Spruch:
Im Verfahren AZ 40 EHv 44/03d des Landesgerichtes Wiener Neustadt verletzt die Durchführung der Hauptverhandlung gegen Ferdinand H***** am 9. Juli 2003 in Abwesenheit eines Verteidigers das Gesetz in der Bestimmung des § 41 Abs 1 Z 2 StPO.
Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.
Text
Gründe:
Mit dem Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 13. August 2003, GZ 40 EHv 44/03d-10, wurden Ferdinand H***** und Friedrich K***** des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB (1./), Ferdinand H***** überdies des Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15, 144 Abs 1 StGB (2./) schuldig erkannt.
Danach haben
1./ im Jahr 2000, und zwar frühestens am 16. Juni 2000, in Wien Ferdinand H***** und Friedrich K***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter den Gerald R***** durch gefährliche Drohung zu einer Handlung, nämlich zum Aushändigen einer von diesem getragenen Zahnprothese genötigt, indem Ferdinand H***** den Friedrich K***** aufforderte, dieser solle Gerald R***** die Zähne (gemeint eine Zahnprothese) wegnehmen, sowie durch die von Ferdinand H***** gegenüber dem körperlich unterlegenen Opfer, vor dem er sich drohend aufgestellt hatte, gemachte Äußerung: "Spucks aus, sonst dama Schlitten fahren";
2./ Ferdinand H***** alleine am 13. Februar 2003 auf der Südautobahn - A2 im Raum Wiener Neustadt mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz Dr. Andrea S***** durch Übermitteln eines SMS des Inhaltes "Heute um 21.00 Uhr kommt ein Freund von mir zu dir und holt mein Geld von dir. Gib ihm 9.000 Euro in ein Kuvert, und wir sind quitt. Falls nicht, steht deine berufliche und private Zukunft in Gefahr. Es ist ein Notfall", somit durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung der beruflichen und privaten Ehre der Adressatin zu einer Handlung zu nötigen versucht, die diese am Vermögen um 9.000 Euro schädigen sollte.
Die Urteilsfeststellungen gründen auf den Ergebnissen einer vom Einzelrichter am 9. Juli 2003 und am 13. August 2003 durchgeführten Hauptverhandlung. Zum erstgenannten Termin erschien der Erstbeschuldigte Ferdinand H***** trotz Hinweises auf die gemäß § 41 Abs 1 Z 2 StPO notwendige Verteidigung und entgegen der Aufforderung, einen Verteidiger namhaft zu machen (S 3a), unvertreten. Im Zuge der dennoch durchgeführten Hauptverhandlung wurden beide Beschuldigte zu den gegen sie erhobenen Tatvorwürfen eingehend einvernommen (ON 6). Bei der am 13. August 2003 fortgesetzten Hauptverhandlung (S 173) war Ferdinand H***** durch einen ihm gemäß § 41 Abs 4 StPO von Amts wegen beigegebenen Verfahrenshilfeverteidiger vertreten (ON 8 iVm ON 9). Während der in der Hauptverhandlung vom 13. August 2003 ergangene Schuldspruch hinsichtlich Friedrich K***** in Rechtskraft erwuchs, meldete Ferdinand H***** rechtzeitig Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an, die unter Rückziehung der beiden letztgenannten Anfechtungspunkte allein aus dem Grunde des § 281 Abs 1 Z 1a (iVm § 489 Abs 1) StPO rechtzeitig ausgeführt wurde. Das Oberlandesgericht Wien gab der Berufung mit Urteil vom 18. Dezember 2003, AZ 23 Bs 296/03 (ON 16), nicht Folge. Es erachtete nämlich den aufgezeigten Verfahrensmangel teilweise fehlender anwaltlicher Verteidigung durch Wiederholung des wesentlichen Teiles der Hauptverhandlung vom 9. Juli 2003 in der in Anwesenheit des bestellten Verfahrenshilfeverteidigers fortgesetzten, mit Urteil abgeschlossenen Hauptverhandlung vom 13. August 2003 unter Berufung auf Ratz (in WK-StPO § 281 Rz 153, 154) und 10 Os 45/91 für saniert (S 311).
In seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt der Generalprokurator Folgendes aus:
Die Durchführung der Hauptverhandlung durch den Einzelrichter des Landesgerichtes Wiener Neustadt teilweise, nämlich am 9. Juli 2003, in Abwesenheit eines Verteidigers des Ferdinand H*****, das darauf basierende, den Genannten betreffende Urteil vom 13. August 2003, GZ 40 EHv 44/03d-10, und das Berufungsurteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 18. Dezember 2003, AZ 23 Bs 296/03 (ON 16 in 40 EHv 44/03d des Landesgerichtes Wiener Neustadt), verletzen das Gesetz; ein Ferdinand H***** daraus erwachsener Nachteil ist nicht auszuschließen.
Gemäß § 41 Abs 1 Z 2 StPO bedarf der Angeklagte zwingend eines Verteidigers in der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter, wenn für die Tat, außer in den Fällen der §§ 129 Z 1 bis 3 und 164 Abs 4 StGB, eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist. Diese Voraussetzung war hinsichtlich des Ferdinand H*****, gegen den ein Strafantrag wegen des mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bedrohten Verbrechens der versuchten Erpressung nach §§ 15, 144 Abs 1 StGB vorlag, gegeben. Nichtigkeit eines Urteils nach § 281 Abs 1 Z 1a StPO liegt vor, wenn der Angeklagte nicht während der ganzen Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten war, obwohl dies zwingend vorgeschrieben ist.
Dem Protokoll über die Hauptverhandlung vom 13. August 2003 (ON 9) ist deren (wegen Fehlens eines Verteidigers am 9. Juli 2003 gebotene) Neudurchführung nicht zu entnehmen (kein neuerlicher Vortrag der Anklage, keine Gegenäußerung des Verteidigers, keine zusammenhängende Verantwortung der Angeklagten, sondern deren globale Hinweise auf ihre bisherige, auch nicht verlesene Verantwortung in Verbindung mit ergänzenden Befragungen, keine entscheidungswesentlichen Angaben des Ferdinand H***** zum Vorwurf der Nötigung). Das Berufungsgericht ging ebenfalls von einer "fortgesetzten, mit Urteil abgeschlossenen Hauptverhandlung vom 13. August 2003" aus (S 8 des Berufungsurteiles, S 311).
Eine Neudurchführung oder gänzliche Wiederholung des Verfahrensabschnittes vom 9. Juli 2003 in Anwesenheit des Verteidigers am 13. August 2003, durch die der Verfahrensmangel saniert wäre (10 Os 45/81, 13 Os 23/95, Ratz in WK § 281 Rz 153), ist nicht erfolgt.
Die Möglichkeit des Verteidigers, aus Anlass der global aufrechterhaltenen Verantwortung beider Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 13. August 2003 ergänzende Fragen zu stellen sowie ein allfälliges Fehlen von (für den Berufungssenat nicht ersichtlichen, aber nicht auszuschließenden) Nachteilen in den Verteidigungsrechten vermag den (der Bestimmung des § 281 Abs 3 StPO nicht unterliegen) Verfahrensmangel nicht zu beheben.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:
Dem Generalprokurator ist beizupflichten, dass der Beschuldigte zwingend eines Verteidigers in der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter bedarf, wenn für die Tat, außer in den Fällen der §§ 129 Z 1 bis 3 und 164 Abs 4 StGB, eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist. Diese Voraussetzung war hinsichtlich des Ferdinand H*****, gegen den ein Strafantrag wegen des mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bedrohten Verbrechens der versuchten Erpressung nach § 15, 144 Abs 1 StGB vorlag, gegeben.
