OGH 14Os139/04

OGH14Os139/0423.11.2004

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. November 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Diewok als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dzojo K***** wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßig schweren, als Mitglied einer kriminellen Vereinigung durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 2, 129 Z 1, 130 zweiter, dritter und vierter Fall und 15 StGB, AZ 20 Hv 13/04w des Landesgerichtes für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Graz vom 12. Oktober 2004, AZ 11 Bs 502/04, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dzojo K***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Dzojo K***** wurde mit dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 22. Juli 2004, GZ 20 Hv 13/04w-261, wegen der in zwei Fällen beim Versuch gebliebenen Wegnahme von insgesamt neun Kraftfahrzeugen samt Inhalt im Gesamtwert von jedenfalls mehr als 1,9 Millionen Schilling des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßig schweren, als Mitglied einer kriminellen Vereinigung durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 2, 129 Z 1, 130 zweiter, dritter und vierter Fall und 15 StGB schuldig erkannt und zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Urteil ist infolge einer vom Angeklagten angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung noch nicht rechtskräftig.

Mit dem angefochtenen Beschluss setzte das Oberlandesgericht Graz die über den Angeklagten nach dessen Festnahme am 17. April 2004 und Auslieferung aus Kroatien am 14. Juli 2004 verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1 StPO fort. Einen Anspruch des Angeklagten auf Freilassung gegen Sicherheitsleistung verneinte es.

Rechtliche Beurteilung

Der Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten, welche die vom Oberlandesgericht bejahte Fluchtgefahr (§ 180 Abs 2 Z 1 StPO) ausdrücklich zugesteht, aber bestreitet, dass das Gericht "die fakultative Haftverschonung nach freiem Ermessen zu treffen" hat, und neben der Haftdauer abstrakt die zu erwartende Freiheitsstrafe und die Möglichkeit einer bedingten Entlassung ins Treffen führt, kommt Berechtigung nicht zu.

Nach der Rsp des EGMR ist das der zuständigen Behörde bei einer Freilassung auf Kaution nach dem letzten Satz des Art 5 Abs 3 EMRK zustehende Ermessen auf Null reduziert, wenn - neben dem Tatverdacht - die Fluchtgefahr der einzige Haftgrund war (vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 191 mwN, Frowein/Peukert EMRK2 Art 5 Rz 131). Diese Bestimmung bezieht sich jedoch nur auf die Haftgründe des Art 5 Abs 1 lit c EMRK.

Wenn die Schuld einer Person bereits in einer Hauptverhandlung festgestellt worden ist, die in ihrem Ablauf den Erfordernissen des Art 6 Abs 1 EMRK entsprochen hat, finden nach der Rsp des EGMR Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft ihre Rechtfertigung in Art 5 Abs 1 lit a EMRK. Dabei kommt es nach der Rsp des EGMR nicht darauf an, "ob die Haft formell auf der Basis des die Verurteilung aussprechenden Urteils oder auf der Grundlage eines besonderen Beschlusses vollzogen wird" (EGMR, 27. 6. 1968, Wemhoff gg Deutschland; EGMR, 28. 3. 1990, B. gg Österreich, ÖJZ-MRK 1990/12; Grabenwarter aaO, 180, Frowein/Peukert EMRK2 Art 5 Rz 121; vgl aber 15 Os 117/04 unter Berufung auf Reindl, Untersuchungshaft und Menschenrechtskonvention, 51, 130 f).

Fänden Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft ihre Rechtfertigung auch nach erstinstanzlicher Verurteilung in Art 5 Abs 1 lit c EMRK, könnte mit Blick auf den Wortlaut des Art 5 Abs 1 EMRK argumentiert werden, dass die aus welchem Grund immer verhängte oder fortgesetzte Untersuchungshaft nach einem erstinstanzlichen Schuldspruch nach Maßgabe der EMRK stets aufgehoben werden müsste, weil die StPO eine "Vorführung" des auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten im Rechtsmittelverfahren nicht kennt (§§ 286 Abs 1 zweiter Satz, 294 Abs 5 zweiter Satz, 296 Abs 3 zweiter Satz, 344 zweiter Satz, 473 Abs 1, 489 Abs 1 zweiter Satz StPO; vgl aber auch Frowein/Peukert EMRK2 Art 5 Rz 82).

