OGH 2Ob19/04i

OGH2Ob19/04i26.2.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj Yusuf S*****, vertreten durch seinen Vater Ömer S*****, dieser vertreten durch Dr. Wolfgang Blaschitz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei D*****‑AG, ***** vertreten durch Dr. Herbert Schachter, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 10.900,93 sA und Feststellung (Streitwert EUR 3.633,64), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 16. Oktober 2003, GZ 16 R 87/03m‑41, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 31. Jänner 2003, GZ 26 Cg 49/01v‑35, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 3.152,54 (darin enthalten EUR 348,59 USt und EUR 1.061,‑- Barauslagen) bestimmten Kosten der Rechtsmittelverfahren binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 3. 12. 1998 kam es gegen 12.10 Uhr in 1100 Wien auf der Kreuzung Quellenstraße/Hofherrgasse zu einem Verkehrsunfall, an welchem ein bei der beklagten Partei haftpflichtversicherter PKW und der am 15. 8. 1992 geborene Kläger beteiligt waren. Der Kläger befand sich auf dem Heimweg von der Vorschule und lief, die Quellenstraße von links nach rechts überquerend, in das bei der beklagten Partei haftpflichtversicherte Fahrzeug PKW Mazda und erlitt schwere Verletzungen. Er begehrt EUR 10.900,93 an Schmerzengeld für einen komplizierten Drehbruch des rechten Oberschenkels, der operativ eingerichtet werden musste und für erlittene Prellungen und Hämatome. Dauerfolgen könnten nicht ausgeschlossen werden, weshalb ein Feststellungsbegehren gerechtfertigt sei.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Das Alleinverschulden liege beim Kläger. Für den Lenker sei der Unfall ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG gewesen. Bei der Kreuzung sei im linken Fahrstreifen ein Betonmischfahrzeug abgestellt gewesen. Der Lenker des PKW habe eine Geschwindigkeit von 25 bis maximal 28 km/h eingehalten. Als er die Kreuzung in gerader Richtung übersetzen wollte, sei der Kläger von links nach rechts hinter dem abgestellten Betonmischfahrzeug hervor über die Fahrbahn gelaufen. Er sei beim linken vorderen Kotflügel seitlich gegen den PKW gelaufen; der Unfall habe trotz sofortiger Notbremsung nicht verhindert werden können.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es traf zum Unfallshergang nachstehende Feststellungen:

Die Quellenstraße verläuft geradlinig. Beidseits sind zwischen Baumrosetten angelegte Querparkpläte vorhanden. Zwischen der weißen Randlinie verbleiben 7,5 m aktiver Fahrbahn. Die Hofherrgasse quert die Quellenstraße rechtwinkelig. Der aus der Sicht des PKW‑Lenkers von links einmündende Abschnitt der Hofherrgasse ist 9,5 m breit. Die im Unfallbereich erlaubte Höchstgeschwindigkeit beträgt 30 km/h. Zum Unfallszeitpunkt war die Fahrbahn trocken. Der Lenker des PKW fuhr auf der Quellenstraße in Richtung Hofherrgasse. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Geschwindigkeit des Fahrzeuges bei Annäherung an die Kreuzung 30 km/h überschritten hat. In Fahrtrichtung des PKW stand unmittelbar vor der Kreuzung im linken Fahrstreifen ein Betonmischwagen. Die Durchfahrtsbreite betrug an dieser Stelle rund 5 m, gemessen von der linken Seite des LKW bis zur weißen Randlinie. Der Lenker des Betonmischwagens hatte die Warnblinkanlage eingeschaltet. Er hatte die Absicht, in der Folge mit dem LKW rückwärts in die Hofherrgasse einzufahren und wartete auf den Einweiser. Der PKW‑Lenker wollte die Kreuzung übersetzen, reduzierte die Geschwindigkeit durch Weggehen vom Gas und blickte nach rechts, ob aus diesem Abschnitt der Hofherrgasse ihm gegenüber bevorrangte Fahrzeuge kämen. Durch den vor der Kreuzung abgestellten Betonmischwagen war dem PKW‑Lenker der Einblick in die Kreuzung nach links genommen. Die Geschwindigkeit des PKWs lag jedenfalls unter 30 km/h. Der Kläger befand sich auf dem Nachhauseweg von der Schule, die er als Vorschüler besuchte. Der PKW‑Lenker hatte keine Kenntnis von der nahegelegenen Schule; ein Gefahrenschild gab es an der Kreuzung nicht. Der Kläger lief unmittelbar vor der Kreuzung von links nach rechts hinter dem Betonmischwagen über die Fahrbahn; zuvor war er laufend in der Hofherrgasse unterwegs. Der Kläger hatte sich vor dem Überqueren der Quellenstraße nicht vergewissert, dass die Fahrbahn frei ist. Er legte etwa 2,2 bis 2,4 m außerhalb des Lichtraumprofiles des aus Sicht des PKW‑Lenkers links stehenden Betonmischwagens zurück und benötigte für das Hervortreten aus dem Lichtraumprofil bis zur Kollision 0,8 bis 0,9 Sekunden. Die Auffälligkeitsspanne betrug 2/10‑Sekunden, weshalb dem PKW‑Lenker etwa 0,6 bis 0,7 Sekunden als Abwehrzeit zur Verfügung standen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Lenker verspätet reagiert hatte. Eine allfällige Reaktionsverspätung wäre auch nicht kausal für das Zustandekommen der Kollision gewesen. Durch das Laufen des Klägers war die Kollision für den PKW‑Lenker keinesfalls zu vermeiden. Der Kläger prallte beim linken vorderen Kotflügel im Bereich des Außenspiegels auf den PKW. Der PKW‑Lenker wurde erst anlässlich dieses Anstoßes auf den Kläger aufmerksam und fasste seinen Bremsentschluss erst nach der Kollision. Der PKW kam etwa 12 bis 13 m nach der Kollision zum Stillstand. Hätte der PKW‑Lenker bei Annäherung der Kreuzung eine Ausgangsgeschwindigkeit zwischen 15 und 18 km/h eingehalten, wäre der Zusammenprall mit dem laufenden Kläger bei entsprechender Reaktion vermeidbar gewesen.

