OGH 9ObA230/02t

OGH9ObA230/02t4.12.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Hopf als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer und DDr. Wolfgang Massl in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Peter H*****, Angestellter, ***** vertreten durch Dr. Sabine Berger, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei A*****AG, ***** vertreten durch Dr. Maximilian Eiselsberg ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen EUR 8.432,83 brutto abzüglich EUR 1.015,37 netto sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Juli 2002, GZ 11 Ra 51/02b-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Oktober 2001, GZ 18 Cga 23/01x-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, binnen 14 Tagen der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Salzburg einen pauschalierten Aufwandersatz von EUR 310 für das Berufungsverfahren zu zahlen und der klagenden Partei die mit EUR 665,66 (darin EUR 110,94 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 9. 8. 2000 hielten sich der Kläger, Gerhard H***** und einige andere Mitarbeiter der Beklagten in der Mittagspause im Aufenthaltsraum auf. Der damals 19-jährige H***** und der damals 20-jährige Kläger zogen einander auf. Der verbale Schlagabtausch wurde zunächst von beiden als Spaß empfunden. Als H***** jedoch den Kläger zum Spaß einen „Trottel" und „Vielfraß" nannte und weiters meinte, dass der Kläger zu blöd sei, seine Lehrabschlussprüfung zu schaffen, und bald sterben werde, weil er (als Bodybuilder) mit Anabolika „vollgespritzt" sei, verstand der Kläger diese Äußerungen nicht mehr als Spaß, sondern als Provokation, insbesondere auch deshalb, weil er die Lehrabschlussprüfung tatsächlich einmal nicht bestanden hatte. Dies war H*****, der den Kläger nicht beleidigen wollte, allerdings nicht bewusst. Als Reaktion auf diese Aussagen schüttete ihm der Kläger den Rest eines Glases Wasser über Rücken und Schultern. Als H***** auch danach nicht aufhörte, den Kläger spaßhalber aufzuziehen, stand der Kläger auf, ging zu H*****, beugte sich über ihn und nahm ihn in den "Schwitzkasten", um ihn zum Aufhören zu bewegen, nicht jedoch, um ihn zu verletzen. Da beide damals jeweils ca. 120 kg schwer waren, knickte ein Aluminiumbein des Plastikstuhls, auf dem H***** saß, ein. Letzter fiel dadurch samt dem Sessel und dem über ihn gebeugten Kläger nach hinten. Nach dem Sturz half der Kläger seinem Kollegen, der sich nicht verletzt hatte, wieder auf. H***** verstand die Reaktion des Klägers noch immer als Spaß und nicht als tätlichen Angriff. Unmittelbar danach verließen beide gemeinsam den Aufenthaltsraum, gingen wieder ihrer Arbeit nach und versöhnten sich noch am selben Tag. Am nächsten Tag, dem 10. 8. 2000, wurde der Kläger wegen dieses Vorfalls entlassen. Vor diesem Zeitpunkt war er nie aus disziplinären Gründen ermahnt worden. Der Kläger begehrt nach mehrfacher Änderung des Klagebegehrens zuletzt den Betrag von EUR 8.432,83 brutto abzüglich EUR 1.015,37 netto sA an entlassungsabhängigen Ansprüchen und bestreitet die Berechtigung der Entlassung. Er sei von H***** beleidigt und provoziert worden. Es habe sich um keine Tätlichkeit gehandelt; er habe seinen Kontrahenten auch nicht verletzen wollen. Die Beklagte stellte das Klagebegehren der Höhe nach außer Streit und wendete ein, dass der Kläger zurecht entlassen worden sei. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren unter Zugrundelegung des eingangs wiedergegebenen Sachverhaltes statt. Unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles sei von keiner Tätlichkeit des Klägers iS des § 27 Z 6 AngG auszugehen. Die beiden Mitarbeiter hätten sich nach dem Zwischenfall wieder versöhnt und damit die Angelegenheit bewusst erledigt. Es habe sich um eine bloße "Blödelei" gehandelt, der es an Ernsthaftigkeit gefehlt habe. Das Verhalten des Klägers mag zwar das Vertrauen der Beklagten iS des § 27 Z 1 AngG erschüttert haben, jedoch nicht in einem Ausmaß, dass der Beklagten eine Weiterbeschäftigung des Klägers unzumutbar geworden wäre. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das Ersturteil iS einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Die Entlassung des Klägers sei berechtigt, weil eine Tätlichkeit nach § 27 Z 6 AngG vorliege. Auch eine geringfügige Tätlichkeit, die keine körperliche Schädigung zur Folge habe, erfülle diesen Entlassungstatbestand. Auf die mit der Handlung verbundene Absicht oder auf ein Motiv komme es nicht an. Das Berufungsgericht verkenne nicht, dass sich der Kläger durch die mehrfachen Beschimpfungen seines Kontrahenten provoziert gefühlt habe, doch rechtfertige dies in keiner Weise den Einsatz körperlicher Gewalt. Die nachträgliche Versöhnung zwischen den Beteiligten sei für das Entlassungsrecht der Beklagten unbeachtlich. Selbst wenn man berücksichtige, dass sich der Kläger bis zu diesem Vorfall wohlverhalten habe, bedeute doch seine Tätlichkeit eine so schwerwiegende Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers, dass diesem eine weitere Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden könne. Der Arbeitgeber sei im Rahmen seiner Fürsorgepflicht verbunden, für die körperliche Integrität seiner Arbeitnehmer während der Dienstverrichtung Sorge zu tragen. Voraussetzung dafür sei auch die Wahrung der Ordnung und Ruhe im Betrieb. Wenn sich ein Arbeitnehmer wegen einer verbalen Provokation dazu hinreißen lasse, gegenüber einem Kollegen tätlich zu werden, müsse es dem Arbeitgeber in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht gegenüber allen Arbeitnehmern zugebilligt werden, gegen Disziplinlosigkeiten dieses Ausmaßes sofort wirksame Maßnahmen zu ergreifen.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung iS der Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragte, der Revision nicht Folge zu geben. Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Als ein wichtiger Grund, der den Arbeitgeber zur vorzeitigen Entlassung berechtigt, ist es nach § 27 Z 6 AngG anzusehen, wenn sich der Angestellte Tätlichkeiten gegen Mitbedienstete zuschulden kommen lässt. Eine Tätlichkeit iS dieser Bestimmung ist jede schuldhafte, objektiv gegen den Körper gerichtete Handlung, wobei es auf die mit der Handlung verbundene Absicht grundsätzlich nicht ankommt. Dies können sowohl strafrechtlich relevante Handlungen (Körperverletzungen iS der §§ 83 f StGB, körperliche Misshandlungen iS des § 115 StGB, wie Ohrfeigen oder Reißen an den Haaren) als auch gegen die körperliche Integrität gerichtete Handlungen sein, die nicht strafbar sind (Martinek/Schwarz/Schwarz, AngG7 582 mwN; Kuderna, Entlassungsrecht² 121 mwN; Schwarz/Löschnigg, Arbeitsrecht9 698 mwN; Arb 11.698; RIS-Justiz RS0029863 ua). Zu den Tätlichkeiten gegen Mitbedienstete zählen etwa auch das Nachwerfen von Gegenständen und das Anspucken (infas 1986, A 66; ARD 4169/5/90; RIS-Justiz RS0029821).

