European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2004:0100OB00050.04G.1012.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, dass das erstgerichtliche (End‑)Urteil wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 582,96 EUR (darin 97,16 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 492,12 EUR (darin 55,52 EUR Umsatzsteuer und 159,00 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu bezahlen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 19. April 2001 gegen 19.00 Uhr ging die Klägerin in einer Gruppe von insgesamt vier Personen auf der Gehsteig der M*****straße im 22. Wiener Gemeindebezirk. Es dämmerte; die Sicht war unbeeinträchtigt. Der Gehsteigbelag aus wasserundurchlässigem und flexiblem Gussasphalt war trocken. Die Klägerin trug flache Pumps ohne hohen Absatz. Sie unterhielt sich mit den anderen und blickte zum Teil nach vor und zum Teil auf den Gehsteig. An einer Beule im Gussasphalt bliebt sie mit ihrem Schuh hängen, stolperte über die Beule und stürzte zu Boden, wobei sie sich an der Hand verletzte.
Die Beule im Gehsteigasphalt, über die die Klägerin stolperte, war etwa 5 - 6 cm hoch und hatte einen Durchmesser von ca 15 cm. Am Gehsteig gab es darüber hinaus noch mehrere kleinere Beulen mit etwa 1 - 2 cm Höhe und einem Durchmesser von ca 5 cm; diese begannen verstreut ca 1 m nach der Beule, über die die Klägerin stolperte (in Gehrichtung der Klägerin gesehen).
Bei der M*****straße handelt es sich um eine Bezirksstraße. Die Erhaltung und Überprüfung ihres Zustandes (samt Gehsteig) oblag der MA 28. Für den gesamten Bezirk waren drei Mitarbeiter verantwortlich, jeder für einen bestimmten Rayon. Die Unfallstelle fiel in den Zuständigkeitsbereich von Manfred H*****. Dieser ist seit 12 Jahren bei der MA 28 tätig, von Beruf Maurer und seit drei Jahren Werkmeister. Die Kontrolle des Straßenzustandes ist so ausgestaltet, dass Manfred H***** während seiner Arbeitszeit zwischen 6:30 und 16:30 Uhr Rundgänge in seinem Rayon macht, worüber er einen Rundgangbogen führt. Die Rundgänge erfolgen nach einem bestimmten Muster. Insgesamt gibt es 21 Teile; jede Stelle im Rayon wird mindestens alle sechs Wochen kontrolliert. Die Kontrolle erfolgt so, dass Manfred H***** die Gehsteige selbst zu Fuß abgeht und dabei die Oberflächenbeschaffenheit durch Augenschein kontrolliert. Auf diese Art und Weise - Abgehen zu Fuß und Augenscheinskontrolle der Oberflächenbeschaffenheit - wurde auch die Unfallstelle regelmäßig alle fünf bis maximal sechs Wochen, zuletzt am 20. 3. 2001 kontrolliert. Dabei entdeckte Manfred H***** ausschließlich kleine Unebenheiten bzw Beulen in einer Höhe von ca 1 cm und einem Durchmesser von ca 1 cm.
Die weitere Vorgangsweise nach den Kontrollgängen hängt von der Einschätzung der Gefährlichkeit allfällig entdeckter Beulen ab. Bei als "sehr gefährlich" eingeschätzten, sehr großen Beulen (diejenige, über die die Klägerin stolperte, wäre eine solche gewesen) verständigt der Werkmeister die Regiepartie, damit die Beule sofort behoben wird. Als "gefährlich" eingeschätzte Beulen mit einer Höhe ab ca 2 cm werden vom Werkmeister aufgeschrieben. Diese werden in eine Regieliste eingetragen und dann von der Regiepartie innerhalb von maximal 14 Tagen behoben. Dies hat problemlos funktioniert. Als "nicht gefährlich" eingeschätzte Beulen bis ca 2 cm Höhe bleiben unbehandelt, dh sie werden weder sofort behoben noch in die Regieliste eingetragen. Sie werden bei der nächsten routinemäßigen Kontrolle in fünf bis maximal sechs Wochen überprüft, ob sie sich allenfalls vergrößert oder verändert haben.
Wäre die Beule, über die die Klägerin stolperte, bei der letzten Kontrolle vor dem Vorfall am 20. 3. 2001 bereits in dieser Art wie am Unfalltag vorhanden gewesen, hätte Manfred H***** sie als "sehr gefährlich" eingestuft und die Regiepartie zwecks sofortiger Behebung verständigt. Eine Beule in diesem Ausmaß fiel Manfred H***** jedoch nicht auf; es ist auch nicht feststellbar, dass die Beule bereits am 20. 3. 2001 in dem am Unfalltag bestehenden Ausmaß vorhanden war.