Gelangt Art 5 Abs 3 EMRK demnach nicht zur Anwendung, war das Oberlandesgericht - ungeachtet Art 5 Abs 2 zweiter Satz PersFrG - auch nicht verhalten, § 190 Abs 1 StPO grundrechtskonform einschränkend dahin auszulegen, dass im vorliegend zu beurteilenden Fall einer Freiheitsstrafdrohung von mehr als fünf Jahren (§ 130 zweiter Strafsatz StGB) die bloß wegen Fluchtgefahr fortgesetzte Untersuchungshaft jedenfalls gegen Kaution oder Bürgschaft sowie gegen Ablegung der im § 180 Abs 5 Z 1 und 2 StPO erwähnten Gelöbnisse aufgehoben werden muss.

Das ihm von dieser Bestimmung eingeräumte Ermessen aber hat der Gerichtshof II. Instanz in nicht zu beanstandender Weise gebraucht, indem er mit Blick auf das Fehlen einer Nahebeziehung des Beschwerdeführers zu Österreich, die Tatsache, dass dieser erst nach rund drei Jahre währender internationaler Fahndung bei einem Grenzübetritt in das EU-Ausland festgenommen werden konnte und die in erster Instanz verhängte Freiheitsstrafe von drei Jahren die Erreichbarkeit des Haftzweckes durch Sicherheitsleistung verneinte (§ 180 Abs 1 zweiter Satz [zweiter Fall] StPO).

Soweit sich der Beschwerdeführer auf "verbüßte Haftdauer" und - wenngleich bloß abstrakt - auf die Möglichkeit bedingter Entlassung beruft und damit der Sache nach die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft in Frage stellt, zeigt er keine Verletzung des § 193 Abs 1 und 2 StPO auf.

Wer sich wegen der Verlängerung seiner Haft über die erstinstanzliche Verurteilung hinaus aufgrund der Verzögerung, die mit der Entscheidung über sein Rechtsmittel verbunden ist, zu beschweren hätte, kann sich nach der Rsp des EGMR nicht auf Art 5 Abs 3 EMRK berufen, wohl aber "möglicherweise Nichtbeachtung der in Art 6 Abs 1 EMRK vorgesehenen angemessenen Frist geltend machen" (EGMR, 27. 6. 1968, Wemhoff gg Deutschland). Nach der Rsp des Obersten Gerichtshofes setzen § 193 Abs 1 und 2 StPO diese Grundrechtsverheißung auf einfachgesetzlicher Stufe um (richtungweisend: 15 Os 34/04).

Eine überlange Verfahrensdauer lag indes im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht vor. Angesichts der in erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und der dem erstinstanzlichen Schuldspruch zugrunde gelegten Taten stand die Dauer der Untersuchungshaft von knapp drei Monaten (die Zeit der Auslieferungshaft ist - auch unter dem Aspekt des Art 5 Abs 3 EMRK - nicht in Rechnung zu stellen, weil der ersuchende Staat dafür nicht verantwortlich ist; vgl Frowein/Peukert EMRK2 Art 5 Rz 120, aber auch Rz 141 zu Art 6 EMRK) zudem weder zu der zu erwartenden Strafe noch zur Bedeutung der Sache in einem Missverhältnis, sodass auch der über den Mindeststandard des Art 5 EMRK hinausgehenden Vorschrift des § 180 Abs 1 zweiter Satz (erster Fall) StPO Rechnung getragen wurde. Die Möglichkeit einer bedingten Entlassung, welche zudem erst im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof geltend gemacht wurde (§ 1 Abs 1 GRBG, vgl 13 Os 158/00), bleibt schließlich bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der jüngeren Rsp des Obersten Gerichtshofes außer Betracht (15 Os 34/04, 12 Os 39/04, 12 Os 98/04; aM Venier, AnwBl 2004, 567, der jedoch übergeht, dass § 493 Abs 1 StPO die bedingte Nachsicht der Strafe dieser keineswegs gleichstellt, vielmehr nur - nicht anders als § 435 Abs 2 StPO für freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahmen und § 443 Abs 3 StPO für Abschöpfung der Bereicherung, Verfall und Einziehung - anordnet, dass der Ausspruch darüber zum Sanktionsausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO zählt und demnach mit Berufung angefochten werden kann, damit aber diese Aussprüche keineswegs zu Strafen macht).

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