Die vom Berufungsgericht zur Unterstützung seiner Rechtsauffassung wiedergegebenen Rechtssätze des OGH zur Entlassung nach § 27 Z 6 AngG sind richtig, dürfen jedoch nicht ohne den jeweils zugrundliegenden Lebenssachverhalt gesehen werden. Es kann demnach hieraus kein Katalog von Handlungen gebildet werden, die jedenfalls bzw die keinesfalls zur Entlassung führen können. Zutreffend ist, dass es weder auf das Vorliegen eines Verletzungsvorsatzes (Motiv) noch eines Erfolges (Verletzung) ankommt (Martinek/Schwarz/Schwarz aaO 582, 643; infas 1986, A 66; 9 ObA 40/91; Arb 11.698; RIS-Justiz RS0029863). Tätlichkeiten sind auch kein rechtlich gebilligtes Mittel, um verbale Angriffe eines Mitbediensteten abzuwehren. Richtig ist schließlich auch der Hinweis des Berufungsgerichtes auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (§ 1157 ABGB, § 18 AngG). Danach hat der Arbeitgeber nicht nur die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass das Leben und die Gesundheit der Arbeitnehmer möglichst geschützt und auch andere immaterielle und materielle Interessen der Arbeitnehmer gewahrt werden, sondern auch die notwendigen Maßnahmen gegen das Betriebsklima gröblich beeinträchtigende Mitarbeiter zu ergreifen, insbesondere wenn deren Verhalten so weit geht, dass die Arbeitsbedingungen für andere Arbeitnehmer nahezu unzumutbar werden (infas 2002, A 83). Wenn dem Arbeitgeber Gefährdungen zur Kenntnis gelangen, hat er unverzüglich Abhilfe zu schaffen (Spielbüchler in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht I4 330 f; Krejci in Rummel, ABGB³ § 1157 Rz 1 ff mwN).