Die Durchführung der Hauptverhandlung vom 9. Juli 2003 in Abwesenheit eines Verteidigers verletzte daher das Gesetz im § 41 Abs 1 Z 2 StPO. In der Hauptverhandlung vom 13. August 2003, die in Anwesenheit des beigegebenen Verteidigers des Ferdinand H***** stattfand, wurde der Erstbeschuldigte zu den ihm angelasteten Taten neuerlich befragt (S 175 bis 185; 187 bis 189; 205; 209; 211; 225; 237; 245; 247, wobei er entgegen der Beschwerde auch zu entscheidungswesentlichen Umständen betreffend die inkriminierte Nötigung Stellung nahm; vgl S 179 bis 181; 211; 237) und der Zweitbeschuldigte Friedrich K***** ergänzend vernommen (S 181; 189, 243). Dabei verwiesen sowohl der Erst- als auch der Zweitbeschuldigte auf ihre bisherigen Verantwortungen (S 175; 179; 181), womit auch deren in der Hauptverhandlung vom 9. April 2003 vorgebrachten Einlassungen Gegenstand der nunmehrigen Hauptverhandlung wurden (§ 271 Abs 3 StPO; vgl Ratz, ÖJZ 2000, 551; ders in WK-StPO § 281 Rz 230 und 459; 13 Os 96/03). Im Hinblick darauf wurde das ursprünglich in Abwesenheit des Verteidigers des Erstbeschuldigten durchgeführte Verfahren in dessen Anwesenheit inhaltlich zur Gänze wiederholt.
Allerdings unterblieb in der Hauptverhandlung vom 13. August 2003 der neuerliche Vortrag der Anklage nach § 244 Abs 1 StPO iVm § 488 StPO in Anwesenheit des Verteidigers, womit übrigens kein Nichtigkeitsgrund einhergeht, sodass sich diese Gesetzesverletzung einer amtswegigen Wahrnehmung aus § 290 StPO entzieht. Dessen ungeachtet wurde in das (von der Zielsetzung des § 41 Abs 1 Z 2 StPO allein erfasste und vom tatsächlichen Vortrag im Beisein des Verteidigers unabhängige) Recht der Verteidigung, dem Anklagevorwurf mit einer Gegenäußerung zu erwidern (§ 244 Abs 3 StPO iVm § 488 StPO) nicht eingegriffen, stand es doch dem anwesenden Verteidiger, dem der Strafantrag mit der Ladung zur Hauptverhandlung zugestellt worden war (ON 8), jederzeit offen, zu der bereits in der Hauptverhandlung vom 9. Juli 2003 vorgetragenen Anklage (S 105) Stellung zu nehmen. Damit zeigt sich, dass dem in der Nichtigkeitsbeschwerde allein thematisierten Schutzzweck des § 41 Abs 1 Z 2 StPO - Sicherung eines Rechtsbeistands während der gesamten Hauptverhandlung zur fachkundigen Wahrung der Beschuldigtenrechte - in der inhaltlich neu durchgeführten Hauptverhandlung vom 13. August 2003 in vollem Umfang Rechnung getragen wurde. Dies kommt einer formellen Wiederholung des unter Verteidigerpflicht stehenden Verfahrensabschnittes gleich, sodass im Hinblick darauf - entgegen der Ansicht des Generalprokurators - der Erstbeschuldigte während der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger vertreten war. Demgemäß ging das Oberlandesgericht Wien zu Recht davon aus, dass der vom Angeklagten geltend gemachte Nichtigkeitsgrund nach §§ 281 Abs 1 Z 1a, 489 Abs 1 StPO nicht vorlag, ohne dass in der (insoweit missverständlich formulierten) Berufungsentscheidung eine Nachteilsbetrachtung iSd § 281 Abs 3 StPO (die in Bezug auf den absolut wirkenden Nichtigkeitsgrund nach § 281 Abs 1 Z 1a StPO nicht in Frage kommt - vgl Ratz in WK-StPO § 281 Rz 168) vorgenommen worden wäre. Vielmehr stellte das Berufungsgericht zutreffend darauf ab, dass infolge der inhaltlichen Wiederholung des mit einem Nichtigkeitsgrund behafteten Verfahrensabschnitts der im vorliegenden Fall vorgesehenen notwendigen Verteidigung Genüge getan wurde. Ein Verstoß gegen §§ 468 Abs 1 Z 3, 470 Z 3, 489 Abs 1 StPO in der geltend gemachten Richtung (nämlich iS einer Verletzung der §§ 281 Abs 1 Z 1a, 489 Abs 1 StPO iVm § 41 Abs 1 Z 2 StPO) war daher nicht festzustellen.
Im Hinblick darauf bestand für den Obersten Gerichtshof auch keine Veranlassung, an die dem Erstgericht unterlaufene Gesetzesverletzung weitere Konsequenzen iSd § 292 StPO zu knüpfen.
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