Blasenbildungen im Gussasphalt sind grundsätzlich möglich, wobei nicht vorhergesehen werden kann, wann, wo, wie schnell und in welcher Größe diese auftreten. Das Wachstumsverhalten von Blasen im Gussasphalt ist höchst unterschiedlich. Es ist sowohl kurzfristige Blasenbildung (innerhalb von wenigen Tagen) als auch ein langsames Wachsen über mehrere Wochen möglich.
Nach dem Unfall vom 19. 4. 2001 wurde die Beule, über die die Klägerin gestolpert war, sofort erwärmt und eingestampft. Wäre die MA 28 bereits zu einem früheren Zeitpunkt über die Beule informiert worden, wäre sie sofort behoben worden.
Die Klägerin begehrte mit der Behauptung, sie habe sich bei dem Sturz zwei Frakturen am linken Mittelhandknochen zugezogen, Schmerzensgeld in Höhe von 4.100 EUR. Die Haftung der beklagten Partei Wien infolge groben Verschuldens beruhe darauf, dass diese den Gehsteig in ihre Erhaltungsverpflichtung übernommen habe und verpflichtet gewesen wäre, ungewöhnliche Frostbeulen zu beseitigen. Überdies seien die Abstände der Kontrollen zu kurz und die vorgenommenen Sichtkontrollen nicht ausreichend gewesen, zumal das Entstehen von Blasen völlig unvorhersehbar sei.
Die beklagte Partei wandte im Wesentlichen ein, dass weder sie noch ihre Leute ein wie immer geartetes Verschulden an dem Vorfall treffe, erst recht keine schweres iSd § 1319a ABGB. Zum Zeitpunkt der letzten regelmäßigen Kontrolle am 20. 3. 2001 habe sich der Gehsteig in einem verkehrssicheren Zustand befunden. Erst danach habe sich die Blase gebildet, was nicht vorhersehbar gewesen sei. Der beklagten Partei sei es organisatorisch weder möglich noch zumutbar, permanent jede Stelle des Wiener Verkehrsnetzes zu kontrollieren. Sobald die beklagte Partei von derartigen Blasenbildungen wie der gegenständlichen erfahre, würden diese umgehend beseitigt, so auch umgehend nach dem Unfall vom 19. 4. 2001. Vorsichtshalber werde auch ein überwiegendes Verschulden der Klägerin eingewendet.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der beklagten Partei sei als Wegehalter weder eine unzureichende Organisation noch eine Unterlassung von pflichtgemäßen Handlungen vorzuwerfen. Bei der letzten Kontrolle am 20. 3. 2001 habe sich der Gehsteig in einem verkehrssicheren Zustand befunden. Grob fahrlässiges Verhalten sei nicht bewiesen worden. Es sei nicht zumutbar, dass die beklagte Partei permanent jede Stelle kontrolliere. Die Blasenbildung sei nicht vorhersehbar und innerhalb von einigen Tagen möglich gewesen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass in einem Teil- und Zwischenurteil ausgesprochen wurde, dass die Forderung der Klägerin aus dem Vorfall vom 19. 4. 2001 dem Grunde nach mit 50 % zu Recht bestehe. Hinsichtlich 2.050 EUR s.A, wurde das Klagebegehren abgewiesen. In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Berufungsgericht aus, dass zwar die Anforderungen an den Wegehalter nicht überspannt werden dürften und die durchgeführten Kontrollen (Begehung jeder Stelle des Rayons zumindest alle fünf bis maximal sechs Wochen) als gerade noch ausreichend anzusehen seien; die grobe Fahrlässigkeit der beklagten Partei bzw ihrer Leute sei jedoch darin zu erblicken, dass sie erst dann die Beseitigung einer Gefahr veranlasst habe, als diese evident gewesen sei. Die Behebung von Asphaltblasen binnen maximal 14 Tagen dürfe nicht erst ab einer Höhe von ca 2 cm, sondern müsste - unabhängig von ihrer Größe - nach Kenntnis von ihrem Vorhandensein erfolgen. Die Voraussetzungen für eine Haftung der beklagten Partei für die Schäden der Klägerin seien daher dem Grunde nach gegeben. Allerdings müsse sich die Klägerin auch eine erhebliche Sorglosigkeit in eigener Sache anrechnen lassen. Die Unebenheiten am Gehsteig und insbesondere die Asphaltbeule, aufgrund derer die Klägerin zu Sturz gekommen sei, hätten trotz Dämmerung durchaus einen Auffälligkeitswert gehabt. Komme ein Fußgänger dadurch zu Sturz, dass er nicht vor seine Füße schaue, sei ihm ein 50 %‑iges Mitverschulden anzulasten.