Bei all dem darf jedoch der entscheidende Aspekt für die Abgrenzung zwischen einer bloßen Ordnungswidrigkeit und einem die Entlassung rechtfertigenden Fehlverhalten eines Arbeitnehmers, nämlich die Frage der Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auch nur für die Dauer der Kündigungsfrist (hier: Behaltefrist) nicht vernachlässigt werden (Kuderna aaO 60 f; Martinek/Schwarz/Schwarz aaO 546 f, jeweils mwN; infas 1992, A 15 ua; RIS-Justiz RS0029095 ua). Auch dabei ist naturgemäß immer auf die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles abzustellen.

Wenn es auch, wie bereits erwähnt, für das Vorliegen einer Tätlichkeit iS des § 27 Z 6 AngG grundsätzlich nicht auf das Motiv der in Frage stehenden Handlung und das Verhalten der Beteiligten davor und danach ankommt, so spielen diese Aspekte doch für die Frage der Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung eine ganz wesentliche Rolle. Physische Reaktionen auf verbale Provokationen sind selbstverständlich nicht zu billigen. Sie waren jedoch im vorliegenden Fall von keiner besonderen Feindseligkeit getragen, sondern eher von Ratlosigkeit und Unbesonnenheit des bis dahin disziplinär nicht weiter auffälligen Klägers. Der Kläger wusste sichtlich nicht mehr, wie er auf die fortdauernden Beleidigungen H***** adäquat reagieren sollte, der in seiner ausgeprägten "Spaßhaftigkeit" kein Ende fand. Bezeichnend ist auch, dass beide sofort von einander abließen, als der Sessel H***** unter dem Körpergewicht der Beteiligten zusammenbrach. Der Vorfall führte auch zu keinen bleibenden Spannungen zwischen den Akteuren, die die Beklagte hätten befürchten lassen, bei einer Weiterbeschäftigung des Klägers würde erneut ein Konflikt ausbrechen. Für die Bejahung der Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung des Klägers spricht auch der Umstand, dass sich der Vorfall nicht während der Arbeit, sondern in der Mittagspause, und auch nicht in Gegenwart von Kunden der Beklagten ereignete.

Das Berufungsgericht hat völlig richtig erkannt, dass durch diesen Vorfall die Fürsorgepflicht der Beklagten als Arbeitgeberin angesprochen war. Im Hinblick auf die besonderen Umstände des Falles hätte es jedoch gelindere Mittel als die Entlassung gegeben, um Wiederholungsfälle in der Zukunft zu vermeiden und den Betriebsfrieden zu sichern. Die Entlassung darf - als ultima ratio - nur dann ausgesprochen werden, wenn mildere und angemessenere Mittel fehlen, die geeignet sind, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Als Mittel der Wahl wäre hier wohl eine eindringliche Ermahnung der beiden Beteiligten in Kombination mit der Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen und der Konfrontation mit dem aufgetretenen Sachschaden angezeigt und ausreichend gewesen, um ihnen den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Dass durch den Vorfall andere Arbeitnehmer der Beklagten in relevanter Weise nachteilig berührt wurden oder in Zukunft um ihre körperliche Sicherheit fürchten müssten, ist ebenso wenig hervorgekommen wie eine nachhaltige Beeinträchtigung des Betriebsklimas.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 Abs 1 ZPO iVm § 58a ASGG.

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