Rechtlich erörterte das Erstgericht, den PKW‑Lenker treffe weder ein Verschulden noch habe er für eine Gefährdungshaftung nach dem EKHG einzustehen. Er habe mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Klägers nach den konkreten Umständen nicht zu rechnen gebraucht und den Unfall trotz Anwendung und der Vorsicht eines umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern können. Unstrittig sei, dass an der Kreuzung kein Gefahrenzeichen (insbesondere "Kinder") im Sinn des § 50 StVO angebracht gewesen sei. Es sei dem PKW‑Lenker nicht bekannt gewesen, dass sich in der näheren Umgebung eine Schule befinde. Der Lenker habe daher nicht damit rechnen müssen, dass ein Kind ohne auf den Verkehr zu achten, laufend die Straße überquere, auch wenn es rund 12 Uhr mittags gewesen sei.

Das Berufungsgericht sprach mit Teil‑ und Zwischenurteil aus, dass das Leistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe. Im Übrigen hob es die angefochtene Entscheidung hinsichtlich des Feststellungsbegehrens und der Kostenentscheidung auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, änderte diesen Ausspruch aber über Antrag nach § 508 ZPO dahin ab, dass die ordentliche Revision doch zulässig sei.

Das Berufungsgericht gab die Rechtsprechung zum Vorliegen der Haftungsbefreiung nach § 9 Abs 2 EKHG wieder und verwies insbesondere darauf, dass der Haftpflichtige für die Voraussetzungen der Haftungsbefreiung beweispflichtig sei und den Nachweis erbringen müsse, jede gebotene Sorgfalt eingehalten zu haben, wobei Zweifel zu seinen Lasten gingen (RIS‑Justiz RS0058926). Nach den Feststellungen könne die Geschwindigkeit des PKWs auch 29 km/h betragen haben. Bei der Kreuzung Quellenstraße/Hofherrgasse handle es sich um eine unübersichtliche Kreuzung, weil der von rechts einmündende Teil der Hofherrgasse durch schräg parkende Fahrzeuge in der Quellenstraße uneinsichtig sei und gleichzeitig die Übersicht in den links einmündenden Teil wegen des angehaltenen Betonmischwagens nicht gegeben gewesen sei. In dieser Situation sei die Einhaltung einer Geschwindigkeit knapp unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht mit dem erforderlichen Sorgfaltsmaßstab in Einklang zu bringen, weil ein Kraftfahrer auch damit rechnen müsse, dass aus dem nicht einsehbaren Bereich der Hofherrgasse von links Verkehrsteilnehmer auftauchen könnten. Kinder seien durch § 3 StVO besonders geschützte Verkehrsteilnehmer, mit deren Teilnahme am Straßenverkehr grundsätzlich zu rechnen sei, auch wenn nicht gesondert durch ein Gefahrenzeichen auf sie hingewiesen werde. Es sei allgemein bekannt, dass sich zur Mittagszeit Kinder am Schulweg nach Hause befänden. Wäre der Gehsteig einsehbar gewesen, hätte der auf die Kreuzung zufahrende PKW‑Lenker das am Gehsteig laufende Kind beobachten und erkennen können, dass es nicht vor der Fahrbahn stehen bleiben werde. Es stelle keine Überspannung der zumutbaren Sorgfaltspflicht dar, zu verlangen, dass in Anbetracht der nach rechts eingeschränkten Sicht, der fehlenden Überblickbarkeit des linken Kreuzungsbereiches und Gehsteigbereiches ein PKW‑Lenker seine Geschwindigkeit deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit wähle, sodass er auch aus dem Bereich der Sichtabdeckung hervorkommenden Gefahren Rechnung tragen könne und nicht, weil die Konzentration auf den bevorrangten Rechtskommenden gerichtet sei, erst durch den Anstoß auf das von links herannahende Kind aufmerksam werde. Ein Mitverschulden des Klägers sei infolge seines Alters nicht anzunehmen.