Das Berufungsgericht sprach vorerst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil eine über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage nicht zu lösen sei. Es änderte über Antrag der beklagten Partei den Zulässigkeitsausspruch aber ab und erklärte die ordentliche Revision doch für zulässig, da der Frage des anzuwendenden Sorgfaltsmaßstabes über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.
Mit ihrer Revision beantragen die Kläger die Abänderung der angefochtenen Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, da das Berufungsgericht die Grundsätze der höchstgerichtlichen Judikatur zu § 1319a ABGB in auffallend unrichtiger Weise auf den festgestellten Sachverhalt angewendet hat, was in gleicher Weise ein Abweichen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes bedeutet wie wenn davon ausdrücklich und bewusst abgegangen worden wäre (Kodek in Rechberger, ZPO2 § 502 Rz 3 mwN). Auch wenn der hier zu beurteilende Sachverhalt typischerweise einzelfallbezogen zu sehen wäre, ist es aus Gründen der Rechtssicherheit geboten, die Fehlbeurteilung durch das Berufungsgericht zu korrigieren. Dies wird von der beklagten Partei auch überzeugend in der Zulassungsbeschwerde dargelegt.
Die Revision ist berechtigt, da es jedenfalls an der von § 1319a ABGB geforderten Voraussetzung der groben Fahrlässigkeit fehlt.
Der Wegehalter haftet nach § 1319a ABGB nur, wenn "er oder einer seiner Leute den Mangel vorsätzlich oder grobfahrlässig verschuldet hat". Der Verfassungsgerichtshof ging in seiner Entscheidung VfSlg 8254 (1978) davon aus, dass das Vorliegen einer "besonderen Interessenlage" in Bezug auf allgemein zugängliche Wege eine zureichende Rechtfertigung für diese Begrenzung der Haftung des Wegehalters biete. Die Gesichtspunkte der Unentgeltlichkeit und der Interessenneutralität der Verkehrseröffnung vermögen eine Milderung der Haftung zu tragen, die im Bereich des ABGB grundsätzlich schon bei leichter Fahrlässigkeit eintreten würde.
Nach ständiger Rechtsprechung ist unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlichem Maße verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (RIS‑Justiz RS0030171). Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit dann gegeben, wenn der Betreffende ganz einfache und nahe liegende Überlegungen nicht angestellt hat, um eine Schädigung zu vermeiden (ZVR 1984/142; RIS‑Justiz RS0030309 [T1]). Je gefahrenträchtiger die Ausgangslage ist, umso höhere Aufmerksamkeit ist in Richtung einer Verhinderung von Schädigungen zu richten. Keineswegs kann aber der Umstand, dass eine erst potentielle Gefahrensituation nicht sofort beseitigt wird, grobe Fahrlässigkeit begründen, und zwar auch dann nicht, wenn es möglich ist, dass sich die Gefahrensituation in der Zukunft mit allerdings nicht konkretisierbarem Zeithorizont ohne weiteres Zutun verschärfen könnte. In einem anderen Zusammenhang (Frachtrecht) lehnt es die höchstgerichtliche Rechtsprechung daher beispielsweise ab, jeden Organisationsfehler als typischerweise grob fahrlässig zu qualifizieren, denn dies hieße, an die einfachen Sorgfaltsstandards überzogene, irreale Maßstäbe anlegen (6 Ob 349/97k = VersE 1774; 7 Ob 160/00f = ZfRV 2001/27; RIS‑Justiz RS0110748).
Legt man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall um, ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin Umstände bewiesen hat, die eine der beklagten Partei zuzurechnende grobe Fahrlässigkeit begründen. Der Wegehalter ist nicht verpflichtet, schon kleine Unebenheiten eines Gehsteigs (mit einem Höhenunterschied von rund 2 cm) zu beseitigen, selbst wenn sich diese vergrößern könnten, ohne dass dies aber als sicher vorauszusehen wäre. Gerade dieser Gefahr der Verschärfung der Gefahrensituation wird dadurch Rechnung getragen, dass maximal alle sechs Wochen jede Stelle des Gehsteignetzes kontrolliert wird. Dieser Zeitraum erscheint nicht zu lange, kann doch auch erwartet werden, dass akut auftretende Gefahrensituationen teilweise auch von anderen Institutionen und Behörden gemeldet werden. Im Übrigen muss eine ballsaalähnliche Oberflächenstruktur der Gehsteige auch im städtischen Bereich nicht angestrebt werden (vgl 2 Ob 657/85 = MietSlg 38.232/8 = JBl 1986, 523).
Der Revision der beklagten Partei ist daher im Sinne einer Wiederherstellung des erstinstanzlichen Endurteils Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 ZPO.
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