs 2 Satz 2 ZPO). Der Aufenthaltsort muss zum Mittelpunkt des Lebens, der wirtschaftlichen Existenz und der sozialen Beziehungen gemacht worden sein. Für die Beurteilung der sozialen Integration ist bei Minderjährigen zweifellos ein durch eine gewisse Dauerhaftigkeit qualifizierter Schulbesuch an einem bestimmten Ort (bzw von einem bestimmten Ort aus) von besonderer Bedeutung.

Auf diesen Grundlagen sind die näheren Umstände zu klären, die erst die Beurteilung des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ermöglichen.

Sollte ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland zu bejahen sein, ist im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichts - vor einer Abweisung des Klagebegehrens, wie sie von der beklagten Partei angestrebt wird - noch zu erörtern, auf welches Ziel das klägerische Begehren gerichtet ist. Dabei ist auch zu klären, wie (und in welcher Gebührenklasse) es zur Anstaltsaufnahme des Dede E***** gekommen ist. Die beklagte Partei ist gemäß § 144 Abs 1 ASVG ausschließlich zur Gewährung von Anstaltspflege in der allgemeinen Gebührenklasse (bei einer landesfondsfinanzierten Krankenanstalt als Sachleistung) verpflichtet. Unter den Voraussetzungen des § 150 ASVG hat sie dem Versicherten einen Pflegekostenzuschuss zu leisten.

Wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland zu verneinen ist, kommt als Anspruchsgrundlage für Sachleistungen Art 11 Abs 1 und für Geldleistungen Art 12 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 28. 10. 1999 (BGBl III 2000/219) in Betracht. Dieses Abkommen ist am 1. 12. 2000 mit Wirksamkeit ab 1. 10. 1996 in Kraft getreten (Art 35; Siedl/Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, 38. Lfg/Türkei). Die Sachleistungsgewährung (aber auch die Geldleistungsgewährung) ist bei vorübergehendem Aufenthalt auf unverzüglich erforderliche Leistungen eingeschränkt. Für eine gezielte Inanspruchnahme einer ärztlichen Behandlung im anderen Vertragsstaat ist die vorherige Genehmigung des zuständigen Trägers (im Wohnsitzstaat) erforderlich.

Sollte es dem Kläger im fortgesetzten Verfahren nicht gelingen, seine Behauptung zu beweisen, Dede E***** habe zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Anstaltspflege nicht nur einen gewöhnlichen Aufenthalt, sondern auch seinen Wohnsitz in Österreich gehabt (AS 63), liegen die von Art 11 Abs 1 iVm Abs 3 des Abkommens geforderten Anspruchsvoraussetzungen nicht vor. Nach den vom Erstgericht getroffenen und vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen erforderte der Zustand des Dede E***** keine unverzüglichen Leistungen in Österreich (lit b). Außerdem hat er keine Genehmigung des zuständigen türkischen Sozialversicherungsträgers erhalten, sich zum Erhalt einer angemessenen Behandlung nach Österreich zu begeben (lit c).

Soweit sich der Kläger auf den im Assoziationsratsbeschluss Nr 3/80 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung von im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnhaften Personen beruft, der türkischen Wanderarbeitnehmern unmittelbar zugute kommt (EuGH 4. 5. 1999, Rs C-262/96 , Slg 1999, I-2685 - Sürül), ist ihm zu entgegnen, dass das finanzielle Gleichgewicht der Systeme der sozialen Sicherheit nach der Rechtsprechung des EuGH ein besonderes Schutzobjekt darstellt, das auch - an sich die Dienstleistungsfreiheit beschränkende - Genehmigungspflichten für Krankenhausbehandlungen im Ausland legitimieren kann, sofern sie aus zwingenden Gründen zu rechtfertigen sind und dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügen (EuGH 12. 7. 2001, Rs C-157/99 , Slg 2001, I-5473 - Geraets-Smits und Peerbooms). Es ist nicht erkennbar, dass die in Art 11 Abs 1 lit c des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 28. 10. 1999 geforderte Genehmigung der Behandlung in einem anderen Staat über das notwendige Ausmaß hinausgehen oder auf auf diskriminierenden Kriterien beruhen würde. In dem Umstand, dass das österreichische Recht in § 123 Abs 1 Z 1 ASVG für die Anspruchsberechtigung von mitversicherten Angehörigen ein Aufenthaltserfordernis im Inland aufstellt und das zwischenstaatliche Recht bestimmte Voraussetzungen für den Sachleistungsanspruch im anderen Vertragsstaat normiert, ist keine Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern aufgrund der Staatsangehörigkeit zu erblicken, da die aufgestellten Voraussetzungen in gleicher Weise für die eigenen Staatsangehörigen wie für Angehörige anderer Staaten gelten. Die Anspruchsberechtigung auf Sachleistungen aus der Krankenversicherung knüpft typischerweise an den gewöhnlichen Aufenthalt an (vgl Windisch-Graetz, Europäisches Krankenversicherungsrecht [2003] 157 ff).

Auch aus den EuGH-Urteilen in den Rechtssachen Jauch und Ioannidis ist für den Kläger nichts zu gewinnen, weil sie gänzlich andere Sachverhalte betreffen als den vorliegenden. In der Rechtssache Jauch (EuGH 8. 3. 2001, Rs C-215/99 , Slg 2001, I-1901) ging es darum, dass die Republik Österreich verpflichtet wurde, eine Geldleistung (Pflegegeld) an die in einem anderen Mitgliedstaat aufhältigen Personen zu exportieren, die - abgesehen vom Inlandsaufenthaltserfordernis - die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllten. Eine Exportverpflichtung steht jedoch im vorliegenden Fall nicht zur Diskussion. Dem Urteil in der Rechtssache Ioannidis (EuGH 25. 2. 2003, Rs C-326/00 , Slg 2003, I-1703) liegt zugrunde, dass das Gemeinschaftsrecht für Rentner günstigere Vorschriften (Art 31 der Verordnung Nr 1408/71) vorsieht als für Arbeitnehmer (Art 22 der Verordnung), weil es Rentnern einen Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnsitzstaat bereits dann gewährt, wenn sie diese Leistung benötigen, und nicht erst dann, wenn der Gesundheitszustand es unverzüglich erfordert (das wäre die für Arbeitnehmer gültige Regelung). Die Änderung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 durch die Verordnung (EG) Nr 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl 2004 L 100/1 vom 6. 4. 2004), womit die Unterscheidung zwischen unverzüglich erforderlichen Leistungen und erforderlichen Leistungen aufgehoben wurde, ist erst am 1. Juni 2004 in Kraft getreten.

Damit erweist sich der Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss des Berufungsgerichts als zutreffend, wobei (vorweg) ergänzende Feststellungen zum Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts, allenfalls auch eines Wohnsitzes des Dede E***** in Österreich zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Anstaltsbehandlung zu treffen sind.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Stichworte