Die ordentliche Revision sei letztlich zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen sei.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revision die Wiederherstellung des Ersturteils.

Der Kläger beantragt, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Wie bereits vom Berufungsgericht dargestellt, ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Eisenbahn oder des Kraftfahrzeuges beruhte (§ 9 Abs 1 EKHG). Als unabwendbar gilt ein Ereignis insbesondere dann, wenn es auf das Verhalten des Geschädigten, eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres zurückzuführen ist, sowohl der Betriebsunternehmer oder Halter als auch die mit Willen des Betriebsunternehmers und Halters beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben und der Unfall nicht unmittelbar auf die durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten oder eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist (§ 9 Abs 2 EKHG).

Zur Befreiung von der Haftung ist es daher nötig, dass ein unabwendbares Ereignis vorliegt. Was ein solches ist, sagt das Gesetz selbst nicht. Es ist jedenfalls ein Ereignis, das trotz Anwendung aller erdenklichen Sachkunde und Vorsicht eingetreten ist und nicht abgewendet werden konnte (vgl Danzl, EKHG7 Anm 2 zu § 9; Apathy, EKHG Rz 4 zu § 9). Der Maßstab dafür, ob das Ereignis unabwendbar war, ist kein absoluter, abstrakter, sondern es kommt darauf an, ob die Anwendung des Unfalles bei den gegebenen Verhältnissen durch die äußerste Sorgfalt und durch Mittel, deren Anwendung dem Haftpflichtigen vernünftigerweise zugemutet werden können, möglich war. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung darf aber diese Sorgfaltspflicht nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden (RIS‑Justiz RS0058411). So wurde bereits ausgesprochen, dass das verkehrswidrige Verhalten von Fußgängern für den Lenker eines Kfz dann ein unabwendbares Ereignis darstellt, wenn er nach den konkreten Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern konnte (Danzl, EKHG7 E 19 zu § 9).

Im hier zu beurteilenden Fall hat sich der PKW‑Lenker der Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von jedenfalls unter 30 km/h genähert. Ein Gefahrenzeichen, das auf eine in der Nähe befindliche Schule oder auf Kinder hinwies, war nicht vorhanden.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes kann aus dem Umstand, dass sich der Unfall zur Mittagszeit ereignete, noch nicht abgeleitet werden, dass sich zu dieser Zeit Schulkinder auf dem Nachhauseweg befinden, die ohne auf den vorhandenen Verkehr zu achten, die Straße laufend überqueren. Nach den konkreten Feststellungen lief nämlich der Kläger in die linke Seite des PKWs. Der PKW‑Lenker selbst konnte bei der von ihm eingehaltenen zulässigen Geschwindigkeit nicht mehr reagieren. Dass er aufgrund der besonderen Umstände des Falles verhalten gewesen wäre, eine noch niedrigere Geschwindigkeit einzuhalten, lässt sich dem zu beurteilenden Sachverhalt nicht entnehmen. Der erkennende Senat hat bei vergleichbaren Sachverhalten eine Haftung des PKW‑Lenkers auch nach dem EKHG verneint (ZVR 1976/235; ZVR 1981/76).

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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